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13

»Nur Ruhe – immer nur Ruhe ...!« – und er merkte es nicht, daß eine Lautlosigkeit um ihn war, die den leichten Schritt eines Gedankens vernommen hätte, so behutsam und feierlich rückte die Zeit weiter, Sekunde um Sekunde, Minute um Minute. Die Welt hatte den Pulsschlag verloren und sich selber vergessen.

Draußen war ein heiliger, jungfräulicher Abend.

Die Stadt lag unter weißen Rosen, und mit wunderseligem Glanz legten die erhellten Fenster lange Lichtbalken über die Schneedecken, die sich bis dicht an die Türschwellen drängten. Von Zeit zu Zeit wisperte ein seines Glöckchen darüber hin, kaum hörbar, aber mit einem unendlich glücklichen Stimmchen. Auch dieses Glöckchen war heilig. Es kam direkt vom Himmel und wurde von einem stillen Mann geläutet, der mit Rucksack, papierner Mitra und mit einem langen Flachsbart von Haus zu Haus ging, um den ›Sinter Klaas‹ zu den Kindern zu bringen. Und er duftete nach Moppen und Spekulatiusmännern, und in seinem Sack raschelten die Walnüsse wie die lieben Entchen im Häckselstroh ...

Vom nahen Turm holte die Uhr aus.

Fünf einzelne Schläge! – aber sie glitten auf Gummischuhen über die Dächer der Menschen, so weich klangen sie, als riefen sie aus Daunen heraus, als müßten sie den großen Schmerz teilen, der neben Pitt Pulcher stand und ihm erbarmungslos die heiße Stirn gegen die Pultkante drückte. Dann verhallten sie, als wären sie niemals gewesen.

Um dieselbe Stunde glimmten in der Kirche einzelne Fenster auf, aber nur matt, wie angehaucht, kaum, daß man die einzelnen Heiligenbilder in der Verglasung wahrnehmen konnte.

Ein langer Schatten, der bald einschrumpfte und sich gleich darauf bis zu den Kreuzgewölben erhob, machte die Runde. Es war der Schatten von Blasius Roloffs. Der Küster hatte soeben die ewige Lampe mit frischer Nahrung versorgt. Jetzt glitt er eiligst und mit brennendem Wachsstock zum westlichen Turmportal, wo sich die Glockenseile aus geisterhaftem Dunkel herabließen. Hier entzündete er etliche Kerzen, die auf alten Metalleuchtern standen. Silbrig kroch eine schwache Helle an den Seilen aufwärts.

Er beleuchtete ein schwarzes Täfelchen an der Schmalseite des Portals.

»Richtig!« meinte Herr Blasius Roloffs. »Um sechs Uhr wird Anne-Susanne geläutet.«

Dann nahm er wieder seinen üblichen Gang auf.

Seitlich des Bildstockes ›Christus auf dem kalten Stein‹ erhob sich die aus Holz geschnitzte Figur des heiligen Nikolaus. Eine kleine Messinglaterne verbreitete ein kümmerliches Licht. Es war dem Verlöschen nahe. Zu Ehren des Heiligen steckte Herr Roloffs eine frische Kerze auf, entzündete sie und ging der nahen Sakristei zu, um hier die letzten Vorkehrungen für die morgige Frühmesse zu treffen.

Der vierschrötige Herr verlor sich im Düster, nur das hagere, vom Wachsstock beleuchte Komödiantengesicht schwebte in Mannshöhe über dem Estrich, als würde es geisterhaft und von unsichtbaren Händen weitergetragen. Dann verschwand auch dieses, spurlos, wie aus der Dämmerung gewischt; nur ein feines Duftwölkchen nach Kräuterwerk und Buchsbaum blieb übrig, ein Zeichen dafür, daß Herr Blasius Roloffs durch die Kirche gegangen. Vom Hochaltar her knisterte die ewige Lampe. –

Pitt Pulcher regte sich.

Langsam hob er den Kopf und sah durch die Scheiben. Er sah etliche Kirchenfenster aufdunsten, er sah die weißen Rosen auf den Gesimsen liegen. Nichts entging ihm, nur – er wußte nicht mehr, was ihm soeben passiert war. Er hatte das schwere Geräusch von fernen Kirchenglocken im Ohr. Das waren Totenglocken – Totenglocken ...! Sie läuteten stärker und fielen über ihn mit dumpfen, entsetzlichen Schlägen.

Sie gaben ihm das Leben zurück.

Sie schoben ihm das vernichtende Geständnis vor Augen.

Er hielt noch immer den zerknitterten Brief zwischen den Händen. Er sah die einzelnen Worte – die einzelnen Sätze ... Es kam ihm vor, als drängten sich einzelne Blutstropfen aus dem Papier – als kämen sie ins Fließen – als kröchen sie über seine kreidigen Finger ... und das Grauen kletterte an ihm empor und umgriff seine Kehle ...

»Herzlieber Mann ...! – Ja, das steht hier geschrieben, mit nackten, dürren Worten geschrieben ... das ist ja prächtig, das ist ja, um den Verstand aus den Fugen zu treiben ... Aber nur langsam. Nicht gleich mit der Karre ins Moorwasser hinein ...«

Er legte den Brief auf den Tisch und glättete ihn mit starren Händen.

»So was muß man noch einmal lesen,« sagte er schartig. Jedes Wort war wie mit einem stumpfen Messer aus dem Munde herausgeschält worden. »So etwas bekommt man nicht alle Tage unter die Finger. Das will Zeile für Zeile und Satz für Satz ausstudiert werden, sonst hat es seinen Zweck verfehlt, denn das Maß muß gestrichen voll sein, weil es sonst passieren könnte, daß der Mensch vorzeitig mit dem Schädel gegen die Wand rennt. So etwas verlangt 'nen klaren Kopf und 'ne gerade, ausgewachsene Besinnung. Also, Pitt Pulcher, lies die Sache noch mal, aber mit 'nem klaren Kopf und 'ner geraden, ausgewachsenen Besinnung. – Vielleicht findest du irgend 'nen Profit in der Sache. – Na, los denn dafür ...«

Und Pitt Pulcher begann langsam zu lesen, ganz langsam, mit einem ausgeklügelten Tüfteln und einem grimmigen Behagen, als gefiele er sich darin, seinen wilden Schmerz noch wilder aufzupeitschen. Unbarmherzig setzte er die einzelnen Buchstaben nebeneinander: »Pitt, Du wirst mich begreifen. Nein, Du wirst mich niemals begreifen, und dennoch flehe ich Dich an, das hier Niedergelegte bis zum traurigen Abschluß lesen zu wollen. Ich fühle es: das Sterben tritt hinterrücks an mich heran, und wenn ich noch länger warte, bin ich wohl kaum noch in der Lage, die Feder zu regieren. Und das wäre furchtbar. – Pitt, ich bin Dir dankbar gewesen, damals vor Jahren, als Deine guten, treuen Blicke um mich waren und mein junges, fröstelndes Leben sich an Deiner Liebe erwärmen konnte. Als arme Lehrerin durfte ich ja in Deine Arme hinein – Dein Weib, Deine Mithelferin, Deine Fürsorgerin, und, so wahr ich dies schreibe, meine Neigung zu Dir war ehrlich und offen. Nur – Du wußtest ja selber, wie es um uns beide bestellt war. Das mußt Du gewußt haben, sonst wären Deine Augen nicht die klaren und reinen Augen gewesen, für die ich sie ansah. Also Du weißt: damals, vor Jahren, wollte ein anderer um meinetwillen das Leben von sich tun, um nicht ganz allmählich an seiner unglückseligen Neigung sterben zu müssen. Er wollte von der Mühle herunter. Aus dieser Erkenntnis heraus wurde bei mir das Mitleid geboren. Es ging mit mir. Ich versuchte, es von mir zu stoßen – mit Bitten, mit Flehen, mit häßlichen Worten und Gedanken.

Aber es blieb treu wie ein Hund, der seinem Peiniger noch mit zertretenem Rückgrat die Hand leckte. Es sah in meine Träume hinein. Es war bei mir in der Kirche, im Beichtstuhl. Es tastete mit verzweifelten Fingern über mein Bettlaken, als uns Anna geboren wurde. Ich müßte weit ausholen, um Dir das alles verständlich zu machen, ich müßte meine geheimsten Gedanken auseinanderlegen, um Dich in die Tiefe einer zermarterten Frauenseele blicken zu lassen. Das geht über meine Kräfte. Das würde mein Geständnis auf die Folter spannen und Deine armen Gedanken nur noch qualvoller machen. Außerdem, ich habe übermenschlich gelitten. Ein Mehr wäre imstande, das irdische Vergessen zu erzwingen. Das will ich nicht und darf ich nicht. Ich habe meinen armen Leib entweiht und will doch schließlich versuchen, das Unsterbliche in mir zu retten, denn ich hoffe zu Gott: er wird barmherzig sein ...«

»Und ich?« sagte Pitt Pulcher, und er knöchelte sich mit der Faust gegen die Stirne. »Mutter, ich bin doch mit dir durch die Roggenfelder gegangen, durch die blühenden Roggenfelder! – wir beide, so ganz allein, so glücklich, so wie zwei selige Kinder, um jetzt aus dem Himmel gerissen zu werden. Mutter, es kann ja nicht wahr sein ...!«

Aber da standen die gefühllosen Buchstaben und redeten ihre Sprache – eine Sprache, die in ihrer furchtbaren Einfachheit in die Knie zwang.

»Ich hätte das alles verschweigen und mit ins Grab nehmen können, um Deinetwegen, um meinetwegen und der Kinder wegen. Aber es geht um Leben und Sterben, um Tod und Erlösung. Ich will Reinheit um mich haben; ich kann nicht mehr weiter ... Ach, Gott! – ich kann nicht mehr weiter ... Pitt, warum bist Du auch damals von mir gegangen, wenn auch nur für einige Wochen, damals, als Du sagtest, Du habest im Brandenburgischen zu tun, um das lecke Vermögen eines weitläufigen Verwandten über Wasser zu halten? War das denn nötig? Mußtest Du Dein junges Weib mit seinem Mitleid allein lassen? Das legte sich an meine Brust und scheitelte mir das Haar auseinander und ließ die auseinander gescheitelten Haare über sich gleiten und ließ meine Pflicht und mein Gewissen einschlafen ... und die Julinacht trieb den Heuduft von den Wiesen herüber und spielte mit verschwiegenen Blitzen. Ich war selber erschrocken bis in den Tod. Da kam er; da war alles in seliges Vergessen getaucht; Pitt, da kam das Unglück von der Mühle herunter. An jenem Abend – da lag die Welt in einem weiten, verschwimmenden Nebel. Ich Fluchwürdige! – Da hat's angefangen bei mir; erst langsam, dann immer stärker und stärker ... Alles war still umher ... Nur meine Seele wachte und riß ihre Augen auf in furchtbarem Grauen, denn ich hatte meinen armen Leib in seine Arme geflüchtet. – Pitt, ich höre Dich aufschreien. Pitt, erbarme Dich meiner ...! – es war ein Unglück geschehen ...«

»Ein Unglück ...« wimmerte der Alte und glitt mit verklammten Fingern über den Briefbogen, »ein Unglück ...! – nur ein Unglück ...?!«

Seine Stimme kroch am Boden wie ein gepeinigtes Tier; dann las er von neuem: »Was dann weiter geschah ...? Nichts ist weiter geschehn. Nur mein armer Leib war entweiht, und meine Seele ging betteln. Sie bettelte um Deine Liebe, sie bettelte um die Verzeihung des Himmels. Ich betäubte meine Gedanken, ich lebte neben Dir her – eine treue Frau, eine gezeichnete Frau, ein Weib mit einer würgenden Faust am Halse. Ich lebte wie eine Büßerin. Aber was half mir das alles? Der Schmelz der Reinheit war mir von den Flügeln genommen. Ich bin zu Ende. Mein Dasein ist zwecklos gewesen. Herzlieber Mann, wie kann ich vor Dir bestehn? Was soll ich noch unter den Menschen? Es ist schon das beste: zertritt mich. Seit zwanzig Jahren bin ich wie durch feuerrote Glut und dann wieder wie durch tiefes Dunkel gegangen. Eine gemeinsame Schuld bringt die Menschen näher zusammen. So heißt es. Das ist nicht wahr. Wenigstens bei mir nicht. Ich hasse den Menschen. Seit jener selig-unseligen Stunde bin ich Dir stets ein ehrliches, fürsorgendes Weib gewesen. Ich sage noch einmal: so wahr ich dies schreibe. – Aber wie wird das Sterben mir schwer sein! – Mein Gott und mein Heiland ...! – Pitt, nun wirst Du auch verstehn, warum ich immer darauf dachte und immerzu flehte: Stephan soll Geistlicher werden. Ich hatte ja einen Fürsprecher nötig. Er sollte für mich beten, um der ewigen Gnade teilhaftig zu werden. Und jetzt falte ich die Hände zusammen und presse sie auf die Stelle, wo das Herz zerbrechen will: Pitt, Stephan ist nicht Dein Kind; er ist der Sohn von Jakob Verheyen. – Und nun zertritt mich ... Du aber, himmlischer Vater, erbarme dich meiner und weise mich nicht von dir in der Stunde des Todes ...«

»Jakob Verheyen ...!«

Pitt Pulcher, der gewaltige Pitt Pulcher, der Mann mit dem harten Gesicht und dem großen Stolz in der Brust, streckte die Arme, als wäre ihm eine Axt zwischen die Augen gefahren.

»Nun ist das Unglück doch von der Mühle gekommen ... doch von der Mühle gekommen ... doch von der Mühle gekommen ...«

Die letzten Worte erstarben in einem hilflosen Wimmern.

Dann aber ...

»Jakob Verheyen ...!«

Die rechte Faust flog zur Decke und stand dort minutenlang in eherner Starre – blutleer, zusammengebacken, die Hand eines Toten.

Die Welt rührte sich nicht.

Was ging hier vor?

Langsam sank die Faust wieder herunter.

Alles Wilde, alle Verzweiflung, alles Leere und, Eiserne war in diesem Augenblick von dem Antlitz des alten Mannes genommen.

Er sprach still vor sich hin. Er sprach, wie die Gezeichneten sprechen, wie die armen Menschen hinter den Stäben eines Irrenhauses es in der Gewohnheit haben, wenn sie in Gottes schöne Welt hinaussehen, um dann wieder wie ein glückliches Kind unter dem Weihnachtsbaum zu lallen. Und doch war auch dieses stille und versonnene Lallen und Sprechen entsetzlich, denn das rechte Augenlid sank ihm dabei immer schwerer und tiefer herunter.

»Es ist gut,« meinte er schließlich, als habe der Brief lediglich von geschäftlichen Dingen gehandelt, »nichts, reineweg gar nichts. Es erübrigt nur noch, so'n bißchen zu beten, denn mit 'nem guten Gebet und 'ner Hand voll Weihwasser egalisiert sich die Sache von selber.«

In größter Seelenruhe schob er sich die ›Nachfolge Christi‹ unter die Achsel, ging die Treppe hinunter und fuhr mit derselben Seelenruhe in die blanken Holzschuhe hinein, nachdem er den zerknitterten Brief sorgfältig gefaltet und in die Rocktasche gesteckt hatte.

Barhaupt trat er über die Schwelle.

Pitt Pulcher sah unheimlich aus, als er so in seinem langschößigen Rock und mit verwehten Haaren auf das Portal der nahen Kirche zuschritt.

Rings um ihn standen erleuchtete Fenster.

Sie sahen aus wie strahlende Cherubim mit feurigen Schwertern, die einen weißen Katafalk bewachten.

Unter ihm ruhte das Herz der Mutter Erde.

Alles war tot um ihn, vereinsamt und mit Sterbelaken umspreitet.

Nur unter seinen Holzschuhen piepste der Schnee wie junge Zwitschermäuse.

Wie kleine Lampen hingen die Sterne vom Himmel herunter. Sie zitterten in ihrer eigenen Kälte.

Pitt Pulcher fror nicht. Er glaubte, über weichen, warmen Sammet zu schreiten.

Jetzt klapperten die Holzschuhe unter seinen Füßen. Er hatte die Portaltür aufgestoßen. Er trat in die verlassene Kirche, er trat in den Stuhl, dicht neben der Kanzel, da, wo er immer in Gemeinschaft seines Weibes dem Gottesdienst beigewohnt hatte. Er kniete nieder, er umkrampfte das Buch, er versuchte zu beten ...

Es gelang ihm nicht.

Mit erneuter Wut fielen die wilden Gedanken über ihn her. Sie peitschten ihn hoch und trieben ihn haltlos und wider Willen durch das magere Kerzenlicht und die gespenstischen Schatten, die sich erst am Kreuzgewölbe verloren.

Er hielt's nicht mehr aus.

Hier unten war seines Bleibens nicht länger. Er glaubte sich verfolgt.

Jakob Verheyen stieß ihm mit der Faust gegen die Stirne.

Er sah rasende Windmühlenflügel.

»Jakob Verheyen, hast du mir nicht am Grab meines Weibes in die Hand gelobt ... Hundeseele, verfluchte!«

Er würgte den Schrei, der in seiner Brust aufsteigen wollte, mit letzter Willenskraft herunter.

Sinnlos taumelte er weiter, an ›Christus auf dem kalten Stein‹ vorüber.

Er hörte die Pulsanten. Nicht lange mehr, und sie zogen die Glocken. Von der Sakristei her kam das gedämpfte Hüsteln des Küsters.

Gleich mußte Anne-Susanne ihre Stimme erheben.

»Anne-Susanne! – Anne-Susanne ...!«

Da oben hing sie. Da war Licht und Freiheit und Leben – und Erbarmen ...!

Mit fiebriger Hand riß er die Laterne vom Postament des heiligen Nikolaus.

Links war die Tür, die durch ein Bogenportal zum Turm hinaufführte. Mit fliegendem Atem tastete er die Wände entlang. Auf schmalen Stiegen jagte er aufwärts – immer höher und höher. Er ließ das Geklapper der Holzschuhe hinter sich. Ein scharfer Luftstrom kam ihm entgegen. Er stemmte sich gegen ihn an, obgleich der Strom immer eisiger und empfindlicher wurde. Jetzt erschauerte sein Körper unter der bissigen Kälte. Sein Schatten wuchs ins Riesenhafte, um dann wieder wie ein verschüchterter Zwerg sich zu ducken und ineinander zu kriechen. Die mit Eiskristallen bewachsenen Wände hörten das Herz des keuchenden Mannes.

Mit Geisterhänden strich es ihm über die Schläfen.

Ein Windhauch, der pfeifend die engbrüstige Wendeltreppe entlang strich, blies das Licht in der Laterne aus.

Greifbares Dunkel legte sich um den Alten.

Er warf die Laterne von sich. Polternd klirrte sie von Stufe zu Stufe.

Pitt Pulcher ließ klirren, was klirren wollte. Nur immer höher und höher ... nur immer weiter und weiter ...

In seinem Schläfen hämmerte das Blut. Mochte es hämmern. Er stolperte von Stiege zu Stiege, von Treppe zu Treppe.

Jetzt kamen Holztritte. Er fühlte es an dem dumpfen Gedröhn, das unter ihm herlief.

Da plötzlich ... er mußte bald oben sein ...

Aber ihm ertönte eine brausende Stimme. Eine zweite folgte, eine dritte setzte ein. Gleich eisernen Adlern kamen sie aus der Höhe herunter. Ihr schweres Gefieder rauschte wie Sturmwind.

Pitt Pulcher kannte die ehernen Vögel. Das waren Klinsa, der Türk und die Antoniusglocke.

Immer lauter und lauter! Er hörte ein Knistern und Knacken. Kalkpartikel fielen von den Wänden. Immer lauter und lauter! – aber eine schwieg noch. Anne-Susanne war nicht unter den singenden Glocken.

Immer lauter und lauter!

Noch zwanzig Stiegen – noch zehn ...

Eine eigentümliche Helle fiel über ihn her. In breiten Streifen flutete das Mondlicht durch die Schallöcher. Silbrige Fetzen legten sich um ein massiges Gewirr von Balken und Strebepfeilern.

Der Alte war oben.

Ein lautes Ächzen rüttelte den eisenstarken Mann.

Über ihm sangen und dröhnten die schwingenden Kelche – unheimliche Lebewesen, polternde Geister, heulende Sirenen, die, von mächtigen Seilen geschaukelt, rückwärts drängten, um mit offenen Mäulern und Posaunenstimmen wieder vorwärts zu stürzen. Schattenhaft wiegten sie sich nebeneinander und doch urgewaltig und mit hallenden Zungen.

Klinsa hatte die führende Stimme.

Nur eine schwieg noch immer. Stumm hing sie zwischen den Schwestern, ringsum bordiert, ehrfurchtgebietend in ihrem brütenden Schweigen. In ihrer ganzen Größe und Wucht drängte sie sich aus der Tiefe heraus, ruhte sie auf den Pfannenlagern, schwebte sie zwischen den eisenbeschlagenen Balken, gewillt, jeden Augenblick ihre majestätische Ruhe von sich zu streifen.

»Anne-Susanne ...!«

Wie zu einem Wunder sah der Alte zu dem gewaltigen Kelch auf. Seine Hände falteten sich, seine Knie beugten sich, seine Stirn berührte die zerrissenen Dielen. Lallend kam es von den gepreßten Lippen:

»Los en eer moet gade syn,
Anne-Susann is de name mien;
Mie gaet, die Jan van Vechgel heit
Int jaer ons Herr als hier na steit:
Tausenddreihundertundachtzig ...«

Die Worte flackerten.

Der hagere Brustkorb des Alten hob und senkte sich.

Er streckte sich wieder.

Die scheuen Blicke krochen aufwärts.

Der Wahnsinn stand neben ihm.

Bis hierher hatte er die wütige Qual getragen, bis hierher ins Glockengebälk, bis an den Thron der Richterin – hier wollte er klagen und schreien ...

»Anne-Susanne ...!«

Und plötzlich, hier unter dem Geläut, dem Dröhnen und dem Schwingen und Singen der übrigen Glocken, rückte es in ihrem ehernen Körper. Sie kam in Bewegung: erst ungelenk, langsam, sich rüttelnd und schüttelnd, als wäre sie aus einem schweren Traum geschreckt ... dann aber: das Weib mit dem ehernen Reifrock, das vielhundertjährige Weib und doch so stimmgewaltig wie in den Tagen der Jugend, die starre Frau mit dem dröhnenden Mund, die den Blitz scheuchte, die Lebendigen feierte und die Toten in die Erde hineinsang – Anne-Susanne, die Richterin, die Ruferin, nicht aus Stolz und feilem Hochmut heraus, sondern im Frieden mit Gott und in christlicher Demut von Kaspar Christian Pulcher, dem Weberkönig zu Köln, ins Dasein gerufen und gesetzt, die Ehre der Pulcherleute zu hüten, Anne-Susanne, die Glocke, war lebendig geworden.

»Dum, ding, dong! – Dum, ding, dong ...!« Das Mondlicht auffangend, das Mondlicht von sich stoßend, wiegte sie sich selbstgefällig und mit gigantischer Wucht zwischen den stöhnenden Balken.

»Dum, ding, dong! – Dum, ding, dong ...!« Die Mauern des gewaltigen Turmes kamen ins Schwanken. Sie stöhnten bis in ihre tiefsten Grundfesten hinein. Ihre Gefährtinnen übertönend, donnerten ihre vollen Akkorde durch die vom Mondlicht durchgeisterte Glockenstube, zogen allbefreiend durch die Schallöcher, um von hier aus siegreich und mit weitgebreiteten Schwingen über die verschneite Erde zu pilgern.

»Dum, ding, dong! – Dum, ding, dong ...!« Mit Keulenschlägen kamen die herrischen Klänge herunter.

Wie das dröhnte und brauste und in die Ohren hineingellte! Das gewaltige Weib mit der ehernen Haube, dem ehernen Leib und dem ehernen Reifrock tanzte immer toller und wilder. Und dabei wackelte es bedrohlich mit seinem riesigen Kopf und ließ das Stirnband aufleuchten, als wäre es weißglühend geworden.

Pitt Pulcher bäumte sich rücklings, er reckte die Arme, er hob sie auf zur brüllenden Glocke. Er hatte den zerknitterten Brief zwischen den Fingern.

»Da lies, Anne-Susanne! – Da lies, Anne- Susanne ...! und wenn du kannst, läute mir Ruhe zu, läute mir Ruhe zu! – Mein Weib, meine Ehre ...!«

Er zerknüllte den Brief, er flocht die Hände zusammen.

»Anne-Susanne, Pitt Pulcher steht hier, der alte Pitt Pulcher ...! Hilf mir doch, Anne-Susanne, sonst ... ich ertrag' es nicht länger. Du bist doch dem lieben Gott geweiht, du bist doch den Engeln geweiht, du bist doch den Pulchers geweiht ...! – Oder willst du nicht helfen ...?! – Willst du nicht helfen ...?!«

»Nein ...!« donnerte die Glocke, und erschrecklicher, grausiger, entsetzlicher hallte ihr ›Dum, ding, dong‹ durch den Turm, die Wände rüttelnd, die Balken schüttelnd, um mit Zentnergewichten auf die verschneite Erde zu stürzen.

Das war keine friedliche Stimme, keine Stimme des Trostes, keine Stimme des Engels des Herrn. Das war die Stimme des Gerichtes ...

Pitt Pulcher grauste. Eiskalt, mit scharfen Nadeln lief es ihm über den Rücken. Sein Antlitz verzerrte sich. Schaum trat über die zusammengekniffenen Lippen.

»Der Ruf des Gerichtes! – Die Posaune des ewigen Gottes ...!«

Wütig hob er sich dem sausenden Kelch entgegen: »Anne-Susanne, schlage Jakob Verheyen zusammen! Und wenn du nicht willst ... hier stehe ich: Pitt Pulcher, der arme Pitt Pulcher, der gequälte Pitt Pulcher ...! Anne-Susanne schlage mich tot, schlage mich tot ...! – Anne-Susanne, mein Weib, mein Kind, meine gemordete Ehre ...!«

Der Alte griff sich ins Haar, an die Schläfen, er schob die Faust zwischen Hals und Binde, er würgte die ächzende Kehle ... Er sah fliegende Segel, kreisende Flecke, Brunst und Feuer und Flammen ...

Er taumelte rücklings, den Blick auf die schwingende Glocke gerichtet ...

»Meine gemordete Ehre ...!«

Dumpf schlug sein Kopf auf einen Balken, der neben ihm aufragte ... dann ein Taumeln und Stürzen ...

Und der Herr nahm ihm einen Schrei vom Munde, der das Läuten der Glocke übertönte.

Und dieser Schrei ...! Selbst Anne-Susanne erschreckte vor ihm. Sie wurde langsamer in ihrem furchtbaren Tanzen. Sie hielt den Atem an. Flügellahm rannte ihre Stimme gegen die Wände, um dort zu zerschellen, während der Schrei die Wendeltreppen hinabstolperte und die Kirche durchhallte.

Die Pulsanten hörten ihn.

Die Seile entglitten ihren Händen. Wie lange Gespenster tanzten diese auf und nieder und legten sich wechselseitig die Stricke um die hageren Leiber.

»Herr Roloffs ...!«

Dores Jansen stand sprachlos.

»Das kommt von oben,« sagte der Küster. Er mußte sich an einem Pfeiler halten, um nicht niederzustürzen. »Das ist ja eine furchtbare Stimme.«

»Die kenne ich,« entsetzte sich Dores, »das ist Pitt Pulcher die seine.«

»Herr Jeses!« rief Thyß, »sollt mal sehn, den hat Anne-Susanne erschlagen.«

Als erster war er auf der Wendeltreppe. Die anderen folgten. Herr Roloffs mit brennender Laterne.

Im Sturmschritt ging es nach oben. Das Grauen lief mit ihnen, und als sie oben ankamen, drehte es ihnen das Herz ab.

Anne-Susanne summte noch immer. Ihr eherner Leib wiegte noch leise, und unter ihm, den Brief zwischen den Fingern, lag der Alte, als hätte ihn ein Hieb auf den Rücken geworfen. Wie feuchtes Werg hingen ihm die Haare um die Schläfen.

Aber das eine Auge hatte sich das kranke Lid als Schleier gezogen, das andere stierte verglast in den Kelch der schaukelnden Glocke.

»Aberst ich bitte Ihnen, Herr Pulcher ...!«

Dores versuchte, ihn in die Höhe zu richten. Mit Hilfe der anderen gelang es.

Der Küster sprach trostvolle Worte und machte das Zeichen des Kreuzes gegen den Alten.

Langsam kehrte das Leben zurück.

»Was ist denn passiert?« fragte Herr Roloffs und knüpfte ihm die Binde loser.

Pitt Pulcher schüttelte den Kopf: »Ich weiß es ja selbst nicht.«

Das Briefpapier knisterte zwischen seinen Fingern.

»Sollen wir Ihnen nach Hause bringen, Herr Pulcher?« fragte Dores mit umflorter Stimme. Seine Gefühlsharfe begann leise zu klingen. »Ich bitte Ihnen, was hat das alles zu sagen? Das ist ja Propter und Prätorius 'ne bedeutsame Sache. Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Pulcher?«

»Mit nichts, mit nichts!« lächelte der gebrochene Mann, und seine Lippen verzogen sich, als wenn ihm das Weinen ankäme. »Nur, wenn ich bitten darf – ich habe mit dem Dechanten zu sprechen.«

»Schön!« sagte Herr Roloffs – und da gingen sie hin und geleiteten Pitt Pulcher nach unten.

»Anne-Susanne! – Anne-Susanne ...!«

 


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