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10

Noch Stunde um Stunde, nachdem Vater und Tochter längst zur Ruhe gegangen, währte das Beten.

Der junge Priester kniete neben seinem Bett vor einem beinernen Kruzifix. Abseits stand eine brennende Kerze. Wenn sein heißes Auge sich hob, sah er durch den Fensterrahmen die dunklen Umrisse der Sankt Nikolaikirche. Alles war einsam. Keine Laterne blinkte herauf. Nur das ewige Licht flämmerte mit gleichmäßigem Leuchten durch die Chorscheibe herüber. Unter diesem Licht sollte er morgen des heiligen Amtes walten.

Er schauerte zusammen.

Seine Seele war so keusch wie die Blumen am See Genezareth. Mit solcher Reinheit im Herzen gingen nur wenige der großen Feier entgegen.

Und wie still war die Nacht!

Silentium sanctissimum!

Das Donnern und Blitzen war längst vergangen. Der Regen hatte aufgehört, und die Wolken waren vorübergezogen.

Myriaden von Sternen drehten sich am tiefblauen Himmel.

Per omnia saecula saeculorum ...!

Nur ab und zu fiel eine scharfumrissene Helle nieder.

Der junge Kaplan trat ans Fenster. Er sah das Fallen und Gleißen und sprach große und ernste Worte in dieses Fallen und Gleißen hinein, Worte, die sich wie Blüten aneinanderreihten oder wie Leuchtkugeln aufflammten und mit leichtem Knistern zergingen.

Er überlief noch einmal die morgige Predigt.

Gegen drei Uhr verlöschte die Kerze.

Dann schlief er, und träumend fand er sich in der Kirche wieder. Er hörte Zymbeln und Geigen und den weltfremden Gesang von pilgernden Nonnen, ein Gesang über den Wassern, als hätten bleiche Wasserrosen gesungen. Ein süßer Wohllaut erfüllte die Räume, und dieser Wohllaut wurde auf Weihrauchwölkchen getragen. Nur eine sonore Männerstimme klang zeitweilig dazwischen. Sie kam aus tiefstem Herzensgrund; sie tönte wie die eines Cherubs – eine vox jubilata.

Es war die seines Vaters, der aufrecht und mit gefalteten Händen dem Hochamt beiwohnte. Neben diesem erhob sich eine hohe Gestalt, weißgekleidet, mit weichem Bart und blondem Haar, das auf den Schultern sich lockte. Es war ein Mann, der die Zwanziger hinter sich hatte. Er stand in bläulichem Licht, und seine Augen erinnerten an die Farbe des Flachses, wenn er blüht auf den Feldern zu Bethlehem. Und seine Züge gemahnten an die der Galiläer, die jenseits der Sandwüste wohnen.

Es war Christus.

Und seine Hand hob sich und zeigte auf den mit Rosen und Sommerblumen geschmückten Altar, auf dem die heilige Handlung vor sich ging.

Stephan hörte ihn sprechen.

»Das ist dein Sohn,« sagte der Heiland.

»Ja, das ist mein Sohn,« versetzte der Alte und beugte sich, und seine Stirne berührte den Boden.

Noch einmal erhoben die bleichen Wasserrosen ihre sehnsüchtigen Stimmen; dann brauste die Orgel: »Jubilate, jubilate!« und das ›Ite missa est‹ zog feierlich über die tausendköpfige Menge.

Der Nazarener verlor sich in seinem eigenen Glanz. Aber sein Geist blieb und segnete alle. Und das Licht wurde größer und heller und schimmerte durch die Schirtinggardinen, die an dem Fenster des kleinen Zimmers hingen.

Da erwachte der Kaplan.

Heller Sonnenschein flutete ihm zu. Der Tag war gekommen. –

Zwei Stunden später krachten die ersten Böller, die großen Glocken summelten vom Turm, und die kleineren bimmelten dazwischen. In stiller Weise wurde Stephan Pulcher von der elterlichen Wohnung eingeholt. Halbwüchsige Mädchen, das Lamm Gottes auf den Händen tragend, die Insignien von Glaube, Hoffnung und Liebe mit sich führend, eröffneten den Zug. Kirchenfahnen hoben sich auf, Fahnen grüßten herab, Medaillenstäbe blinkten in den jungen Morgen hinein. Die Jungfrauen von der ›ewigen Anbetung‹ gingen rechts und links von dem Primizianten. In Begleitung der Geistlichkeit aus den benachbarten Ortschaften schreitet er wie ein Heiliger über Buchsbaumpartikelchen und welkende Blumen, begleitet von einer silbrigen Taube, die das Flimmern des Himmels vor ihm herträgt. Sie fliegt, wie von einer zarten Aureole umgeben. Er selber: seine Lippen sind bleich, und der Blick unter den etwas angeröteten Augenlidern haftet am Boden. Ein gesticktes Chorhemd umkleidet seine jugendliche Gestalt. Er hält das Barett zwischen den Händen. Von den Schultern herab hängt die seidene Stola, golddurchwirkt und mit bunten Steinen umkrustet. So schreitet er weiter durch die wispernden Maibäume, durch die Girlanden und Kränze hindurch, an den unzähligen Menschen vorbei, die rechts und links vom Wege stehen oder knien. Die Herren der Schützengesellschaft bilden Spalier. Sie tragen weißleinene Beinkleider und graugrüne Röcke. In ihren Gewehrläufen stecken Sträußchen von Zentifolien und Mariawindelbleich. Beim Nahen des jungen Klerikers gehen die Büchsen in Präsentierstellung. Eine dumpfe Trommel schlägt an. Das große Banner senkt sich. Der heilige Sebastianus neigt sich zur Erde. Die krausen Blättchen der geschlagenen Birken rascheln stärker. Mütter heben ihre Kinder auf: »Das ist der neue Kaplan!« – und die Kleinen jubeln: »Heerohme! Heerohme!« und strecken ihm ihre Händchen entgegen. Sträußel und Rosenblätter fliegen ihm zu. Er geht über sie fort, und die Worte des heiligen Markus treten ihm in den Sinn, die da lauten: »Viele aber breiteten ihre Oberkleider auf den Weg, andere hieben Zweige von den Bäumen und legten sie nieder. Und die vorausgingen und nachfolgten, riefen und sprachen: Hosianna! Gesegnet, der da kommt im Namen des Herrn!«

Er schämt sich dieser Gedanken, denn er ist nur ein Diener des Herrn und nicht würdig, dessen Ehrung für sich in Anspruch zu nehmen. Seine Blicke haften wieder am Boden. Gesenkten Hauptes schreitet er durch die erste Ehrenpforte, wo die Worte geschrieben stehen: »Benedictus, qui venit in nomine domini.« Jetzt atemlose Stille. Die zweite Ehrenpforte liegt hinter ihm. Die Schauer der Kirche tun sich auf, und unter ernsten Klängen geht es zur Sakristei. Die Gläubigen strömen nach und füllen Bänke und Hallen. Bald darauf erklingt eine Schelle von der Epistelseite her. Von Geistlichen und Ministranten begleitet, von Weihrauchwölkchen umduftet, besteigt Stephan die Stufen des Altars. Seine Tonsur leuchtet weithin. Das Hochamt nimmt seinen Anfang, und es ist wie Flügelrauschen unter dem Sterngewölbe.

Pitt Pulcher hat seinen Platz im linken Chorgestühl, Gebetbuch und Rosenkranz zwischen den Fingern. Um die weißgestärkten Vatermörder legt sich eine schwarzseidene Binde, vorne zu einem mächtigen Knoten verflochten. Ein bläulicher Schimmer liegt auf dem Chemisettchen. Sein Gesicht ist noch abweisender und kantiger als an sonstigen Tagen. Er und sein Sohn sind heute die Auserwählten des Tages. Das weiß er. Aber kein Hochmut wandelt ihn an. Er fühlt sich geringer denn alle übrigen Leute, nur nicht geringer als Jakob Verheyen. Drum auch steht er erhobenen Hauptes, selbstherrlich, gebietend und mit eherner Stirne.

Dicht neben ihm kniet seine Tochter. Ihm gegenüber sitzt Heinrich van Egern im Lehnstuhl. Mit glücklichem Lächeln folgt er der Handlung. Sonnenstäubchen flimmern um seine Schläfen.

Die Staffelgebete gehen vorüber. Das Kyrie eleyson und das Gloria werden gesungen. Die Kollekten setzen ein. Das Meßbuch wird auf die Evangelienseite getragen.

Pitt Pulcher sieht alles mit aufgerissenen Augen. Die Rosenkranzkügelchen in seinen Händen arbeiten tönend gegeneinander, und in dieses Klingen spricht er mit verhaltener Stimme: »Ich vergebe allen, o Herr, die mir Böses erwiesen – auch Jakob Verheyen. Nur vergebe ich nicht, daß er mich um Annas Willen tiefer herabdrücken wollte.«

Er fühlt, wie ein warmer Arm sich in den seinen hineindrängt.

»Es ist nichts, meine Tochter.«

Und Pitt Pulcher streckt sich wieder.

Die Messe der Gläubigen beginnt. Das Offertorium nimmt seinen Anfang. Orate, frates! Die Stillgebete folgen. Ein Glöckchen ertönt. Alle Geräusche verstummen. Jeder fühlt die Nähe des Ewigen. Wieder das Glöckchen! Dreimal hintereinander läßt es seine Stimme vernehmen.

Pitt Pulcher liegt auf den Knien. Seine Stirn berührt den Estrich. Hart pocht die Hand gegen das blaugestärkte Vorhemd, und die Worte sind bei ihm: »Jesus, dir lebe ich. Jesus, dir sterbe ich. Jesus, dein bin ich im Leben und im Tode.«

Dann strafft er den Nacken. Der alte Geist beherrscht ihn aufs neue. Er hört das Sausen der Flügel und das Klatschen der Windsegel. Einer ist dicht neben ihm. Der raunt ihm zu: »Meine Projekte vertragen zurzeit keine Heirat zwischen Anna und Hermann. Ich glaube, sie vertragen es niemals.«

»Also – niemals ...!«

Er schlägt die Gedanken des Hasses nieder, und dennoch betet er: »Ich beuge mich vor dem Geringsten, o Herr – nur nicht vor Jakob Verheyen, denn ich bin ein Pulcher und dünke mich höher denn jener. Wer sich erniedrigt, o Herr, der soll erhöhet werden, also steht geschrieben; wer sich aber vor Jakob Verheyen erniedrigt ...«

Er schluckt die letzten Worte hinunter, als wären es Strähnen wolligen Garnes. Unwirsch fallen die Rosenkranzperlen gegeneinander.

Wieder steht er in seiner ganzen Größe und Herbe. Das Gesicht ist fahl zwischen den Vatermördern geworden. Er hat Jakob Verheyen gesehen. Dort kniet er, unmittelbar neben der Kanzel. Und auf der Kanzel ...

Rot- und schwarzfleckig zieht es an seinen Blicken vorüber. Seine Sinne wollen abspurig werden. Mit schwerer Hand fährt er sich über die Augen ...

Eine wehe Stimme erklingt.

Es ist die seines Sohnes.

Sie kommt von der Kanzel herunter und erinnert an einen frischgefangenen Vogel, der sich an den Gitterstäben des Käfigs das schöne, unberührte Waldgefieder zerschindet. Also flattert sie unter den hohen Kreuzgewölben einher, stößt gegen die gotischen Pfeilerbündel, klirrt gegen die Scheiben, um betäubt unter die gläubigen Menschen zu taumeln. Dann hebt sie sich wieder, ungewiß, wie sie es anstellen soll, Überlegung und Sammlung zu finden.

Die feinen, bleichen Hände auf dem Kanzelgesims, über sich den Heiligen Geist in Gestalt einer weißen Taube und vor sich eine unzählige Menge von Laien und Klerikern, also spricht der junge Schwärmer, eifrigst bemüht, der armen, ängstlichen Stimme das Beengende des Käfigs zu rauben und ihr ein Türlein zu öffnen.

Endlich gelingt es, und siehe da: die Gewölbe geben sich auseinander, und die Stimme wird wie eine feldfreie Lerche, die sich jubelnd aufschwingt und ihre uralte und doch ewigjunge Weise verkündet. Aus Gottes heiterer Himmelsbläue heraus erfüllt sie die Kirche mit süßem Wohllaut und die Herzen der Menschen mit den geheimnisvollen Regungen überirdischer Weihe und Andacht.

Er weiß nicht mehr, wo er ist. Unter ihm flimmert alles wie in einem Kaleidoskop. Bunte Scherben und flammende Sonnen! Ein weicher, warmer Nebel gleitet über die tausendköpfige Menge. Er hört nur sich und sieht nur seine Arme, die sich zeitweilig heben und senken. Der Nebel wird stärker, aber über diesen Nebel hinweg zieht seine Stimme mit zuversichtlicher Ruhe, wie ein schönes, weißes Schiff, das alle Segel aufgesetzt hat und gewillt ist, in das Land der Verheißung zu fahren. Er erstaunt über seine eigenen Worte. Kein Räuspern ist um ihn, kein Scharren, nicht ein Hauch der kleinsten Bewegung. Er spricht von der Heiligkeit des Hirtenamtes, von den Segnungen der Kirche. Sie wird ihm zu einer allumfassenden, liebenden Mutter. Er denkt dabei an seine eigene Mutter. Sie steht neben ihm, im Sterbekleid und mit Rauschgoldplättchen auf den schmalen, blutleeren Lippen.

Ein warmer Strahl fällt durch das der Kanzel gegenüberliegende Fenster.

Er steht darin wie in einer Glorie.

Er hat schon lange gesprochen. Da rafft er sich noch einmal zusammen. Noch einmal gedenkt er der Mutter Kirche und der eigenen Mutter. Er schüttet eine Fülle heißer Verzückung über sie aus. Das hohe Lied der Mutterliebe strömt von seinem bleichen Munde.

»Mutterliebe, Mutterliebe!« – also dringt es in die weite Stille hinein, »du ritzt deine Füße wund an den Dornen des Weges, nur um deinen Kindern zu helfen; du stößt deine Knie lahm an den Kanten der Felsen, nur um deinen Kindern die Wege zu ebnen; du reißt dir das Herz aus der Brust und bietest das Zuckende dar, nur um die durstigen Kinder zu laben, und selbst aus dem Sarge heraus ertönt deine Stimme: Mein Kind, vergib mir, wenn ich dir weh getan habe. – Fallt auf die Knie und betet und küßt eure Mutter ... küßt eure Mutter ... küßt eure Mutter!«

So sprach er.

Und ein großes Schweigen war um ihn – das Schweigen im Tempel.

Nur vom Hochaltare her knisterten unzählige Kerzen. Von ferne gesehen, reihten sich die Flämmchen zusammen wie Perlen an einer Schnur. Drei Perlenschnüre übereinander.

Der junge Prediger atmete tief. Er fühlte die Nähe der Verstorbenen. Sie hatte sich an ihn gelehnt.

Dann breitete er die schmalen, fast durchsichtigen Hände, die wie schöne Frauenhände aussahen, und gab allen den Segen: »Amen!«

Als er die Kanzel verließ, war das leise Schluchzen unter den Gläubigen nicht mehr zu dämmen. Der Dechant van Egern wischte sich über die Augen. Die auswärtigen Amtsbrüder schüttelten ihm die Hände. Der Küster Roloffs beglückwünschte ihn. Dores und Thyß drehten ihre Mützen in den Händen herum und sahen steif auf den Boden. Wo er vorbeikam, senkten sich weinende Gesichter. Fromme Hände versuchten es, Stola und Chorhemd zu streifen. Eine junge Mutter trat mit ihrem kränklichen Kinde vor und bat, es zu segnen. Sie hielt ihm ein armes Geschöpf entgegen.

»Ich bin dessen nicht würdig,« sagte er bewegt, »aber Gott wird schon helfen. Gehe in Frieden.«

Und sie ging in Frieden, voller Hoffnung und Zuversicht und mit leuchtenden Blicken.

Unter brausenden Orgelklängen betrat er die Sakristei. Als er sie verließ, empfingen ihn Vater und Schwester. Sie nahmen ihn in ihre Mitte und ergriffen seine Hände. Und so, Hand in Hand, gingen sie durch die geschmückten Straßen dem kleinen Gasthaus zu, wo das einfache Festmahl bereit stand.

Gegen fünf Uhr war alles vorüber. – – –

Eine Stunde später hatte Pitt Pulcher einen Spaziergang über die Dämme gemacht und war dann nach Hause gegangen, während Anna und Stephan die Kaplanei aufsuchten und die letzten Vorkehrungen für den morgigen Einzug besprachen. Zum Abendessen wollten sie sich wieder im elterlichen Hause begegnen. Also war abgemacht worden.

Noch ganz benommen von dem Durchlebten, hatte der Alte den Heimweg angetreten. Auch er sonnte sich im Glanz seines Sohnes. Vor ihm reihten sich noch immer die brennenden Kerzen, hörte er noch immer das Brausen der Orgel, vernahm er noch immer die großen Worte seines Einzigen, die das Evangelium der Mutterliebe in alle Herzen getragen hatten. So konnte nur einer sprechen, der seine Mutter inniger liebte denn alle übrigen Menschen.

Er schritt mit dieser Überzeugung wie durch himmlische Garben. Eine schöner als die andere. Erst allmählich verloren sie sich, und als er zu Hause ankam und seinen Feiertagsrock beiseite legte, da waren alle verschwunden.

»Jakob Verheyen,« sagte er stumpf vor sich hin, »Jakob Verheyen ...«

Das Wort war behutsam gesprochen, fast ängstlich, und doch durchpfiff es den Raum wie eine scharfe Pistolenkugel. Ihm war es, als klatsche sie gegen die rückwärtige Wand an.

»Jakob Verheyen ...!«

Er war durch Feier und Freude gegangen. Die lagen jetzt hinter ihm. Er hatte das Glück seines Sohnes mit durchlebt und dabei wie in einem verwunschenen Tal gestanden. Das war jetzt abgetan. Dunkle Wolken sanken herunter. Ihn beherrschte die Empfindung, als stieße er seine zitternden Fäuste durch die dunklen Wolken hindurch, als reckten sie sich, um sich seinem Gegner um die Kehle zu schnüren – und doch hatte er ihm zugesagt: die Freundschaft soll bleiben.

Ja, die Freundschaft soll bleiben. Das konnte sie auch, das mußte sie auch, aber je länger er über diese Freundschaft nachdachte, um so mehr entglitt sie ihm zwischen den Fingern. Mochte sie gleiten. Er hatte jetzt an andere Sachen zu denken. Die Stunde regierte. Er hatte seinen Kindern zu sagen, was er dem lieben Gott in der Kirche gesagt hatte: »Ich beuge mich vor dem Geringsten, o Herr – nur nicht vor Jakob Verheyen, denn ich bin ein Pulcher und dünke mich höher denn jener. Wer sich erniedrigt, o Herr, der soll erhöhet werden, also steht geschrieben; wer sich aber vor Jakob Verheyen erniedrigt ...«

Er lachte leise in sich hinein, und doch war es ein stolzes Lachen, ein selbstgefälliges Lachen.

Pitt Pulcher war ein gerader und selbstbewußter Mann, aber seit der letzten Begegnung mit Jakob Verheyen war er noch gerader und selbstbewußter geworden.

Hemdärmelig und noch im Schmuck der Vatermörder stand er neben dem Webstuhl.

Draußen lag bereits der Abend auf den Dächern. Breite Schatten liefen über den Kirchplatz. Dämmerung gähnte durch die niedrigen Fenster. Das Gegenständliche im Zimmer verlor sich. Graue Fäden spannen sich von Wand zu Wand, von Ecke zu Ecke. Die Umrisse der Sankt Nikolaikirche nahmen einen verwaschenen Ton an. Es war die Zeit, wo die Fledermäuse fliegen.

Dem Webstuhl gegenüber erhob sich ein eichener Wandschrank, vielfach verkröpft, breit ausgelegt und mit eisenbeschlagenen Türen. In diesem Wandschrank ruhte der Pulchersche Stammbaum und eine Abschrift der Schenkungsurkunde, die Kaspar Christian Pulcher, der Ältermann der hochmögenden Tucherfraternität zu Köln, seinerzeit abgefaßt hatte. Von Vater auf Sohn hatten sich die Dokumente durch die Jahrhunderte hindurch vererbt und waren von diesen mit äußerster Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue aufbewahrt und ergänzt worden.

Die Blicke des Alten fielen auf diesen Schrank.

Er pochte mit scharfem Knöchel gegen eine der Türen. Er sah die Dokumente durch die schweren Bretter hindurch.

»Ihr habt heute zu reden,« sagte er ruhig, als Stina Mengels erschien und nach dem Abendbrot fragte.

»Es wird für vier gedeckt,« sagte der Alte.

»Aber, Mynherr ...!« entgegnete Stina.

»Für vier,« sagte Pitt Pulcher.

»Wer soll denn noch kommen?«

Er gab keine Antwort, sondern winkte schweigend ab. Da ging Stina kopfschüttelnd ihrer Arbeit nach, während er selber die Petroleumlampe, die mit ihrem grünen Schirm von der Decke hing, anzündete. Hierauf zog er die Gardinen vor und stellte sich wieder neben den Webstuhl.

Sie mußten bald kommen, aber bis dahin hatte er noch hinreichend Zeit, sich für das Kommende vorzubereiten. So trat er zwischen die hohen Stuhlsäulen, um die alten Tage zu beschwören und den verblichenen Glanz des eigenen Hauses neu zu vergolden. Das konnte ihm nur der Webstuhl geben, und nur so war er fähig, dasjenige später richtig zu sagen, was er zu sagen hatte. So saß er denn hochaufgerichtet im Halbdunkel, zwischen Balken und Säulen und vor sich ein unfertiges Stück feinmaschiger Leinwand, das er seiner Tochter als Tafeltuch zugedacht hatte. Sein Sinn wurde stark, und sein Wille straffte sich. Mit kundigen Händen griff er in den Stuhlmechanismus. Ein dumpfes Rumoren und Wuchteln setzte ein. Die Lade stampfte und stöhnte, das geworfene Schiffchen murrte und schlappte, und der Zeugbaum sprach mit heiserem Knarren dazwischen. Hei, wie das wohltat! Wie das seine Stirne umbrauste, wie Sturm im Frühlingswald! Die Arbeit seiner Väter machte ihn jung, machte ihn zu einem kölnischen Weber. Machte ihn zu einem Gewaltigen unter den Gewaltigen. Was war Jakob Verheyen dagegen? Er jedoch, einer der Pulcher, griff mit seiner Sippe in jene Tage hinein, wo der Stahlhof in London kölnisches Tuch und kölnische Leinwand doppelt und dreifach bewertete. Was konnte ein Jakob Verheyen dagegen setzen?

Immer lauter ging der Kontermarsch, immer nachhaltiger stöhnte die Lade.

Er, einer der Pulcher, war ein Nachfahre des gewaltigen Kaspar Christian Pulcher, jenes gewaltigen Kaspar Christian Pulcher, der wie ein Held gestanden hatte, damals, als er den Aufstand ansagte und vor gespannter Bank und besetzter Ratmannentafel dem regierenden Bürgermeister die geballte Faust ins Gesicht hielt. Was war ein Jakob Verheyen dagegen?

»Nichts, reineweg gar nichts!« schrie der Alte in das Gewuchte und Gestampfe hinein. »Und so ein Mensch will das Herz meiner Tochter ...«

Er verstummte.

Im Flur schlug die Klingel an.

Gleich darauf drangen ihm heitere Stimmen zu. Er fuhr in den Sonntagsrock und empfing seine Kinder, setzte sich mit ihnen zu Tisch und sprach das Gebet so still und gewissenhaft, wie er es allzeit gewohnt war.

Vier Stühle standen um die runde Tafel, vier altmodische Binsenstühle mit hohen Rückenlehnen. Vor jedem lagen Teller, Gabel und Messer und ein Stück Brot. Aber einer von den Stühlen blieb leer.

Stina Mengels trug das einfache Mahl auf, und der Alte brach das Brot und sagte: »Wir können beginnen.«

Da sah Anna ihren Vater an und deutete auf den unbesetzten Stuhl.

»Es ist für vier gedeckt,« sagte sie leise, »wer kommt noch?«

»Deine Mutter, oder besser gesprochen, sie ist schon unter uns und teilt unsere Mahlzeit.«

Da wurden alle ernst und bedrückt und konnten das Wort nicht mehr finden.

Stina Mengels machte das Zeichen des heiligen Kreuzes und verließ geräuschlos und auf den Zehenspitzen das Zimmer.

Kaum hörbar klinkte die Tür ein.

»Das ist leicht zu erklären,« sagte der Alte und legte seine Hand auf die seiner Tochter. »Ein Jahr und mehr ist seit dem Tode Mutters vergangen. Ein Jahr erst, und doch sieht sich das alles an, als wäre gar nichts geschehen. Die Welt tut ihren gewöhnlichen Gang, die Glocken läuten wie stets, die Blumen blühen wie immer, die Lampe brennt wie in früheren Tagen ... Dasselbe Tisch- und Tafelzeug, wie Mutter es deckte ... Es ist alles wie sonst, und es hat sich gar nichts geändert. Und ich habe gewartet und immer gewartet, aber der Stuhl, auf dem Mutter gesessen – das liebe Gesicht – die Hände – die Stimme ...«

Er zählte die Muster, die in dem gespreiteten Tuch waren.

»Das ist heute anders geworden,« fuhr er mit weher Betonung fort, »ganz anders geworden. Stephan« – und er tat die andere Hand auf die seines Sohnes – »du hast heute so schön von der Mutterliebe gesprochen. Das waren andächtige Worte, heilige Worte. Und da ist Mutter gekommen, denn sie will doch dabei sein, wo du zuerst als junger Kaplan am elterlichen Tisch sitzt. Und nun ist sie da – und lächelt – und segnet uns alle ...«

Und er beugte sich zur Seite und legte den Arm um den Leib seines verstorbenen Weibes, wie er es früher gewohnt war.

Dann aßen sie still vor sich hin.

Nach dem Tischgebet erhob sich Pitt Pulcher.

»Ich habe euch eine Botschaft zu geben,« sagte er ruhig, und da gingen sie Hand in Hand in das große Zimmer, wo der Webstuhl aufragte und die Dokumente des Wandschrankes von alten Tagen erzählten.

Anna und Stephan sahen sich an. Es ging etwas vor sich. Langsam stieg es herauf, ohne Übereilung, ohne im geringsten dringlich zu werden. Und dennoch kam es sicheren Fußes gegangen. Alle Anstalten ihres Vaters wiesen daraufhin, denn er trat an den Wandschrank, öffnete ihn und entnahm ihm einen Kerzenstumpf, dessen andere Hälfte die verstorbene Mutter mit ins Grab genommen hatte. Er wächste ihn auf der Tischplatte fest, entzündete den Docht und legte die Pulcherschen Schriftstücke, die Stammbaumrolle und die Schenkungsurkunde, neben die brennende Kerze.

Dann hub er an, erst stoßweise, fast unvermittelt, um dann seine Worte in tiefes und bequemes Fahrwasser zu steuern: »Was hier brennt, ist meine persönliche Ehre, was daneben liegt« – und er deutete mit fester Hand auf die Schriftstücke – »das ist die Pulchersche Ehre im allgemeinen. Und diese Ehre ist wie ein Mann, der vor seinem grimmigsten Feind nicht knien will, selbst dann nicht, wenn dieser ihm sagt: Knie oder der Kopf muß herunter. Er steht, wie er steht, und geht das nicht anders« – und der Glanz seiner Augen wurde metallisch – »stehenden Fußes läßt er sich den Kopf vom Rumpfe herabhauen. – So und nicht anders haben es die Pulchers allzeit gehalten. Des zum Zeichen liegen hier die Papiere zu jedermanns Einsicht, und des zum Zeichen hängt drüben im Turm Anne-Susanne für jedermanns Ohr, daß jedermann weiß: Pulchersches Blut ist Blut von einer ganz besonderen Sorte. – Stephan« – und seine Stimme nahm einen weicheren Ton an – »dein Amt kommt von oben, du stehst direkt mit dem lieben Gott in Verbindung. Darin bist du mir über, und ich bin der erste, dies freudig anzuerkennen. Aber vergiß dabei nicht, was du denen schuldest, von denen du Leib und Seele empfangen. Denke daher an den Mann, der nicht gesonnen ist, vor seinem ärgsten Feinde zu knien – und gib mir die Hand darauf, daß es also geschehe, denn du bist der letzte, der unsern Namen trägt.«

»Ja,« sagte der Kaplan, »es soll also geschehn,« und er legte die Hand in die seines Vaters.

»Und nun zu dir, Anna.«

Langsam wandte er sich zu seiner Tochter, die an einer Säule des Webstuhles lehnte. Sein Antlitz war dabei wie die gekalkte Wand geworden.

Feierlich deutete er auf die knisternde Kerze: »Ich verstecke sie nicht und brauche sie nicht zu verstecken. Dort brennt mein Stolz und meine Ehre, die Pulchersche Ehre – und ich sage dir, Anna, die hat schon gebrannt viele hundert Jahre hindurch und hat nichts verloren, weder an Glanz noch an Helle. Wie sie geleuchtet in der Dreikönigenstadt, damals, als Kaspar Christian Pulcher regierte, also hat sie bis heute geleuchtet, und ich hoffe zu Gott, sie wird leuchten bis an das Ende meiner Tage. Jetzt aber« – und er suchte nach Luft – »hat es einer gewagt, ihren Glanz zu verdunkeln. Jetzt ist einer gekommen und hat sie austreten wollen. Verstehst du das, Anna?«

»Nein, ich verstehe nicht, Vater.«

»So sage ich dir« – und der Alte umgriff die Hand seiner Tochter, als hätte sie ein Schraubstock gefaßt – »Jakob Verheyen hat sie vorgestern austreten wollen, um deinetwillen austreten wollen, denn deine Ehre ist meine Ehre, und was dir angetan wird, das wird mir angetan bis in die innersten Knochen.«

Sie sah ihn fassungslos an.

Und immer fester packte der Schraubstock: »Anna, um es mit anderen Worten zu sagen: Er hielt eine Pulcher nicht für wert und würdig genug, das Weib seines Sohnes zu werden. Aber aus den Dokumenten heraus habe ich ihm die Antwort gegeben. Wenn ein Jakob Verheyen hoch hinaus will, ein Pulcher will höher hinaus.«

Er ließ die Hand seiner Tochter fahren. Seine Augen glühten. Mit festem Ruck wandte er sich. Die Urkunden knisterten zwischen seinen Fingern. Er hob sie auf: »Gott strafe mich, wenn ich solches vergäße. Und du, Blut von meinem Blut, du weißt ja: ein solches Blut kittet zusammen.«

Seine Worte rollten wie ein schwerer Wagen über einen Knüppeldamm: »Dies meine Botschaft, und diese Botschaft legt den Riegel zwischen dich und ihn, zwischen die Verheyens und Pulchers. Nur, der Welt zu Gefallen: die Freundschaft soll bleiben.«

Die Worte verstummten. Der Wagen war weiter gekarrt. In der Küche nebenan hörte man die Heimchen geigen, so still war es mittlerweile geworden.

Und Pitt Pulcher trat näher: »Du weißt jetzt, was du zu tun hast.«

Bleich und verstört lehnte Anna am Webstuhl. »Das war die Sichel von gestern,« also ging es durch ihre wehen Gedanken. »Ja,« sagte sie tonlos, »ich weiß, was ich zu tun habe.«

Da zog er sie an sich.

Vater und Tochter standen vereint – wie zusammengenietet. Anna gehorchte, aber das Königreich ihrer Liebe stürzte in Trümmer, und ihr armes Herz ging betteln über endlose Heide. Nichts mehr, nichts mehr! – nur der Heidewind wehte kalt und fröstelnd über die Stoppeln.

 


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