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3

Jetzt geht leise und putzt euch den Staub von den Schuhen. Dann zieht die Messingklingel, die schön und blank neben der weißlackierten Haustür hängt, aber so, daß sie nicht unnötig schrillt, vielmehr kaum hörbar anschlägt und mit seinem Stimmchen bis in die gartenwärts gelegene schmucke und sonnige Küche hineinbimmelt. Und wenn dann die Haushälterin kommt und euch öffnet, wenn dann die alte Mieke erscheint mit ihrer niederrheinischen Knippmütz und dem goldenen Ohrgehänge darunter, und wenn sie dann sagt: »Gelobt sei Jesus Christus!« und ihr geantwortet habt: »In alle Ewigkeit, Amen!« dann tretet sacht über den gescheuerten Estrich und haltet den Fuß an.

Euch gerad gegenüber grüßt das Bild der Mutter Gottes von einer Gipskonsole herunter. Ein Kränzlein von weißen und roten Papierrosen umrahmt sie. Darunter hängt das ewige Lämpchen. Der Docht knistert so schüchtern und zierlich, wie ein graues Mäuschen hinter der Tapete musiziert, und der Lichtschein, der in dem rosigen Behälter aufleuchtet, hat Ähnlichkeit mit den zarten Lichtern, wie sie geheimnisvoll brennen am Tag Allerseelen. – Und dann horcht auf. Aus dem ersten Zimmer zur linken Hand kommt ein kaum wahrnehmbares Singen herüber – eine Kanarienrolle, aber so wunderlieblich und fein, als klängen ausgesponnene Glasfäden gegeneinander, als erzählten sich zierliche Eiskristalle stille Geschichten, wenn ein unmerklicher Hauch durch den Winterwald geht und sie aus weiter Ferne zu tönen beginnen.

Hier weilt der Friede, hier reichen sich Opferfreudigkeit und Nächstenliebe die Hand, zwischen diesen Wänden lebt ein echter, allverzeihender Glaube, in dieses Haus dringt nicht das Geräusch des Tages und der Hader der Parteien, denn in diesem Hause wohnt der hochwürdige Ehrendomherr und Dechant, Herr Heinrich van Egern.

»Gelobt sei Jesus Christus!« also grüßt es von der Gipskonsole herunter, und selige Stimmen geben die Antwort: »In Ewigkeit, Amen!« –

Es war zwei Tage später und zum Beginn der Leidenswoche des Herrn, da fiel ein warmer Sonnenschein durch die weißen Mullgardinen, die dem Studierzimmer des alten Herrn etwas Behagliches und Freundliches gaben. Hyazinthen und Krokus standen am Fenster. Die Disputa, ein prächtiger Stich von Joseph von Keller, nahm fast die rückwärtige Wand ein. Darunter stand ein weitausgelegtes Sofa mit Schlummerrolle und Lehnschonern. Bücherregale, mit Werken theologischen und naturwissenschaftlichen Inhalts besetzt, eine Schreibkommode, ein Betpult, etliche Stühle, ein Rauchtischchen und sonstige Dinge vervollständigten das einfache Mobiliar, aber der Sonnenschein, der immer liebevoller und zärtlicher durch die weißen Gardinen lächelte, gab allem eine Fülle des Lichtes und einen goldenen Reichtum.

Und in dieser Fülle des Lichtes saß Heinrich van Egern, ein dünnes Männchen mit weißen Spinnwebhaaren und zitterigen Händen, aber mit stillen Augen und einem blühenden Greisengesicht, um dessen Mundecken der Ausdruck von Milde und Güte spielte, offenbar der bleibende Bestand seines inneren Wesens. Seit Monaten war der alte Herr ans Haus gefesselt. Eine plötzliche Lähmung, die ihn in Ausübung seines Berufes überraschte, hatte die linke Körperhälfte empfindlich getroffen. Nur mühsam konnte er sich von einem Zimmer in das andere bewegen, wenngleich es ihm auch um vieles besser ging und sein reger Geist keinen Schaden genommen hatte. Wie so viele auf Erden, versprach er sich alles von der heilsamen Wirkung der jungen Frühlingstage, und seine Seele blieb heiter.

Sein Pfeifchen schmeckte ihm noch. Aus langem Weichselrohr ließ er duftige Wölkchen emporsteigen, die sich in feingegliederten Spiralen durch das Zimmer bewegten.

Der warme Hyazinthenduft erquickte ihn, und die satten Farben der Krokusblüten erfreuten sein Auge.

Nur eins schien ihm zu fehlen. Er suchte versonnen und träumend danach. Jetzt schien er es gefunden zu haben.

»Na, Hänschen, wie wär's denn?« fragte er mit gütigem Lächeln über die Schulter. Hierauf machte er eine liebevolle Bewegung nach dem mit Tannengrün umkleideten Messingkäfig und versuchte, mit Daumen und Mittelfinger zu schnalzen.

Und siehe da: der schwefelgelbe Harzer blähte sein Kröpfchen und ließ eine kaum wahrnehmbare Lispelrolle vernehmen. Mit haardünnem Silbergespinst flimmerte es um den geistlichen Herrn. Er nickte still vor sich hin und legte die Hände zusammen: »Schön so, Hänschen, immer man weiter.«

Und der kleine Andreasberger verstand ihn. Aus der Lispelrolle wuchs ein zartes Klingeln heraus, dann ein melodisches Pfeifen, dem eine getragene Wasserrolle folgte, die die ganze Stube mit süßem Wohllaut erfüllte. Die weichen Töne schienen aus dem Paradies zu kommen, und sie nahmen sich bei den Händen und schwebten in einem goldenen, klingenden Reigen um den Einsamen, der alles Irdische abstreifte und auf stillen Wegen pilgerte, die nicht mehr der Erde angehörten.

Fast hätte er das Klopfen unbeachtet gelassen, das sich von draußen her vernehmen ließ.

»Herein!« sagte er aus seinen Träumen heraus, als sich die Tür auch schon sacht in ihren Angeln bewegte.

»Hochwürden haben befohlen,« mit diesen Worten drehte sich ein grobknochiger Mann behutsam ins Zimmer, der zu den Großen und Stiernackigen im Lande zählte und eine feierliche Wolke von Wachsdüften und Weihrauch hinter sich herschleppte; dabei räusperte er sich und strich bedächtig die gelockerten Seitenhaare über den kahlen Scheitel, die er dort wie einzelne Sardellen verteilte. »Und somit, Hochwürden ... vorher aber möchte ich mich ganz ergebenst nach dem Befinden Eurer Hochwürden erkundigen.«

»Ich danke Ihnen, Roloffs. Der Herr meint es gnädig mit mir. Es gibt Menschen, die schwerer zu leiden haben als ich. Ein jeder von uns hat sein Kreuzlein zu tragen. Meines ist nicht allzu bedrückend, und ich hoffe zu Gott, er wird mir noch manche Tage vergönnen. Und dann noch, Roloffs: stirbt auch der Leib, was schadet es, die Seele wird leben.«

»Wir nehmen ernsten Herzens Notiz davon,« versetzte der Küster, »und wir werden nicht verfehlen, solches den Herren des Kirchenvorstandes freundwilligst zu unterbreiten.«

Das ›Wir‹ unterstrich er mit einer behaglichen, aber festen Betonung, denn er liebte es, sich bei wichtigen Angelegenheiten des Pluralis majestaticus zu bedienen, und eine solche schien ihm heute gekommen.

»Zur Sache denn,« meinte der alte Herr und zeigte auf einen Stuhl, ihm gegenüber.

Der Küster setzte sich unter Verbreitung eines aufdringlichen Weihrauchduftes, nachdem er zuvor die Schöße seines schwarzen Düffelrockes sorglich auseinander gelegt hatte. Des Respektes halber bediente er sich zum Sitzen nur der äußersten Stuhlkante.

»Es dürfte sich wohl um Frau Elisabeth Pulcher handeln?« fragte er leise.

»Allerdings handelt es sich um Frau Elisabeth Pulcher,« entgegnete der Dechant, »denn zu meinem größten Leidwesen erfuhr ich, daß ihre Tage gezählt sein dürfen. Oder sind Sie anderer Meinung, Herr Roloffs?«

Der Küster machte eine abwehrende Handbewegung.

»Wenn es erlaubt ist zu reden, Hochwürden, so möchten wir unsere unmaßgebliche Meinung nicht vorenthalten. Selbstverständlich ganz submissest, Hochwürden.«

Mit erhobenen Armen hielt er beide Handflächen dem geistlichen Herrn entgegen.

Dieser nickte schmerzlich, wußte er doch, was kommen würde.

»Na denn,« sagte der Küster, und über das glattrasierte Gesicht, dem an Kinn und Backen die bläulichen Spuren des Rasiermessers anhafteten, legte sich jene Trauerstimmung, die sich aller bemächtigt, wenn die ersten Schollen auf den Sargdeckel niederfallen.

»Wir denken das Schlimmste,« sagte er hierauf. »Wir haben überhaupt gar keine Hoffnung, Hochwürden. Das zeitweilige Aufflackern bestätigt nur unsere ernste Befürchtung. Außerdem geruhen der Herr Sanitätsrat zu lächeln. Wir kennen dieses Lächeln, Hochwürden, denn wenn der Sanitätsrat zu lächeln belieben, dann ist die ganze Angelegenheit nur durch die letzte Wegzehrung zu regeln. Selbstverständlich ganz submissest, Hochwürden.«

»Also doch!« sagte der Dechant und sah betrübt vor sich hin.

»Daß nichts verabsäumt wird, Roloffs,« meinte er schließlich. »Der Tod liebt Überraschungen. Die Frau ist ja versöhnt mit dem Herrn. Ihr Wandel erging sich in Christo, und ihr Lebensabend war köstlich. Und dennoch: besser ist besser. Der Herr Vikar soll sich bereit halten, ihr auf Anruf die letzte Ölung zu geben.«

»Der Herr Vikar sind bereits unterrichtet worden, Hochwürden.«

»Schön, sehr schön,« sagte der Dechant. »Zu gerne hätte ich ihr selbst diesen Liebesdienst erwiesen, und wenn meine Kräfte es gestatten ...«

»Aber, Hochwürden ...!« ereiferte sich der Küster, und wieder erhob er abwehrend die Hände. »Das geht nicht, das geht absolut nicht. Ihr jetziger Zustand ... das hieße Gott versuchen, Hochwürden.«

»Sie mögen recht haben, Roloffs. Das Unmögliche ist eben unmöglich. Aber eins wünsche ich und gebiete es hiermit: sollte das Unabänderliche eintreten, will ihre Seele von hinnen scheiden, in diesem Augenblick wird Anne-Susanne geläutet.«

Der Küster blickte erstaunt auf.

»Wieso das, Hochwürden? Wenn es gestattet ist zu reden, so möchten wir uns ganz submissest erlauben ...«

»Was gibt es denn, Roloffs?«

»Solange wir die Ehre haben, unser Amt zu verwalten, und das sind schon an die fünfundzwanzig Jahre, Hochwürden, wurde Anne-Susanne, außer bei feierlichen Gelegenheiten und den sonst vorgeschriebenen Stunden, nur auf dem Beerdigungsgange in Anspruch genommen. Und daher sollten wir annehmen, Hochwürden ...«

»In diesem Falle,« sagte der Dechant, und er fühlte selber, daß in seiner Stimme ein fester und erquicklicher Ton war, »wird sie auch in der Sterbestunde geläutet. Es ist eine alte Gerechtsame der Pulcherschen Familie. Sie liegt verbrieft im Kirchenarchiv. Ein heiliges Vermächtnis aus großer und bedeutsamer Zeit. Dem wird Rechnung getragen – daran läßt sich nicht rütteln und deuteln – und die Leidende ist eine Pulcher.«

»Dann werden wir sofort vorstellig werden ...«

»Meine Anordnung genügt,« versetzte der Dechant.

»Somit dürften wir auch den Vorsitzenden des Kirchenvorstandes, den wohlachtbaren Herrn Jakob Verheyen umgehen?«

»Ja.«

»Haben Eure Hochwürden noch sonst was?«

Der Dechant verneinte.

Der Harzer ließ wieder eine silberlichte, zartausgesponnene Klingelrolle vernehmen.

Der Küster erhob sich in seiner ganzen stiernackigen Größe.

»Gelobt sei Jesus Christus!« sagte er mit niedergeschlagenen Augen.

»In Ewigkeit, Amen!« versetzte der geistliche Herr, und sein Interesse wandte sich wieder dem fleißigen Andreasberger zu.

»Also – gegebenen Falles wird Anne-Susanne geläutet. Wir nehmen Kenntnis davon. Selbstverständlich ganz submissest, Hochwürden.«

Damit war der Küster auf weichen Schuhen und von einer dicken Weihrauchwolke umkleidet in den Hausflur geglitten, hinter ihm her rieselte und perlte die niedliche Rolle des kleinen Sängers.

»Anne-Susanne,« meinte Herr Roloffs, als er die Haustür am Pastorat vorsichtig hinter sich eingeklinkt hatte. »Hm, Hm! – eine ganz neue Sache! Der Herr Parochus loci sind doch in allem bewandert. Der Herr Parochus loci wissen den Kirchenvorstand ganz niedlich auszuschalten. Möge der Herr ihn behüten – in nomine patris et filii et spiritus sancti

Damit straffte er sich und ging stelzbeinig, sich selber mit köstlichen Spezereien umwölkend, der nahegelegenen Küsterei zu. –

An demselben Nachmittag saß Frau Elisabeth Pulcher am Fenster, das auf den schmucken Hausgarten hinaussah. Weiche Kissen stützten den armen Körper und gestatteten es ihm, aufrecht im Lehnstuhl zu sitzen.

Auch hier der warme Sonnenschein, aber er sah in ein abgehärmtes Gesicht, in dem die Augen wie glanzlose Sterne feierten. Ihre abgezehrten Finger konnten nicht zur Ruhe kommen. In nervöser Hast griffen sie über- und untereinander. Sie hatte ihren Willen darüber verloren.

Frau Elisabeth Pulcher, um vieles jünger als ihr Mann, hatte keine eigentliche Krankheit, keine sichtlichen Schmerzen. Sie welkte dahin, wie eine Blume dahinwelkt. Das leidende, von schlicht gescheitelten Haaren eingerahmte Gesicht trug noch immer den Stempel einstiger Schönheit, obgleich ein fremder Zug die anmutige Reinheit der Linien zerstört hatte. Das war früher anders gewesen. Als Tochter des emeritierten Schulmagisters Gerhard Ivers und dann als Lehrerin der Mädchenschule in der kleinen Nachbargemeinde hatte sie die Herzen aller Männer erobert. Viele warben um sie, allein Elisabeth Ivers sah über diese Werbungen fort, wie man über nichtige Dinge hinwegsieht. Jahre hindurch blieb sie verschlossen und einsam. Da kam Pitt Pulcher, und ihm, dem Vierzigjährigen, war es vergönnt, das heißumstrittene Mädchen in seine Arme zu schließen. An demselben Tage stand Jakob Verheyen auf dem Umgang seiner Mühle, gewillt, sich von einem der sausenden Flügel zermalmen und in die Tiefe schleudern zu lassen. Und wäre nicht die Hand seines Vaters gewesen ... Schwer packte sie zu und zwang ihn, das Leben nicht als ein nichtiges Gut seinem Schöpfer vor die Füße zu werfen. Bald darauf heiratete er die Tochter eines begüterten Guanohändlers und Niederungsbauern. »Aus Trotz,« sagten die Menschen, die ihn näher kannten, »lediglich aus dem herrischen Willen heraus, sich selber Qualen zu schaffen und den anderen auszutrumpfen,« und dann setzten sie nachdenklich hinzu: »So was kann kein gutes Ende nehmen.« Und sie sollten recht behalten, denn fünf Jahre später wurde das arme Weib zwischen den Schleusen des Paternosterdeiches gefunden. Sie konnte nicht anders. Aus welchem Grunde sie es tat, blieb Geheimnis. Mit Hinterlassung eines einzigen Kindes, wegemüde und traurig war sie durch das dunkle Tor gegangen. Jedenfalls konnte sie den ersehnten Frieden und das irdische Glück nicht finden, und so war sie des Lebens überdrüssig geworden. Elisabeth Pulcher aber blühte auf, immer schöner und schöner. An der Brust des hochgewachsenen, insichgekehrten Mannes, der ihr fast heilig erschien, dessen Würde und Bibelfestigkeit ihr Halt und Stütze verlieh, schien sie ihre Jugend und ihr heißes Blut zu vergessen und ihr Los beneidenswert zu finden. Das Mädchenhafte verlor sich. Nur ihre Kinderaugen blieben. Wer aber genauer zusah, der mußte sich sagen: »Das sind keine Kinderaugen mehr, das sind heiße, suchende Frauenaugen geworden,« und mit diesen heißen, suchenden Frauenaugen ging sie durchs Leben, bis der Glanz dieser heißen Augen matter und kränklicher wurde und sie das Licht suchten, das in die Ewigkeit führte.

Hinter ihr war ein unterdrücktes Schluchzen.

»Warum weinst du denn, Anna?« fragte die Kranke.

»Mutter, ich weine doch nicht.«

»Warum soll sie denn auch weinen?« versetzte in diesem Augenblick eine ernste Stimme, die reich mit gütiger Liebe durchtränkt war.

Pitt Pulcher war aus seinem Gärtchen ins Zimmer und an die Seite seines Weibes getreten.

»Mutter, nun laß das man gut sein, denn so richtig betrachtet, könntest du dich so'n bißchen im Garten vertreten. Lisbeth, du solltest nur wollen. Draußen scheint die Sonne so pläsierlich, der Buchfink singt schon, und die Stachelbeersträucher haben bereits ihr grünes Kamisölchen angezogen. Es will Ostern werden da draußen.«

»Wo wir noch in der Karwoche sind?« fragte sie leise. »Die Karwoche ist die Woche des Leidens.«

»Lisbeth, was soll das? Das gibt sich ja wieder.«

»Ja, wenn die roten Kringel nicht wären,« sagte sie hüstelnd, »dann ginge das noch. Aber so! Das kann nicht mehr werden. Und hier: da sitzt das und läßt sich an wie 'ne Chaussee, wenn kein Regen gefallen ist, so trocken und staubig. Dores Jansen wird wohl bald die Hobelspäne zurechtlegen müssen.«

»Aber ich bitte dich, Mutter ...! Dores Jansen denkt an ganz andere Dinge. Er freut sich schon auf den Tag, an dem er übers Jahr die Ehrenpforte zimmert, wenn Stephan hier im weißen Röckling eintriumphiert und seine Primiz feiert.«

»Ach, ja, die Primiz! – Wenn Stephan doch käme ...! – Wenn er doch endlich kommen wollte! – Sonst muß er mich am Kalvarienberg – bei den Tannen da hinten ...«

Sie versuchte, die Hände zu heben: »Ja, bei den Tannen da hinten! Da blühen die Himmelsschlüssel am ersten, und dann« – ihre Stimme kroch in sich zusammen, so verschüchtert wurde sie, so ängstlich und kaum noch zu hören – »und dann, wenn's Sonntag wird und alles so still und nachdenklich wie in der Kirche ist, dann tu mir einen Gefallen: dann setze dich in den Webstuhl und webe. Das Gewuchte der Lade dringt ja wohl bis zum Kirchhof. Dann weiß ich doch, daß du meiner gedacht hast.«

Ihre Stimme wurde zu einem leisen, wehen Geflüster.

Anna hielt das Taschentuch gegen die Lippen und weinte still vor sich hin.

Pitt Pulcher aber riß sich zusammen. Er hätte aufschreien mögen, bezwang sich jedoch und sagte: »Was sollen nun all die dummen Geschichten! – Du weißt ja selber: der Doktor hat die beste Hoffnung gegeben. Und was der gesagt hat, das ist so gut wie das Wort Gottes am Tabernakel.«

»Ach, ja – der Doktor ...!« und eine helle Träne rieselte über die Wange und von hier auf die zitterigen Hände, die keine Ruhe finden konnten.

Da schlang er beide Arme um den gebrechlichen Körper und bettete den müden Kopf an seine Schulter: »Aber ich bitte dich, Mutter – der Doktor ...! – Was der nun einmal gesagt hat, da kann unsereiner nicht gegen an operieren. Das ist so zäh wie 'ne eschene Wagenrunge und steht wie so'n richtiger Kegelkönig, wenn die andern Kegel man so herumpurzeln müssen. Nee, Mutter, auf den Doktor lasse ich absolut gar nichts kommen. Und wenn's dann besser wird, Mutter, wenn dann die schönen Tage kommen, die 'nen ordentlichen Hirtzensprung machen und selbst dann noch hell bleiben, wenn die Sterne heraufziehen wollen, dann gehn wir hinaus in die Felder. Weißt du, hinaus in die Felder, so nach Xanten und Marienbaum zu, so am Kalkflack entlang, an der Berglehne entlang, wo unser Fichtenbaum steht und der warme Sommerblust über die Weizenschläge dahinweht und der liebe Herrgott seine roten und blauen Blumen ins Korn hineingestickt hat. Unsere Farben, Mutter: Liebe und Treue! Nein, um dich hab' ich gar keine Bange. Das gibt sich wieder, denn der liebe Gott wird doch nicht zugeben, daß ich hier allein bleiben soll, ich und Anna und Stephan ...« und damit beugte er sich tiefer, und sein Mund ruhte auf dem Scheitel der stillen Frau. »Ja, Mutter, unsere Farben: Liebe und Treue!«

Etwas wie der matte Schein einer in weiter Ferne aufdämmernden Hoffnung ging über die Züge der Insichgekehrten.

Dann hob sie das Antlitz und sah lange und tief in die hellblauen Augen ihres Mannes, die voller Glanz und Sonnenschein über ihr standen. Aber sie sah doch nicht lange und tief genug, um auch hinter diesen glänzenden und sonnigen Schleier zu blicken.

»Und das glaubst du wirklich?« fragte sie ängstlich. »Das ist dein wahrhaftiger Ernst? Du glaubst an meine Genesung, wie du an Ostern glaubst und an die Auferstehung des Leibes?«

Mit den letzten Kräften, die ihr noch blieben, umgriff sie die Hände ihres Mannes und versuchte, ihre heißen Lippen darauf zu drücken.

»Ja, Mutter, ich glaube.« sagte Pitt Pulcher, und seine Stimme nahm einen festen und zuversichtlichen Ton an. »Ich glaube daran wirklich und wahrhaft, ich glaube daran, wie ich an das Evangelium glaube, an eine Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben.«

Seine Worte jubelten, und doch war ihm das Herz zum Zerspringen.

Und siehe da: Pitt Pulcher reckte sich auf unter Niederwerfung der Schwäche, die ihn angehen wollte. Er reckte sich auf, ein bibelfester Recke, ein Alter vom Berge, mit erhobenem Haupt und mit Feiertagsaugen, willensstark und selig in seinem Glauben.

»Mutter, bald rufen die Glocken. Ostern und Auferstehungsfreude, Genesen und Frühling! Das breitet die Flügel wie 'ne Lerche im jungen Roggen. Das will in den Himmel hinein, das will in die Menschenherzen hinein. Glaube, liebe und hoffe!«

Und Pitt Pulcher legte die Hände zusammen und faltete sie. Ein Leuchten ging über sein ernstes Gesicht, ein heiliges Leuchten, ein befreiendes Leuchten. Langsam hoben sich die gefalteten Hände, und dann, als wenn er sich im Hochamt befände, als stände der liebe Gott neben ihm und er müsse ihm zu Preis und Ehr' ein heiliges Lied singen – also stand Pitt Pulcher auch jetzt, und feierlich und aus tiefstem Herzen heraus hub er an zu singen. Und also sang er:

»Das Grab ist leer, der Held erwacht,
Der Heiland ist erstanden;
Da sieht man seiner Gottheit Macht,
Sie macht den Tod zuschanden.
Ihm kann kein Siegel, Grab und Stein,
Kein Felsen widerstehen;
Schließt ihn der Unglaub' selber ein,
Er wird ihn siegreich sehen ...«

Pitt Pulcher hatte gesungen; er hatte gesungen wie diejenigen, die ein Wunder herbeisehnen, herbeisehnen müssen und dennoch so recht an dieses Wunder nicht glauben können. Und trotzdem hatte er gesungen, wie die Zuversichtlichen singen, wie diejenigen singen, die mit Gottvertrauen und durch die Kraft eines mächtigen Liedes die Gewalt des heranschleichenden Todes zu brechen vermeinen.

Noch ganz durchdrungen von seiner Mission, stand er erhobenen Hauptes und mit erhobenen Händen.

Da trat der Doktor ins Zimmer.

»Es geht schon besser,« lächelte ihm die Kranke entgegen, »es geht schon um vieles besser, Herr Sanitätsrat.«

»Aber natürlich geht's besser,« bestätigte der Doktor, setzte sich an ihre Seite und nahm ihre fieberheiße Hand, die schmal und weiß und durchsichtig wie die eines Geistes geworden war. »Gut, sehr gut,« konstatierte er mit heiterem Lächeln. »Sie sollen mal sehn: die Lebensperle steigt ja bei Ihnen, wie so'n Bläschen im Selters ...«

»Und das glauben Sie wirklich, Herr Doktor?«

»Aber natürlich,« und dann pfiff er wie der prächtige Buchfink, der draußen von einem blühenden Aprikosenzweig herunter sein schönstes Lied in Gottes weite Welt hinausschmetterte.

Als er dann ging und von Pitt Pulcher begleitet das Haus verließ, hielt er an der Schwelle noch einmal den Fuß an. Er pfiff nicht mehr und lächelte nicht mehr.

»Herr Pulcher,« sagte er bedrückt und suchte nach dessen Hand, »Sie sind ein starker Mann, und ich glaube, Sie können die Wahrheit vertragen. Meine Kunst geht zu Ende. Lassen Sie Stephan aus dem Seminar kommen. Je eher, je besser.«

Da taumelte der Weberkönig gegen den Türpfosten und sah mit aufgerissenen Augen den ersten Schwalben nach, die sich in dem stahlblauen Frühlingshimmel verloren.

Also – sein glaubensstarkes Lied und sein glaubensstarker Wille hatten auch nicht geholfen?!

Nein – sie hatten auch nicht geholfen.

 


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