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Anderen Tages spazierte Pitt Pulcher mit brennender Tonpfeife von einem Zimmer in das andere, ganz Würde und Weihe und durchdrungen von dem beglückenden Gefühl einer seligen Stimmung. Die kommenden Tage beherrschten ihn, gaben ihm Stoff zu angenehmen Betrachtungen und maßen ihm eine Fülle köstlichster Vorfreuden in reichlichster Weise zu. Aufrechten Ganges, den zerbrechlichen Stiel seiner Kalkpfeife mit dem gekrümmten Zeigefinger der linken Hand umfassend, durchlebte er jetzt schon die Einzelheiten des langsam vor ihm aufdämmernden Festes. Nichts entging ihm. Auch das kleinste nicht. Alles reihte sich bei ihm wie das Gewebe eines tadellosen Leinewandstückes aneinander.
Der A. B. Reuter duftete und schickte bläuliche Kringel nach oben, und durch diese bläulichen Kringel hindurch sah er schaukelnde Fahnen, hörte er das Knallen der Böller, sah er die herzförmigen Blätter der aufgepflanzten Maien sich im laulichen Wind bewegen. Die Leute zogen fromm und andächtig an seinem Hause vorüber. Scheu blickten sie in die Fenster hinein. Sein Geist vernahm rauschende Musik. Sie galt dem jungen Kaplan. Stephan war jetzt dem Himmel doch um so vieles näher als die anderen Menschen. Durch Laubgewinde und Ehrenpforten ging es zur Kirche. Alle sahen auf seinen Sohn, alle bewunderten seinen Sohn. Wie heilig er aussah! Die kleinen weißen Hände auf der Brust, bestieg er die Stufen des Altars. Die Tonsur auf dem Hinterhaupt leuchtete wie eine Hostie. Alles umher war mit Blumen geschmückt, mit Lilien, Rosen und Goldlack. Und die heilige Handlung setzte ein. Eine feine Klingel ertönte. So dünn ihre Stimme auch war, sie zwang die Andächtigen in die Knie und gebot ihnen, mit ihren Stirnen den Staub zu berühren.
Pitt Pulcher atmete auf.
Er setzte die Pfeife ab.
Feierliche, endlose Kirchenstille war um ihn.
Wieder ertönte das klare Stimmchen, und wieder beugten sich die Menschen und pochten mit spitzen Fingern gegen die Brust.
Die Wandlung ging vor sich.
Das große Wunder nahm seinen Anfang.
Das große Wunder war geschehn.
Durch seinen Sohn war Jesus Christus leibhaft und wahrhaft allgegenwärtig.
Und Stephan hob den Leib des Herrn mit geweihten Händen ...
Pitt Pulcher war bewegt bis in die Nieren hinein. Tausend verheißungsvolle Bilder standen über ihm ...
Er nahm seinen Rundgang wieder auf und blies frische Rauchwölkchen zur Decke.
Noch ein anderes Glück trat ihm näher.
Es war das seiner Tochter.
Ihre Liebe war wie eine köstliche Rose geworden. So schön blühte sie. Ihr junges Herz sollte bald wieder an dem des Geliebten schlagen, denn am Vorabend der Primiz wurde Hermann Verheyen aus Holland zurückerwartet, und so ging sie denn mit feiertägigen Augen umher und reihte die Stunden ihres Glückes aneinander wie wertvolle Steine. Mit gebreiteten Armen schritt sie durch ein Meer des Genießens. Noch niemals in ihrem Leben war Anna Pulcher so voller Freude gewesen, so voller Hoffnung, so mit duftenden Blumen umkleidet.
Und Pitt Pulcher fühlte das alles und sah das alles. Er sonnte sich in dem warmen Licht, das von seinen Kindern ausging.
Zwischen dem Webstuhl und dem großen Kanonenofen, der in kalten Wintertagen eine behagliche Wärme ausstrahlen, wie eine Katze miauen und wie ein alter Großvater drollige Geschichten erzählen konnte, hing in einem ovalen Rahmen die Photographie seines verstorbenen Weibes. Das Bild strömte eine zwingende Gewalt aus. Es stammte aus den besten Jahren der Frau, denn es zeigte ein Gesicht von nicht gewöhnlicher Schönheit, umrahmt von dichten Flechten, die sich oberhalb der offenen Stirne zu einer schweren Krone verflochten. Ein Madonnengesicht, und dennoch ... Wer genauer zusah, hatte das unbestimmte Gefühl: die Trägerin dieses Gesichtes gehörte zu den Stillen im Lande, und ihre Seele war keusch wie das Tafeltuch auf dem Tische des Herrn, aber: ihre Hände konnten auch dieses Tafeltuch heben, und wenn sie es hoben ... nein ...! – Diese Frau hatte stets unter Lilien gewandelt. Sie konnte nicht fehlen ... und trotzdem: obgleich gestorben – diese Frau verband Totes und Lebendiges, Vergangenheit und Gegenwart und griff noch jetzt mit unsichtbaren Händen in das Schicksal der Menschen hinein, um es freudig zu machen oder langsam absterben zu lassen.
So auch heute.
Heute lächelte sie, und Pitt Pulcher stand lange vor der schlichten Photographie, die mit einem trockenen Efeukränzchen umrahmt war.
»Mutter,« sagte er gepreßt, »du stehst im Totenbuch, aber ich denke, du wirst unter uns sein, wenn Stephan das Brot des Lebens segnet und sein Mund das Wort des Herrn verkündet.«
Mit langsamen Fingern glitt er über die dürren Blätter, nahm wieder seinen Rundgang auf und erging sich in heiteren Dingen.
Er errichtete Ehrenpforten und ließ junge Maien im Stadtwald schlagen, um damit die Straßen auszuschmücken. Er ließ Fahnen wehen und eiserne Böller auffahren, und er war gerade dabei, das Glöckchen der Sakristei ertönen zu lassen, als die Tür aufklinkte und sich ein gutes, verhutzeltes Gesicht durch die Spalte ins Zimmer schob.
Es war das Gesicht der Stina Wengels, die er nach dem Tod seines Weibes als Stundenfrau in Kost und Arbeit genommen hatte.
»Mynheer, die Herrens!« sagte sie hüstelnd. »Ich konnte sie nicht abweisen, denn sie hätten es eilig.«
»Wer ist denn da?« fragte der Alte.
»Herr Jakob Verheyen, Herr Roloffs und Herr Polizeidiener Cäsar.«
»Angtree!« nickte Pitt Pulcher und legte die Pfeife beiseite.
Gleich darauf erschienen die Angemeldeten.
»Herr Pulcher,« sagte der Küster, indem er die etwas widerspenstigen Sardellen mit angefeuchteten Fingerspitzen in Ordnung brachte, »wenn es erlaubt ist zu reden, so möchten wir ganz submissest bemerken: wir kommen im Auftrag Seiner Hochwürden des Herrn Dechanten.«
Pitt Pulcher wußte diese Ehre zu schätzen.
Herr Roloffs fuhr fort: »In Anbetracht des bevorstehenden Festes, in Anbetracht ferner, daß der Herr Primiziant dem Hause Pulcher entstammen, somit als ein Kind hiesigen Kirchspiels zu betrachten ist, sind Seine Hochwürden der Meinung, das Fest so solenn wie nur eben möglich auszugestalten. Daher ist vorgesehen: besondere Ausschmückung des Hochaltares, Legen von Teppichen von der Firma Lewen & Wahlen und Begrüßung durch weißgekleidete Mädchen. Da aber Hochwürden den einfachen Sinn des Hauses Pulcher zu kennen geruhen, so möchten wir uns zuvor die ergebene Frage gestatten, ob hierdurch dem Herrn Vater und dem Herrn Primizianten gedient ist?«
Bei diesen Worten duftete es nach Weihrauch und Myrrhen.
»Herr Roloffs,« versetzte der Alte, »mein Sohn Stephan ist von jeher ein bescheidener Knabe und rücksichtsvoller Jüngling gewesen. Und so ist es bis heute geblieben. Aber geschrieben steht: Wer sich erniedrigt, der soll erhöhet werden ... und daher, Herr Roloffs, ich sage ja und Amen dazu, und es wäre mir eine herzerquickende Freude, wenn es also geschähe.«
Der Küster ließ die schweren Augendeckel herunter.
»Wir werden dafür Sorge tragen, Herr Pulcher.«
»Herr Pulcher,« und der Herr Polizeidiener Servatius Cäsar, ein kleiner, viver Mann mit Schnupftabaksfängern unter der Nase, zog ein abgegriffenes Notizbuch zwischen dem zweiten und dritten Knopf seines Rockes hervor und tupfte mit dem Bleistift auf die aufgeschlagenen Blätter, »Herr Pulcher, laut Beschluß der Herren Stadtverordneten wurde folgende Resonation einstimmig angenommen. Erstens: von die Kirche bis zu Ihrem Hause wird 'ne sogenannte triumphische Pforte errichtet. Die Birken hierzu werden für gratis geliefert. Zweitens: alle Bürgers, die sich in Nutznießung einer Fahne befinden, haben dieselbige zwei Tage lang 'raushängen zu lassen. Drittens, Herr Pulcher: am Vorabend des Festes, und zwar Schlag Klock neun Uhr, sind vor dem Denkmal des Herrn General Friedrich Wilhelm von Seydlitz unsere drei eisernen Böllers sechsmal hintereinander abzuknallen. Macht achtzehn Schüsse zusammen. Dasselbe hat am Tage selbst zu erfolgen, und zwar morgens um acht, mittags um zwölf und abends um sieben. Bedienung, Proppen und Pulver, alles für gratis. Soweit die Resonation der Herren Stadtverordneten, die ich hiermit vermelde. Ich gratuliere. So was ist noch nie dagewesen in Calkar.«
»Ich danke Ihnen, Herr Cäsar, ich danke dem Herrn Bürgermeister, ich danke den Herren Stadtverordneten.«
Er war sichtlich bewegt.
»Nichts zu danken,« winkte der Herr Polizeidiener ab, »aber ich bitte Ihnen, während der Festivität an mich zu denken, Herr Pulcher. Ich meine, wenn so die Bierbouteillen ... und dann die Bedienung ... ich dächte: da könnte so 'ne polizeiliche Aufsicht nicht schaden. Und daher möchte ich mir empfohlen halten, Herr Pulcher.«
Der Alte nickte.
»Schön,« sagte der Polizeidiener Cäsar, »ich habe die Ehre.«
Der Alte wollte noch etwas erwidern, fühlte aber zwei durchdringende Augen auf sich gerichtet.
»Nu komm' ich an die Reihe,« sagte Jakob Verheyen und fuhr sich mit der Rechten durch den graumelierten Spitzbart. »Pitt, wir sind seit vielen Jahren gute Freunde gewesen. Der Altersunterschied hat dabei nichts auseinandergerüttelt. Immer geradeaus. Immer zusammen. Und wenn die Gespanne mal so'n bißchen ausschlagen wollten, dann hieß das: Kalt Blut und warm angezogen. Du befindest dich in guten Heften, und ich selber bin an 'ne tüchtige Krippe gekommen. Wenn's mir opulenter im Leben ergangen hat, so ist das bloßer Zufall gewesen. Und darum und deshalb ... Pitt, ich bitte dich, nimm's mir nicht übel, aber die Primiz ist eine Freude für alle. Die Kirche gibt, die Stadtverordneten haben in den Beutel gegriffen, die ganze Stadt macht sich 'ne Ehre daraus, das Fest so schön wie möglich herzurichten, und darum nehme ich für meine Person das Recht in Anspruch, das Primizessen auf meine Kosten zu stellen. Ablehnung gibt's nicht. Ich habe schon mit Dores Küppers gesprochen.«
Pitt Pulcher machte eine abwehrende Handbewegung: »Jakob, das kann ich nicht für voll estimieren.«
»Ja, das kannst du wohl.«
»Aber natürlich!« pflichteten die beiden anderen zu.
»Warum nicht?«
Jakob Verheyen war dicht an seine Seite getreten.
Schulter an Schulter standen die beiden, gleichwertig an Größe, gleichwertig in ihren zähen Gedanken – nur: das Gesicht Pitt Pulchers war heilig, wenn auch eckig und wie aus einem Holzstock gemeißelt, während das Jakob Verheyens an die markanten, aber unheimlich wirkenden Züge eines Falken erinnerte.
Das Gelbe in seinen Augen zeigte sich stärker.
Er griff nach der Hand seines Freundes.
»Pitt,« sagte er mit einem bittenden Klang in der Stimme, »laß mir die Freude. Die darfst du mir nicht nehmen. Das geht nicht. Das geht absolut nicht, denn was ich zu tun gedenke, das kommt aus dem Herzen heraus. Das geschieht dir zuliebe und deinem Hause zuliebe – und dann, Pitt, im Angedenken an die ... an dein Weib ...«
Die letzten Worte hatten einen weichen Anflug. Sie kamen aus übervoller Brust, so bewegt klangen sie und doch so versöhnend und gütig.
Langsam wandte er den Kopf, und seine Blicke hafteten an der mit Efeu umkränzten Photographie der Verblichenen.
Der Alte legte ihm die Hand auf die Schulter: »Jakob, wenn es deshalb ist ...«
Der starke Mann hatte Tränen im Auge, Tränen des Glückes.
»Ja, Pitt, so und nicht anders. Also abgemacht?«
»Abgemacht, Jakob.«
»Bravo!« fielen der Küster und der Polizeidiener ein, hielten den jetzigen Standpunkt für den allein richtigen und gangbaren, wünschten frohe Feiertage und empfahlen sich hierauf mit Jakob Verheyen.
Pitt Pulcher setzte seine Pfeife wieder in Brand und trat ans Fenster.
Er wähnte die drei schon außerhalb des Hauses. Aber nur zwei schritten über den Kirchplatz, winkten ihm noch einmal zu und verschwanden in der zunächst gelegenen Gasse.
Der Einsame durchkostete das soeben Durchlebte noch einmal. Er schmunzelte, denn er hielt das Glück seines Hauses bis zu den Sparren gesichert. Er verglich es mit einer mächtigen Fichte. Und diese Fichte stand draußen an der niedrigen Berglehne, die sich über Marienbaum nach Xanten erstreckte. Oftmals hatte er mit seinem Weib unter den harzigen Nadeln gesessen, während die Welt einschlief und ein duftiger Heugeruch von den nahen Wiesen herüberwehte. Kerzengerade, wie eine gotische Säule in der Sankt Nikolaikirche, stieg sie auf, und sie rauschte ihm zu, als säße ein Psalmist in den Zweigen und schlüge die Harfe zum Preise des Schöpfers Himmels und der Erden.
Dieser Baum war sein Eigentum. Er hatte ihn vor Jahren mit einer kleinen Buschparzelle erstanden, hatte eine Bank darunter errichtet und konnte jetzt an warmen Abenden dort sinnen und träumen.
Dieser Baum schwebte ihm vor. Also war sein Glück bestellt, so wetterstark und so rank in den Himmel gewachsen. Und wie es den Boden umkrallte! Wie eine mächtige Tatze schnürte sich sein Wurzelwerk um Gestein und Erdreich.
»Wie das hier,« sagte Pitt Pulcher, und er streckte die knochige Hand und ballte sie zur Faust, daß oberhalb des Gelenkes die Sehnen aufsprangen.
»Ja, wie das hier,« und wieder sah er durch die blanken Scheiben auf den Kirchplatz.
Jetzt bemerkte er erst: Draußen waren die Leute beschäftigt. Am Südportal der Kirche wurden lange Hölzer gestapelt und rohe Bretter zugebracht. Dores Jansen und Thyß leiteten die Arbeit. Hier schien die Ehrenpforte errichtet zu werden. Also durch diese mußte Stephan hindurch, um das Wunder des heiligen Altarsakramentes zu bewirken. Ja, durch diese Ehrenpforte mußte Stephan hindurch, gesenkten Hauptes, mit niedergeschlagenen Augen, von Maien umstanden und von frischgeschnittenen Blumen umduftet ... und Kirchenfahnen wehten, und Weihrauch und Myrrhen nahmen die Sinne gefangen, und hoch im Blauen stand eine silberweiße Taube ... die senkte sich tiefer ... die trug himmlisches Licht auf den Schwingen und brachte es zu den gläubigen Menschen ...
»Der Heilige Geist,« sagte Pitt Pulcher, und er hörte nicht mehr und sah nicht mehr.
Er bemerkte nicht, was in seiner Nähe vorging.
Drei Männer hatten kurz zuvor sein Haus betreten, aber nur zwei waren gegangen.
Der dritte stand noch immer hinter ihm – zwischen Tür und Angel. Unauffällig trat er vor.
»Pitt!« sagte er leise.
Der Alte wurde aus seinen Träumen gerissen.
»Was, du ...?!« fragte er hastig. »Was soll's denn noch, Jakob?«
Jakob Verheyen kam näher, etwas betreten und mit einem verlegenen Lächeln um die Mundecken.
»Sieh mal, Pitt,« und er versuchte es, einen jovialen Ton anzuschlagen, »ich möchte mal als Mann 'nen Ton mit dir reden.«
»Ich dächte doch, wir hätten schon vorher als Männer gesprochen.«
»Das stimmt schon, und was da geredet wurde, das kann nicht von der Bahn gekegelt werden. Aber Roloffs und Cäsar waren dabei ... und es gibt doch Dinge im menschlichen Leben, bei denen heißt es: Stirn gegen Stirn und Auge in Auge.«
»Schon richtig.«
»Und da habe ich mir gedacht: heute ist die rechte Stunde gekommen. Immer ehrlich und offen, das ist immer mein Grundsatz gewesen. Das weißt du ja selber.«
»Jakob, das weiß ich.«
»Na, drum bin ich hier, um alles ins gleiche zu bringen – dir und deiner Familie zuliebe und mir und meiner Familie zuliebe.«
»So rede man, Jakob.«
»Und nichts für ungut?«
»Aber warum denn? Man frisch von der Leber herunter.«
»Na, denn,« sagte Verheyen, und für eine Augenblicksspanne stoppte er ab, um seine Gedanken zu sammeln. Dann sprach er weiter: »Es ist 'ne alte Erfahrung: Gottes Wind mahlt, aber Gottes Wind hält auch öfters den Atem an. Das geniert die meisten nicht und inkommodiert keinen Gelehrten und keinen Handwerker, aber den Müller geniert es. Denn wenn Gottes Wind den Atem anhält, dann hängen die Segel schlapp, die Mahlsteine tun's nicht mehr und die Korntrichter bringen das Korn nicht herunter. Mit andern Worten, Jakob: in diesem Falle können wir der Arbeit und dem Profit nachpfeifen, und darum: wer sich selber nicht hilft, dem hilft kein Gebet mehr, dem hilft Gott nicht mehr, dem helfen die Menschen nicht mehr. Der bleibt stehn, wo er steht, und wundert sich schließlich, daß er mitten im Sumpf ist. Ich aber bleibe nicht stehn. Ich will höher hinaus. Das kann mir keiner verübeln – und daher habe ich mir gesagt: Setze neben die Windmühle noch 'ne Dampfmühle hin, dann kann's nicht fehlschlagen, dann kann's mir egal sein, ob der Wind weht oder nicht. So bin ich mein eigener Herr und brauche nicht auf Gottes Laune zu warten. Kurzum, ich habe was Großes vor, und wie du selber weißt, gehen die Projekte schon in die Ziegelsteine hinein.«
»Jakob, das weiß ich.«
»Und dabei noch die Guanoschuppen ...! – Ich muß aus der Enge. Ich will mitsprechen können. Das Kleinliche behagt mir nicht. Es liegt mir nicht mehr. Wer immer hinter dem Ochsengespann hertrampelt, der bleibt eben ein Ochsentreiber. Will er aus dem Ochsentreiben heraus, so hat er mit dem Dampfpflug zu schaffen. So auch ich mit meinem Geschäft. Dafür sind Gelder aufzubringen. Ich kann es allein nicht, 'nen kapitalkräftigen Mann habe ich nötig, und der ist gefunden. Ich selber bin ja so leidlich in 'ner guten Assiette. Aber doppelt hält besser, hier müssen Familienbeziehungen helfen. Mein Hermann kommt morgen zurück – und dann heißt das: frisch an die Ramme; wir haben keine Zeit zu verlieren. Je eher, je besser.«
»Kann's versteh«,« meinte der Alte. »Wir freuen uns alle darüber.«
»Pitt, das ist es ja eben.«
Der Alte horchte auf.
»Ich begreife so recht nicht,« sagte er nachdenklich.
»Na, ich meine, das mit Anna und Hermann.«
»Man keine Sorge. Meine Tochter hat auch was in die Suppe zu brocken, und wenn es sein muß: manch einer ist gerne bereit, mir und meiner Tochter mit 'nem Kapital unter die Arme zu greifen.«
Jakob Verheyen schüttelte den Kopf: »Pitt, das tut es allein nicht.«
»Wie, das tut es allein nicht? Was tut es denn, Jakob?«
Pitt Pulcher wurde unruhig. Er streifte Verheyen mit einem sondierenden Blick. Unter seinen eisgrauen Brauen begann es zu flackern: »Ich meine, was tut es denn, Jakob?«
Jakob Verheyen ging etliche Schritte auf und nieder, hastig, ohne Ziel und Zweck, wie ein eingekäfigtes Tier hinter den Stäben. Eine tiefe Blässe kroch bis in die Schläfen hinein.
Dann blieb er stehn.
»Das ist nicht so einfach zu sagen.«
»Wo wir Mann gegen Mann stehn, Stirn gegen Stirn und Auge in Auge?« fragte Pitt Pulcher. »Ich dächte doch, du hättest diese Stunde gewünscht. Es ist doch dein freier Wille gewesen.«
»Und ist es auch jetzt noch,« bestätigte Jakob Verheyen. »Aber was ich zu sagen habe, das will schwer durch die Zähne hindurch. So was will überlegt sein, aus Freundschaft heraus überlegt sein, denn es handelt sich eben um Anna, und da muß ich sagen ...«
Der Alte unterbrach ihn.
»Halt!« sagte er mit befehlender Ruhe. »Bevor du weiter redest, überlege genau, was du redest. Jakob, verstehe mich richtig ... Laß dir Zeit, damit jedes Wort richtig placiert wird ... Ich meine nur, Jakob ... Du bist im Begriff, von meiner Tochter zu sprechen, von Anna zu sprechen, und da muß ich dir sagen: die ist mir von jeher heilig gewesen, so heilig, wie mir irgendein Menschenkind nur sein kann ... Heiliger ist mir selbst das Tabernakel in der Kirche nicht. Das wollte ich nur eben bemerken, und nun, wenn du alles überlegt hast, dann: was hat es für 'ne Bewandtnis mit meiner Tochter? Ich meine man, Jakob.«
Jedes Wort war wie aus dem Feuer herausgeholt, wie auf dem Amboß geschmiedet.
»Pitt, nur Ruhe, immer nur Ruhe! – Ich versteh' dich vollkommen, aber ich verstehe mich auch. Ich weiß zu schätzen, was man mir anpräsentiert; aber ich weiß auch ...«
»Jakob, anpräsentieren ...?!«
»Nimm es nicht wörtlich. Das war anders gedacht. Das sollte besser ausgedrückt werden; aber ich kann mir nicht helfen: meine Pläne vertragen zurzeit keine Heirat zwischen Anna und Hermann.«
Also – das war es.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es plötzlich geworden.
Der Alte ging rückwärts. Mit beiden Händen umgriff er eine Stuhllehne, die ihm in den Weg kam. Dann beugte er den Oberkörper zurück, das Gesicht gegen die Decke gerichtet. Die schweren Lider fielen über die Augen wie Strohdächer.
Er schien auf ferne Geräusche zu hören. Sie gaben sich unbestimmt, dann deutlicher und schärfer umrissen. Dann hörte er sie, als wenn sie neben ihm wären. Das war es ja. Er hörte das Sausen der Mühle, das laute Klatschen der Windsegel, das Quietschen und Ächzen der schweren Flügelwelle.
Er riß die Blicke auf.
Ihm war es, als stände das Unglück neben ihm, als wäre es von der Mühle gekommen.
Und wenn es ihm auch nur so war, ja: das Unglück wollte von der Mühle herunter.
Ein trockenes Lachen erschütterte seinen Körper. Er nahm wieder die Pfeife und steckte sie kalt in den Mund.
»Also, Jakob, deine Projekte vertragen zurzeit keine Heirat zwischen Anna und Hermann?«
Er trat näher heran. Jetzt wieder Herr über sich selber: »Jakob, das wird seine Richtigkeit haben.«
Er überlegte.
»Aber wann vertragen sie's denn?« fragte er eisig. »Nun mal präzise und ohne ›Wenns und Abers‹ gesprochen.«
Jakob Verheyen riß sich zusammen. Der gelbe Fleck in seinen Augen vergrößerte sich.
»Ich glaube, Pitt, sie vertragen es niemals.«
»Niemals ...?!«
Der Alte verfärbte sich: »Ich verstehe doch richtig?«
Verheyen nickte.
»Schön denn,« sagte Pitt Pulcher. »Das ist doch ehrlich gesprochen, aufrichtig und ehrlich. So was kann man gebrauchen im Leben. Jetzt weiß ich doch, wo ich dran bin. Jetzt weiß ich doch: man soll keine Hoffnung aufpäppeln und ihr noch dazu die Flügel vergolden. Eher ihr noch den Nacken umknicken – das soll man. Aber ich weiß auch: das Herz meiner Tochter wird erbarmungslos vor die Hunde geworfen ... Das steht nun mal fest wie das Kreuz auf dem Kalvarienberg. Bitte, unterbrich mich nicht. Lasse mich ausreden, Jakob ... Da kannst du nicht dafür und ich nicht dafür. Da können nur die Projekte dafür, denn solche Projekte sind von jeher über Menschenherzen gegangen ...«
»Ich ersuche dich, Pitt ...«
Der Alte machte einen herrischen Strich durch die Luft: »Ich glaube, hier ist nichts zu ersuchen.«
Er packte die Kalkpfeife, zerbrach den Stiel in einzelne Stücke und ließ sie auf den Boden fallen.
»So was ist ekelhaft, Jakob. Das ist um die Kränke zu kriegen.«
Mit beiden Händen fuhr er sich an die Halsbinde, als müsse er sich Luft schaffen.
»Ekelhaft sage ich dir. Und dann, Jakob: das sogenannte Kapital tut es allein nicht. Das seh' ich dir an. Das steht auf deiner Stirn geschrieben. Du willst höher hinaus. Ja, du willst höher hinaus. Verheyen ist eine bessere Nummer wie Pulcher – das meinst du. Du willst dich nobeler machen. Möglich, du hast deine Gründe, möglich, auch nicht. Und wenn du sie hast: ich bin der letzte, der gewillt ist, sie über den Haufen zu stoßen. So wahr mir Gott helfe! Aber das sag' ich dir, Jakob ...«
Und seine Stimme kam ins Rollen wie die angestauten Wasser in einem aufgezogenen Schleusenwerk.
Stirn gegen Stirn standen die beiden.
Zwei harte Herzen hämmerten gegen die Rippen.
Hier – der Alte, der Bibelfeste, der Prophet, dessen Geist die Zeit seiner Vordern umspannte, als wären sie erst gestern gewesen, und neben ihm Jakob Verheyen, der Mehl- und Guanohändler, der Mann, der höher hinauswollte und Sturm lief gegen Dinge, von denen er in diesem Augenblick so recht nicht wußte, weshalb er gegen sie anlief.
»Jakob ...!«
Und wieder kam die Stimme Pitt Pulchers ins Rollen: »Ich sage dir, Jakob – wir Pulchers sind auf einem andern Grund und Boden gewachsen wie die Verheyens. Als Anne-Susanne noch nicht geboren war und noch keine Zunge hatte, da hatten wir, die Pulchers, schon eine mächtige Stimme. Und das ist vor dreizehnhundertzweiundsiebzig gewesen. Da saß Kaspar Christian Pulcher als Ältermann auf dem Hochsitz der kölnischen Weber. Da ging unser Name über das Meer, das gegen Norden und Westen liegt. Da waren wir den Engländern über, denn unsere Ware schlug die von den anderen Menschen doppelt und dreifach. Da stand Kaspar Christian Pulcher mit freier Stirn vor Kaiser und König und sagte dem hohen Rat auf und sagte den Geschlechterherren auf – und ließ das Banner der Weber und Tucher fliegen – und ließ die Webertrommel schlagen ... Zwei Tage hindurch stand das Blut in den Gassen von Köln, zwei Tage hindurch führte der Rhein am linken Ufer eine blutige Rinne, zwei Tage floß sie ... Bis Neuß hinunter war ihre Spur zu verfolgen ... Es war kein glücklicher Tag für uns, aber ein Kaspar Christian Pulcher hat ihn gefärbt, ihn und den Rheinstrom. Das Blut, das damals in Köln vergossen wurde, um für Recht und Freiheit zu kämpfen, dasselbe Blut ist noch heute in den Adern der Pulcher.«
Mit der Rechten schlug er auf seine Brust: »Und ich bin ein Pulcher. Jakob, na – und ihr, die Verheyens ...?! Wenn ein Jakob Verheyen hoch hinauswill, ein Pitt Pulcher will höher hinaus. Das laß dir hiermit gesagt sein. Und damit ... Aus alter Freundschaft heraus nahm ich vorhin dein Angebot an. Meinetwegen: die Freundschaft soll bleiben, aber das Angebot wird hiermit gestrichen. Wem meine Tochter nicht gut genug ist, dessen Hand darf für meinen Sohn auch nichts schenken. Im übrigen, Jakob, bleibt alles beim alten. Und jetzt ... verschone mich, Jakob.«
Er trat wieder ans Fenster.
Als er sich wandte, hatte Jakob Verheyen das Zimmer verlassen.
»Gut,« sagte der Alte, »nun weiß ich, was ich habe. Aber das ist gewiß: ich will die Primiz nicht stören. Erst nach der Feier sollen sie alles erfahren.«
Er streckte den Arm. Er stierte in die leere Handfläche.
»Nichts!« sagte er mit grimmigem Ton in der Stimme, »und doch viel.«
Dann warf er sich auf einen Stuhl, stützte den Kopf auf und bohrte den Blick in die Dielen.