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Seit der Stunde, wo Pitt Pulcher wie eine überständige Kiefer in sich zusammengebrochen war und die Bibel mit seinem Körper bedeckt hatte, stand ein großer, überhagerer Mann vor der Tür des heimgesuchten Hauses. Auch kurz vor dem Ableben der Frau war er beobachtet worden. Er schien einer zu sein, der eine wichtige Botschaft überbringen mußte, aber noch immer zögerte, sie in die zuständigen Hände zu legen. Am dritten Tage war er schlüssig mit sich und trat in den Hausflur.
Stina Mengels, die ganz verweht und durcheinander in der Küche hantierte, fühlte, wie in diesem Augenblick sich ein kalter Lufthauch an sie herandrängelte.
»Da ist jemand gekommen,« sagte sie fahrig, indem sie den Kopf durch die Türspalte steckte und den Flur absuchte.
Niemand war da.
»Merkwürdig! – Die Klingel ist doch gegangen. Das kann nicht seine Richtigkeit haben. Na, so was!« – und doch glaubte sie sachte Schritte zu hören, die sich dem Sterbezimmer näherten, um dort über die Schwelle zu treten.
Da schlug sie die Tür zu, flüchtete sich in die Nähe des Herdes und wuscherte nach ihrem Gebetbuch.
»Lieber Gott, sei seiner Seele barmherzig!«
Sie konnte kaum sprechen.
»Nein,« sagte sie mit wirren Worten und wirren Gedanken, »der wird nicht wieder. Der kann nicht mehr werden. Es sind zuviele Maulwurfshaufen mang die Rabatten. Ach, du liebes Herrgöttchen! Ach, du liebe Mutter Gottes von Kevelaer! – fünfundzwanzig auf einmal. Fünfundzwanzig Maulwurfshügel nebeneinander. Das bringt den Tod in die Stube –!« und mit erneuter Hast und Inbrunst bewegten sich ihre Lippen, wobei sie im Geiste zum Kirchhof pilgerte und dort Rundschau hielt, als müsse sie schon jetzt eine schöne Stätte für Pitt Pulcher aussuchen. Die beste war gerade gut genug für ihren Herrn. Morgensonne mußte er haben. Die war zuerst bei dem großen Spillbaum, der im Herbst immer so schöne ziegelrote Korallen ansetzte und dann aussah, als wäre das heilige Blut des Erlösers darübergefallen. Das war die richtige Stelle. Da mußte er ruhen. Das stand ihm zu. Keinem anderen gönnte sie diesen Platz, und ihre Gedanken schmückten schon die Grabstätte aus: im Frühjahr mit Goldlack, im Sommer bis weit in den Herbst hinein mit Geranien und Kartäusernelken und im Winter mit Stechpalm und Tannenzweigen, und sie sah alles mit lebhaften Farben, als sei der Hügel schon aufgeworfen, als duftete der Blumenflor schon jetzt unter dem alten, ehrwürdigen Spillbaum.
»Bitte für uns in der Stunde unseres Todes ...!«
Ihr Gebet nahm an Kraft und Innigkeit zu. Ihre Blicke durchbohrten die Wände und drangen bis in das gegenüberliegende Zimmer. Da ruhte Pitt Pulcher wie ein sterbender König zwischen den Kissen. Die Hände mit den bläulichen Fingernägeln lagen gestreckt. Der Kopf war wie aus grauem Gestein gehauen, hart und scharf, aber mit einem großzügigen Meißel. Die Muskeln zeigten keinen Schmerz, keine Erregung. Nichts deutete auf den kommenden Tod hin. Die Züge verrieten die alte Energie, den eisernen Willen. Es war ein Coleonegesicht. Solche Gesichter sind rar auf der Welt, und wenn der Tod über sie hinfährt, werden sie noch bedeutsamer und größer.
Links von dem Sterbenden saßen Hermann und Anna. Mit einem in Zitronenwasser getränkten Läppchen benetzte sie den Mund ihres Vaters. Rechts von ihm kniete Stephan. Er sprach innige und heilverkündende Worte.
Von Zeit zu Zeit beugte er sich über ihn. Plötzlich betete er: »Herr, himmlischer Vater, erbarme dich seiner! Erwecke noch einmal seinen Geist vor dem Tode, auf daß er teilhaftig werde der letzten Wegzehrung und der himmlischen Gnade.«
Anna weinte still vor sich hin.
Der junge Kaplan aber wandte sich an Hermann Verheyen und sagte: »Hermann, wenn er aufwachen sollte, dann geh hierneben. Es ist besser so. Er darf dich nicht sehen. Legen wir alles in die Hände des Erbarmers.«
Tränen waren in seiner Stimme, und er sprach mit großer Bewegung die Sterbegebete, die er schon beim Ableben seiner Mutter gesprochen hatte. Sie fielen wie weiße Lilien aus seinem Munde und pflanzten sich wie heilige Wächter um das Lager des hingeworfenen Mannes.
So mochte eine Viertelstunde vergangen sein, als sich zwischen den Lidern Pitt Pulchers ein feiner Lichtstreifen zeigte, perlmutterfarbig und scheinbar aus dem Unendlichen kommend. Langsam geriet er ins Wachsen, während die Finger sich einkrampften.
Es war das erste Lebenszeichen, seitdem das Unglück passiert war.
»Jetzt stirbt er ...!«
Mit wehem Laut fuhr das gequälte Weib in die Höhe.
»Nein,« sagte der junge Kleriker, »jetzt wird er nach den Sterbesakramenten verlangen,« und über sein Gesicht flog ein Leuchten, gütig und sanft und ähnlich dem Leuchten in verschwiegenen Mondscheinnächten.
Seine Hände glitten über die des Alten.
Der aber reckte und dehnte sich. Ein Biegen und Brechen lief durch den gemarterten Körper. Er stemmte sich gegen die Kissen. Er versuchte es, sich in die Höhe zu heben.
Ungelenk stolperten die Worte von der schweren Zunge herunter.
»Da ist doch jemand gekommen ...«
»Wer sollte denn gekommen sein, Vater?« wimmerte Anna und legte ihren Mund auf die zusammengekrampften Hände des Stierenden.
»Da steht er ... da am Uhrkasten steht er ...!«
»Vater! – Vater ...!«
»Herr, du meine Seligkeit! – er war schon da, als Mutter starb ... er war da, als Quirinus vom Oort in die Binsen ging ... Stephan, er darf nicht. – Geh an den Uhrkasten, Stephan. Er will den Perpendikel anhalten. Und wenn er den Perpendikel anhält ...«
Mit einem dumpfen Röcheln schlug er in die Kissen zurück: »Und wenn er den Perpendikel anhält ... den Perpendikel ... Erst muß doch Anne-Susanne ... sonst kann ich nicht fort ...«
Seine Worte krochen in sich zusammen, verwehten, zerflatterten wie einzelne Strohhalme über Stoppelfelder, die unter dem Herbstwind lagen.
»Der Perpendikel geht ruhig,« sagte der Kaplan und trat in die Nähe der Standuhr, die wie ein großes, wunschloses Herz arbeitete und klopfte.
»Stephan,« stammelte der Alte, »hierneben ... das Pergament von Kaspar Christian Pulcher ... so wie er es niedergelegt hat auf Leben und Sterben, so muß ich es hören, bevor sie mich ... bevor Mutter sagen kann: Pitt, bist du endlich gekommen.«
Anna kannte die Stimme ihres Vaters nicht mehr, so ein weher Laut hatte sich darüber gelegt; ähnlich wie er im Ried ist, wenn der Abend die einzelnen Halme auseinanderscheitelt. Immer inbrünstiger drückte sie die Lippen auf die erkalteten Finger.
Hermann war unauffällig ins Nebenzimmer gegangen und preßte dort seine Stirne gegen die Scheiben.
Stephan folgte ihm. Als er zurückkam, trug er das Schriftstück zwischen den weißen Händen, rollte es auf und fragte: »Soll ich jetzt lesen?«
Ein schwaches Lächeln spielte um die Mundecken des Vaters.
Da las der Kaplan: »Ich, Kaspar Christian Pulcher, Ältermann der hochmögenden Weber zu Köln, Herr über ihr Leben und Schaffen, über Maß und Gewicht, nunmehr heimgesucht und in die Verbannung gestoßen, durch das Rote Meer gegangen, um den Frieden zu finden, hier im Kirchspiel zu Kalkar die Ruhe und den Frieden gefunden ... dessen aus Dankbarkeit und um unsern allmächtigen Gott, unsern Herrn Jesus Christus zu feiern, habe ich die Glocke ›Anne-Susanne‹ dem hiesigen Kirchspiel für ewige Zeiten gestiftet. Nicht aus Stolz oder aus feilem Hochmut heraus ist solches geschehen, sondern im Frieden mit Gott und in christlicher Demut. Ich verlange keine Guttat dafür, nicht Ehrenbezeugung und einen Namen, so einen klingenden Ton hat. Aber ich gebiete hiermit ...«
»Nu kommt es.«
Pitt Pulcher streckte sich wieder. Es war so, als wollten Geist und Körper sich noch einmal begegnen. Er hörte auf die Stimme, die jetzt von neuem einsetzte, als wäre sie die des kölnischen Ältermanns und hochmögenden Webers, des Herrn Kaspar Christian Pulcher selber gewesen.
»Aber ich gebiete somit,« fuhr Stephan fort, »Anne-Susanne soll läuten, wenn die Sterbestunde über mich kommt, und läuten soll sie, wenn einem meines Namens der Todesschweiß ausbrechen will und sein Erlöser ihn ruft. Damit ihm die Stunde leicht werde, in der er von hinnen muß, von Weib und Kind und allem, was ihm das Leben schön und das Sterben mühselig und schwer machte. Also geschehen am zweiten des April und im Jahre der Geburt unseres Herrn, da man schrieb eintausenddreihundertundachtzig. – Gott sei meiner Seele barmherzig, und er zeige ihr den Weg in das Licht, das ewiglich leuchtet. Amen.«
»Das ist es,« stöhnte Pitt Pulcher. Er griff wieder in die Kissen hinein. Er rang gegen den Tod. Der starkknochige Mann bäumte sich auf. »Stephan, geht der Perpendikel noch immer ...?«
»Vater, er geht wie immer. Ganz richtig und stille.«
»Mein Gott, mein Gott ...!« wimmerte Anna.
»Stephan, ich hab' keine Bange vor ihm ... Ich meine den Kerl, der am Uhrkasten steht ... Quirinus vom Oort hat auch keine Bange gehabt ... Aber bevor er den Perpendikel anhält ... Stephan, ich will die Glocke und die Sterbesakramente ... Stephan, Anne-Susanne soll läuten ... Das steht verbrieft und gesiegelt ... Sonst kann ich die ewige Ruhe nicht finden ... Stephan, das Schriftstück, das Schriftstück ...!«
Mit letzter Anstrengung hob er die Arme. Die Finger spreizten sich, um sich krampfhaft zu schließen und wieder zu öffnen.
»Stephan ...!«
Da legte ihm der Kaplan das Pergament zwischen die Hände.
Der Alte packte zu. Eine mächtige, riesenhafte Bewegung ging durch den ungelenken Körper; es war ein Trotz in ihm, ein Sichwehren gegen das Nahen der letzten Augenblicke.
Pitt Pulcher wurde noch einmal dem Dasein wiedergegeben. Die Zunge verlor ihre Schwere. Das gesunde Auge haftete an dem zerknitterten Papier: »Ja, das hier ... Anne-Susanne soll läuten ... Das hat der alte Pulcher niedergeschrieben ... Warum läutet sie nicht ...? – Oder steht Jakob Verheyen zwischen seinen infamigen Flügeln ...? – Will das Unglück auch jetzt von der Mühle herunter ...? – Jesus, Maria und Joseph ...! – Anne-Susanne ...! – Anne-Susanne ...!«
Das Wort wurde ihm von den Lippen gemäht. Wie ein gefällter Baum sank er rücklings. Die Unruhe des Sterbens kam über ihn, aber wie sein Leib kantig und eckig war, so auch die Seele. Sie sträubte sich gegen die Gewalt des Todes. Sie ging in ferne Tage zurück und tastete sich durch vermoderte Zeiten und durch endlose Jahre. Hierher, Pitt Pulcher! – Und Pitt Pulcher schritt durch die Straßen der alten Reichsstadt. Da stand auch er, wie sein großer Vorfahr, stiernackig und selbstüberzeugt vor Kaiser und König – und vertrat die altverbrieften Rechte der Weber – und sagte dem hohen Rat und den Geschlechterherren seine Gefolgschaft auf. Nur durch Blut konnte die Sache ins reine gebracht werden. »Trommeln 'raus!« rief der Alte, und sein Geist ging immer mehr in die Irre. Wie die anderen Zünftler, also regierte auch er den Zweihänder. Er watete durch Blutlachen. »Kaspar, Melcher und Balthasar, helft mir!« – Der Rhein zeigte eine rote, schreckliche Rinne. Bis nach Neuß zu war die Spur zu verfolgen. »Jakob, was stehst du auf der verfluchtigen Mühle? Wenn ein Jakob Verheyen hoch hinaus will, ein Pitt Pulcher will höher hinaus! Das bin ich mir selber schuldig. Das bin ich meinen Vorfahren schuldig. Trommeln durch Köln ...! Geschlechterköpfe herunter ...! Sie wollen die ehrlichen Weber erwürgen ...! Es geht bei gedämpftem Trommelklang ...! – Los denn, Anne-Susanne ...! Will sie nicht läuten ...? – will sie nicht läuten ...?!«
Die Worte zerbrachen. Der Kopf legte sich auf die Seite. Widerwillig zwirnte sich das eisgraue Haar um die wächsernen Schläfen.
Anna aber rückte die Kissen zurecht und schob ihren Arm unter den Nacken des jetzt ruhigen Mannes.
Stephan erhob sich.
»Es währt nicht mehr lange,« sagte er leise. »Alles soll besorgt werden. Gott mache ihm das Scheiden leicht und schenke ihm die ewige Freude.«
Hierauf begab er sich ins Nebenzimmer und sagte zu Hermann: »Die Stunde ist gekommen. Wir wollen seinen letzten Willen erfüllen. Während ich ihm die Wegzehrung bringe, sorge du dafür, daß die Glocke geläutet wird.«
Da gingen die beiden.
Stumm schritten sie nebeneinander der Sankt Nikolaikirche zu.
Eine quälende Hitze lag zwischen den Häuserzeilen. Die Luft rührte und regte sich nicht. Die Schwalben hatten niedrigen Flug und berührten mit ihren Schwingenspitzen die spärlichen Grashälmchen, die zwischen dem Pflaster standen. Die Stadt ruhte noch unter greller Sonne. Jenseits der Häuser aber, tief im Westen, hing eine dunkle Gardine. Aus dieser Gardine konnte jeden Augenblick eine gespenstische Hand herausgreifen, um einen hellen Blitz über die weite Ebene zu werfen. Noch war sie unbeweglich. Keine Faser rührte sich an ihr. Noch war kein Zeichen gegeben. Die Szene, wo der Herr mit seinem großen Feuerwerk spielte, blieb noch geschlossen. Drohend schwebte der Vorhang zwischen Himmel und Erde. Scharfumrissen hob sich die Mühle gegen das dunkle Tuch ab. Sie beherrschte die Gegend. Sie überragte die Stadt, die sich zu ihren Füßen duckte. Sie war ein Wahrzeichen, das weit ins klevische Land hinaussah und jetzt den Anschein hatte, als sei Pitt Pulcher eine fabelhafte Sterbekerze aufgestellt worden.
Kein Mahlstein rührte sich. Die Korntrichter feierten. Die Flügel waren wie angenietet. Die Segel hingen schlapp von den Windruten herunter. Alles ausgestorben, verlähmt, als wäre der Fluch über dieses Anwesen gegangen. Und doch lag Gottes helles Sonnenlicht um das riesige Steinwerk. Die Kappe brannte wie Feuer. Auf dem Umgang stand Jakob Verheyen.
So hatte er schon einmal gestanden. Damals, in leuchtender Osternacht. Damals fraß ihm das Leid an der Seele, heute der Grimm, das Gefühl nach Rache, die Überzeugung: die Hypotheken fallen über dich her wie die ägyptischen Plagen. Einer braucht nur zu wollen, und du kannst dir 'nen Bettelstab aus dem ersten besten Haselbusch schneiden. Und dann noch eins – und das war das schlimmste von allem.
Er öffnete die rechte Faust. Ein zerknülltes Papier lag zwischen den Fingern. Lesespuren waren daran. Er faltete es auseinander und flog über die krausen, verschnörkelten Schriftzüge. Sie sahen aus, als stammten sie aus dem vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert. So altmodisch gaben sie sich.
»Du sollst nicht ehebrechen,« las Jakob Verheyen.
Das und die Geschichte mit dem Eidschwur ... Als Lump ausgerufen ... als Lump durch die Gosse gezogen ...
Das war an jenem furchtbaren Kirmesabend im ›Blauen Anker‹ geschehen. Die Stunde hatte ihm den Rest gegeben. Da waren ihm alle Pläne und Projekte unter den Händen zerbröckelt. Der Alte hatte brutale Arbeit geleistet, und er, Jakob Verheyen ... Da lag sein Ansehn. Das war Pitt Pulchers Werk. Räudige und tolle Hunde erschlägt man, aber keine menschliche Reputation. Das hatte sich Pitt Pulcher geleistet. Was an dem übrigen Malör noch fehlte, war auf Konto seines Sohnes zu bringen. Das bedeutete den Zusammenbruch seines Anwesens, überhaupt den seiner Existenz. Außerdem hatte er noch mit einem dritten zu rechnen. So mußte es kommen. Erst Pitt Pulcher, dann Hermann, dann Franz Seegers. Jeder von diesen hatte 'nen Totenzettel für ihn in der Tasche.
»Kreuz, Himmel, Gewitter ...!«
Er sah in die Tiefe. Unter ihm lagen seine neuen Unternehmungen: die Dampfmühle und die Guanoschuppen. Frisch und solid waren sie hingesetzt worden. Das alles ließ sich an, als hätte dabei ein guter Geist Pate gestanden, und doch ruhte bereits die Verwesung unter den Sparren.
Er drehte langsam den Kopf. Da hinten wuchs der Seegerssche Gutshof aus dem Boden heraus. Der war nun seinem Sohn durch die Finger gerutscht oder vielmehr, er hatte ihn von sich gestoßen, und damit war auch das Geschick seines eigenen Besitzes so gut wie besiegelt. Einem kam es zugute: dem Kerl mit den schweren Hypotheken, dem infamen Niederungsbauer ... und das alles wegen des niederträchtigen Abends im ›Blauen Anker‹. Der hatte alles unter die Räder gebracht und zermalmt und zerschrotet ...
Seitdem waren drei bange Tage vergangen. Während all dieser Zeit hatte er keine ruhige Stunde gefunden. Angekleidet warf er sich aufs Bett, um jählings in die Höhe zu fahren. Wirre Ideen peitschten ihn auf; sie trieben ihn durch die verstaubten Mühlengänge und in die Guanoschuppen hinein. Hier zählte er die einzelnen Säcke, die bereitstehenden Frachten, um gleich darauf wieder das Resultat zu vergessen. Er machte sich über die Schuldverschreibungen her, rechnete und kalkulierte, ohne den Sinn zu erfassen. Sein Geist packte sich selbst bei den Haaren und schlug den Kopf gegen die Tischkante. Wofür hatte er überhaupt gesät und geerntet? Stundenlang stierte er vor sich hin, bohrte er Löcher in die Dielen hinein. Er wollte keinen mehr sehen. Er holte die Läden bei und schob die Riegel vor. Seine Wirtschafterin schlug die Hände zusammen. Er verweigerte jegliche Nahrung. Nur ab und zu eine Brotkruste. Dafür ließ er eine Bouteille nach der anderen auffahren. Er trank mit gierigen Zügen. Der schwere Wein warf ihn nicht nieder, zerrte jedoch seine Überlegung immer tiefer in den Nebel hinein. Dann schrieb er wieder und setzte Zahlen untereinander, die weder Sinn noch Verstand hatten. Häufiger streiften seine Blicke den glattpolierten Gewehrschrank. Dann klebten sie fest. Zwei Drillinge und eine Büchsflinte standen einträchtiglich hinter den Scheiben. Sie waren aus Lüttich, hatten Zentralfeuer und Damaszenerläufe. Immer wieder wandte er sich und ging ohne Zweck und Ziel durch die Räume seines verwaisten Hauses – fluchend und mit konfusen Drohungen. Am dritten Tage packte er zu, nahm die Büchsflinte und lud sie. Zu gern hätte er den Kolben an die Backe gerissen, um den Schuß fahren zu lassen. Aber auf wen denn? Das wußte er selbst nicht, und damit stellte er die Waffe beiseite, entnahm aber den Schachteln eine Handvoll Patronen, sortierte sie nach Kugel- und Rehpostenladung und steckte sie zu sich. Eine Stunde später suchte er in seiner Eigenschaft als Kirchenmeister Blasius Roloffs auf. Dann machte er sich im Turmportal der Kirche zu schaffen. Bald darauf stand er auf dem Umgang seiner Mühle, hoch zwischen Himmel und Erde – so wie er jetzt stand.
Langsam hoben sich seine Blicke aus dem Wiesengelände und krochen zur Seite. Seine geldlichen Verluste interessierten ihn nicht mehr. Sie fielen ihm wie Lumpen vom Leibe. Der Papierfetzen brannte ihm zwischen den Fingern.
Da – neben der Kirche, in dem langgestreckten Hause mit den knallblauen Läden ... da wohnte ... Der hatte sein ganzes Unheil verschuldet.
»Pitt Pulcher ...!«
Unwillkürlich schob sich ihm die Flinte vor Augen. Er sah ihre gierigen Läufe.
Pah! – Der Unglücksmensch hatte keine Kugel mehr nötig! Den hatte das Malör in die Stoppeln geworfen. Jeden Augenblick war's alle mit dem. Aber sein Sterben konnte noch köstlich werden.
»Dafür ist gesorgt, daß ihm die ›Köstlichkeit‹ abgeknöpft wird!« rief Jakob Verheyen. Unter seinen Fäusten ächzte und stöhnte das morsche Geländer. »Das sollte ihm passen: ruhig den Kopf in die Kissen hineinzudrücken, um dann gen Himmel zu fahren! Schwer soll's ihm werden – das Sterben! Ohne sein Königtum noch genossen zu haben, soll er aufs Stroh und von hier unter den Sargdeckel. Das mache ich schon ...«
Sein Blut stürmte.
Vor ihm brütete das eherne Sonnenlicht, hinter ihm erhob sich die tiefschwarze Wand, die sich für eine Gedankenspanne öffnete, um einen kurzen Schein durchzulassen, dessen zackiges Licht lautlos am Horizont hinlief. Dann war alles wie früher.
Jakob Verheyen aber hob den rechten Arm, etwa so, wie wenn er damit das Unheil emporheben müßte. Gleichzeitig krampften sich die Finger ein. Sie wurden zur Faust, und in dieser Faust saß der Wille eines Mannes, der alles auf eine Karte setzte: entweder nichts oder alles. Niemals im Leben hatte er so grimmig den Arm gehoben, niemals so die Finger verschränkt. In dieser Faust lauerten Fluch und Verwünschung.
Sie war auf den Turm der Sankt Nikolaikirche gerichtet.
Da – hinter den Schallöchern hing Anne-Susanne.
»Anne-Susanne ...! – Anne-Susanne ...!«
Auf die hoffte Pitt Pulcher jetzt ... mehr noch als auf die letzte Wegzehrung ... ohne deren Geläut konnte er das ewige Leben nicht finden ... ohne deren Stimme noch einmal zu hören, mußte er wie ein Bettler, wie ein Stück Vieh im Straßengraben verröcheln ... ohne Anne-Susanne war der Tod ein Scheusal, ein Schurke; kein Erlöser, kein Friedensbringer. Und dieses Scheusal, dieser Schurke mußte über ihn her ... 'runter mit dem Pulcherschen Stolz, mit dem Pulcherschen Weberdünkel ...!
»Du Narr ...! – Du Narr ...! – Du Narr ...!«
Wie das Geheul eines Wahnsinnigen kam es von der Mühle herunter.
»Du läutest nicht!« schrie Jakob Verheyen, »und du wirst nicht geläutet ... und wenn einer es wagen sollte ... Nein, du wirst nicht geläutet – nimmer und niemals! Du sollst ihm das Sterben nicht leicht machen. Verrecken soll er, verrecken – und jeder, der an den Glockenstrang will ...«
Die Worte erstickten.
Schaum trat ihm in die Mundecken.
»Verflucht und verludert ...!«
Noch einmal streckte sich die Faust. Dann sank sie herunter.
Eine bläuliche Linie riß das Firmament auseinander. Ein dumpfes Murren folgte. Unheimlich rumpelte es über die dunstige Niederung.
Aber das Wetter stand noch immer. Der große, gewaltige Vorhang wollte sich noch immer nicht auftun. –
Inzwischen waren Hermann und der junge Kaplan bis zum Südportal der Kirche gekommen.
Hier blieben sie stehn.
Bis jetzt waren sie wortlos nebeneinander gegangen. Jeder hatte mit sich selber zu schaffen. Sie kamen nicht davon los. Auch jetzt nicht, wo Stephan in die Sakristei wollte und Hermann den Küster aufsuchen mußte, um dem letzten Willen Pitt Pulchers Rechnung zu tragen.
Plötzlich zuckte der junge Kleriker zusammen.
Sein Auge hatte die Gestalt auf dem Mühlenumgang gefunden.
»Hermann, dein Vater,« sagte er fröstelnd.
Da ergriff dieser die Hand des Kaplans.
»Um seinetwillen ist all das Elend gekommen,« fiel es ihm schwer von den Lippen. »Das reißt immer mehr auseinander ... und dann ist nichts mehr zu retten.«
»Hermann, wir wollen jetzt das nächste besorgen. Was noch mitten im Leben steht, kann warten, aber die können nicht warten, denen der Herr gebietet: Mache dich fertig; deine Zeit ist gekommen. Und was dich betrifft: Hermann, ich verstehe jetzt alles. Auch Anna versteh' ich. Über allen Anfechtungen des Lebens steht die Liebe. Tut sie nicht von euch. Sie findet schon ihren Weg, selbst wenn sie bei lichtem Tage durch Finsternis wandelt. Es liegt ein Widersinn darin und doch freudige Wahrheit. Laßt diese Wahrheit nicht absterben. – Ostende nobis, domine, misericordiam tuam.«
Damit trat er ein, während Hermann seinen Gang wieder aufnahm, um Anne-Susanne läuten zu lassen.
Er mochte kaum bei Herrn Roloffs vorgesprochen haben, als auch schon ein wehmütiges Schellchen ertönte. Es lief über den Kirchplatz und bewegte sich dem Pulcherschen Hause zu.
Mit niedergeschlagenen Augen, die goldene Kapsel mit weißen Händen umfassend, trug Stephan die letzte Wegzehrung zu seinem Vater.
Vor ihm schritt ein kleiner Junge im Röckling, der das klagende Zünglein in Bewegung setzte. In der Linken hielt er eine Messinglaterne. Wie eine arme Seele flackerte ein mattes Licht hinter den Scheiben.
Stephan schien aus dem Bilde eines Nazareners getreten, eine solche Reinheit umgab ihn, eine solche Gottseligkeit war um ihn gespreitet. Man wähnte, jeden Augenblick müßte eine weiße Taube erscheinen, Lilien müßten aufblühen, um den Weg zu bezeichnen, den er mit den Sterbesakramenten gewandelt. Kaum etwas Körperliches haftete ihm an. Sein Leib berührte das Jenseits. Überirdische Stimmen begleiteten ihn. Es waren Stimmen aus dem Paradiese. Inniger umgriff er die goldene Kapsel. Er trug das Heil des Lebens, die Speise des Himmels. Der Herr war bei ihm, und er sprach die Worte, die dieser gesprochen hatte, als die Tage seines Leidens nicht fern waren: »Dieses ist das Brot, welches vom Himmel herabgekommen ist, nicht wie das Manna, das eure Väter gegessen haben und gestorben sind; wer dieses Brot isset, der wird leben in Ewigkeit.«
Eine große Bewegung war in ihm.
Als er die Schwelle des elterlichen Hauses betrat und die Klingel noch einmal ertönte, schlug er die stillen blauen Augen auf. Die umfaßten ein Stück des noch leuchtenden Himmels. In ihm erschien das Angesicht des Ewigen. Es war so, als müsse er dieses Stück Himmel an das Bett des Sterbenden tragen.
Die Tür öffnete sich lautlos.
»Ostende nobis, domine, misericordiam tuam.«