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13

Der Schnee schmolz hinweg. Er schrumpfelte ein und klatschte von den Bäumen herunter.

Die umbrochenen Acker dampften.

Die lichte Wintersaat kam wieder zum Vorschein.

Man dachte schon daran, eine grüne Weihnacht zu feiern, so warm war es mittlerweile geworden, so dunstig wie in einem laulichen Schafstall.

Die Jahreszeit ließ die straffen Ohren hängen, machte ein vergrämeltes Gesicht und stöberte die Krähenvögel auf, die ihren grindigen Schnabel in das mulmige Erdreich stießen, um nach Engerlingen und anderen Wühlern zu graben.

Aber nicht lange währte ihr emsiges Schmausen.

Abermals blies ein frischer Wind das verschlagene Wetter über den Strom hin. Die Luft war sichtig, klar und schneidend geworden. Man sah über den blauen Reichswald fort bis weit nach Holland hinein.

Im letzten Drittel des Monats begann es wieder zu frieren, sacht und flockig von der ehernen Kuppel zu pendeln. Auf dem Rhein kamen mächtige Sahnetorten geschwommen. In bangen Nächten hörten die Anwohner ein ständiges Mahlen und Malmen, ein Knistern und Knirschen. Dunkle Vögel machten die Fahrt mit, plusterten sich und trieben auf den Schollen stromabwärts.

Die Schiffahrt ruhte. Die kleinen Rheinhafen lagen angestaut voll. Nur dann und wann versuchte es ein Steamer, mit prustender Rauchstandarte und lärmenden Schaufeln gegen die mit Eisblöcken verbarrikadierte Strömung zu kämpfen. Es war ein hartes Stück Arbeit, das sich kaum noch verlohnte.

Überhaupt – manches lohnte sich nicht.

Besonders nicht das Regiment, das sich Peternell auf dem Hof zu Emmericher Eiland mit der Zeit angeeignet hatte. Sie, die es in früheren Jahren, wenn auch zuerst ohne tugendwidrige Absichten, verstanden hatte, die Sinne des jungen Mannes aufzukeschern, trieb es jetzt mit der Anmaßung und Verschlagenheit eines geriebenen Weibes. Die dralle Brust, das verlockende Gangwerk, dazu ihr Taubenlachen und die schamlose Kunst, sich als unentbehrlich hinzustellen – alles das boten ihr Mittel und Wege, sich immer mehr als Herrin zu fühlen und das ganze Gewese nach ihren Launen tanzen zu lassen. Ihr unermüdliches Mundwerk, ihr Locken und Girren und schließlich die Abfuhr, die ihr Freund und Gönner auf dem Knollenkamp hatte erdulden müssen, genügte, sie vom Strohsack auf die weichen Plumiten eines gediegenen Himmelbettes zu tragen. Mit diesem Augenblick war ihrem heißesten Verlangen Genüge geschehen. Vierzehn Tage reichten vollkommen aus, ihr das Zepter in die unersättlichen Finger zu drücken. Sie gefiel sich darin, Arme und Beine zu rekeln und bis spät in den Morgen zu träumen. Nicht dieses allein. Auch die erste Putzmamsell, Klärchen Schweißgut in Kleve, hatte nicht Hände genug, diesen sündigen Leib in Bielefelder Hemden und neumodische Stoffe zu kleiden. Das mußte auffallen. Auch bei den weltabgekehrten und besonnenen Leuten. Selbst der Pastor von Huisberden, im allgemeinen ein jovialer und wohlwollender Mann, ein Abraham a Santa Clara in Duodez-Ausgabe, räusperte sich ob ihres Benehmens und legte dieserhalb die Stirne in bedenkliche Falten. Er schauderte. Nein, diese Peternell! und als sie eines Tages seidensteif ins Hochamt hineinknisterte, gleichzeitig mit ihrer hinteren Anmut wie ein verliebtes Perlhuhn wackelte, da verlor der geistliche Herr alle Besinnung, schlug mit derber Hand auf die Brüstung und predigte von der Kanzel herunter: »Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinen verkündet. Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem verborgenen Manna. Aber wer nicht überwindet, dem wird eingeheizt mit Steinkohlen aus dem höllischen Feuer. O diese Trübsal! Meine Augen gehen über, wenn sie es sehen; mein Herz blutet im Anblick dieses leuchtenden Unrats. Ich fühle: dem österlichen Jesulein fröstelt, denn das Weib ist bekleidet mit Scharlach und Rosinfarbe, ist übergoldet mit dem Golde von Ophir, mit Edelsteinen und Perlen, und trägt einen Becher in der Hand, voll von Greuel und Unsauberkeit ihres gottlosen Daseins. Wer daraus trinkt, der trinkt sich um Heil und Seligkeit, um die Gnade des ewigen Lebens. Pfui und Ekel und Schande darüber!«

Dann heimlich, mit Rücksicht auf den Patronatsherrn der Kirchengemeinde: »So geht das nicht weiter. Wer kann da noch vor seinem Gewissen, vor sich selber bestehen? Meine Langmut währt ewig. Gewiß, aber ähnlichen Dingen muß ein Ziel gesetzt werden. Sie dürfen sich nicht in die Länge ziehen wie die Strumpfbänder einer unsauberen Köchin. Alles was recht ist: Cornelis, du hast immer tapfer gebetet, kasteit und gesungen. Dem Klingelbeutel führtest du zu, was der Klingelbeutel verlangte. Die dickste Prozessionskerze war stets in deinen Händen zu finden, dito ein Rosenkranz von ganz besonderer Güte: Silber und Pockholz. Aber dieses, o du barmherziger Jesus ...! Tut Buße! Per crucem ad lucem!«

Noch einen schmerzlichen Blick warf er auf das Weib, bekleidet mit Scharlach und Rosinfarbe, schüttelte das wehe Haupt und verließ wieder die Kanzel.

Die dicke Peternell vom Emmericher Eiland scherte sich den Kuckuck um das Pastorale Gerede.

Nachdem das Ite missa, gesprochen, das letzte Klingelzeichen verhallt und der Küster erschienen war, um den Kerzen das Stülphütchen über die Ohren zu ziehen, rauschte sie aus dem Tempel heraus, als wäre gar nichts geschehen.

Sie fühlte sich sicherer im Sattel als früher.

Daß die Speziestaler rund waren, hatte sie vollauf begriffen.

Mochten sie rollen, und wie Cornelis auch wetterte und längst schon bereute, das üppige Weib erhöht und erhoben zu haben, das Heft war ihm aus den Händen gewunden, die Autorität ihm auf seinem eigenen Grund und Boden abhanden gekommen.

Sie regierte und verausgabte, wo er zu befehlen und zu sparen gedachte.

Alles bangte vor ihr.

Die einstige Melkmagd war die Drangsal des Hofes geworden.

Die Mägde schwänzte sie hoch, die Knechte zitterten vor ihr.

Nur einer nicht.

Das war der erste Pflugknecht, ein junger Kerl von sehnigem Körper, blondhaarig, drähtig, mit brutaler niedriger Stirn, fähig, einen wütigen Bullen an die Raufe zu zwingen.

Er tat, was ihm gutdünkte, und sprach, was er wollte.

Sie achtete nicht darauf und ließ ihn gewähren.

Aber dieses, o du barmherziger Jesus ...!

Cornelis schien Lunte zu riechen, und eines frühen Morgens, wo man die Finsternis noch mit Messern durchschneiden konnte, alles noch schlief, selbst die Gäule noch dumpf und stumpf zwischen den Latierbäumen standen, gewahrte er, daß die Kissen neben ihm behaglich warm, aber leer waren.

Er rieb sich die Augendeckel, fuhr in Hosen und Stiefel. Wirbelsinnig tastete er lange herum. Schließlich geriet ihm das Gesuchte zwischen die Finger. Mit brennendem Streichholz leuchtete er Schlafzimmer und Nebengemach ab: von Peternell nichts zu sehen.

Das zweite und dritte Streichholz geisterte durch die Küche und dann über den Hausflur: aber auch hier nicht die ländliche Unschuld in der rosigen Venusmuschel.

Das vierte! unter hochgradigen Gruselzuständen flammte es auf.

Da sah er: die Haustür stand offen. Kein Zweifel, durch diese hatte sie ihr allzu verlangendes Blut in andermanns Arme getragen.

Eine grenzenlose Wut kam über Cornelis. Seine Kinnladen schnatterten. Kreuz und Gewitter! hätte er 'ne Prozessionsfahne im Hause gehabt – ohne Mitleid hätte er sie dieser herumschweifenden Hündin über den Schädel getrieben.

Er verlästerte alle Gebräuche und Heilswahrheiten der Kirche. Der fromme Mann war rein des Satans geworden.

Aber bloß Ruhe. Das Personal durfte nicht aufgeweckt werden.

Mit Stielaugen, den Wettermantel übergeworfen, schlich er ihr nach, listig, in gemäßigtem Tempo, und hatte das Glück oder Unglück, sie aus der Kammer des Pflugknechts kommen zu sehen.

Ein Griff, und mit roher Gewalt fühlte sie sich vorwärts gerissen, die Treppe hinauf, in das eigene Schlafgemach.

Hier angekommen, schleuderte er sie in eine verlorene Ecke.

Dann machte er Licht an.

Nur halb bekleidet, den Nacken bloß, ein Stück ihres Leibchens sperrangelweit offen, glitt sie steil in die Höhe.

Ihre Augen flackerten.

»Wo warst du?« fuhr er sie an.

»Da draußen.«

»Das weiß ich. Aber bei wem denn?«

»Bei den Mägden. Die Frauenzimmer verschlafen das Melken.«

»Weibsbild, verfluchtes, wo ich mit eigenen Augen ...«

Er drang auf sie ein.

Der grobknochige Mensch hob drohend die Fauste.

Auf seinen Lippen standen Schaum, Geifer, Entsetzen.

»Rühr' mich nicht an – du!«

»Bekenne, oder du wirst in die Pfanne gehauen.«

»Ich habe nichts zu bekennen.«

»Und bist nicht bei dem Hannak da drüben gewesen?«

»Und wenn es so wäre? Bin ich dir denn mit Fleisch und Seele verpflichtet? Sind wir kopuliert? Hab' ich dir ewige Treue geschworen? Was willst du?«

Sie hatte wieder Oberwasser, fühlte Grund unter den Füßen.

Sie riß ihr Hemd auseinander, weit auseinander, daß ihre derben Formen sich zeigten.

»Das alles ist mein, und wem ich es anbiete, das mußt du schon mir überlassen.«

Triumphierend stand sie vor ihm.

Die ganze Person hüllte sich in Frechheit und Hoheit.

Er glaubte nicht richtig zu hören, nicht richtig zu sehen.

Ein purpurner Nebel glitt an seinen Blicken vorüber.

Von seinem gekniffenen Munde träufte der Geifer.

Also Revolte, ein Pronunziamento in seinem gediegenen Hause!

Seine Blicke krochen am Boden, waren wie verprügelte Tiere.

»Du!« keuchte er auf, während er langsam heranschlich, die Finger krampfte und seine rotunterlaufenen Pupillen widerwillig an ihrem Leibe emporkletterten, »aus Dreck und Schmutz hab' ich dich gezogen, dich erst zum Menschen gemacht, meine Hände unter deinen Kadaver geschoben, aus christlicher Nächstenliebe deine Tage erheitert ...«

»Was?!«

Ein gellendes Gelächter schlug ihm entgegen.

»Ja, du – um Gottes Barmherzigkeit wegen hab' ich dich erhöht und erhoben, deine Blöße bedeckt, dich aus der Enge des Alltags geführt, dir mein eigenes Zimmer verstattet ...«

»Und das alles um Gottes Barmherzigkeit wegen? Laß dich auslachen, Mann!«

Sie verschränkte die Arme, lästerte ihm ins Gesicht.

Sie trat ihm entgegen.

»Nein – nur um meinetwillen, um das hier, du Viechskerl!«

Da war's aus mit ihm.

Seine Stielaugen traten noch mehr aus den Höhlen, perlmutterten wie die eines Schellfischs.

Ein dumpfer Schrei – und mit gestreckten Fäusten hatte er sich über die lachende Dirne geworfen.

Er umschlang ihren Hals, wühlte in dem üppigen Fleisch, rüttelte und schüttelte sie und schrie ihr die Worte zu: »Bekenne! Gesteh«! Bist du nicht in der mistigen Kammer gewesen? Hast du's nicht mit dem Hund von Pflugknecht gehalten? Ja oder nein? Rede, oder ich würge dich, drücke dir die Kehle zusammen.«

Die Finger begannen zu schnüren, die Lippen zu ächzen: »Confiteor Deo omnipotenti, beatae Mariae semper virgini ... mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!«

Da stieß sie ihn von sich, gerade vor die Stirne.

»Du Flegel! Ich tu', was ich will; denn Mannskerl ist Mannskerl!«

»Herunter vom Hof! Die Peitsche, die Peitsche! Da ist die Tür!«

Er machte abermals Miene, sich auf sie zu werfen.

»Wag's nur! Versuch' es! dann aber: in drei Tagen stehen wir beide vor dem Friedensrichter in Kleve.«

Das saß, als wäre ihm ein Axthieb zwischen die Schläfen gefahren.

»Was – du?!«

»Vor dem Friedensrichter in Kleve. Ich rufe Stäwe Donsbrügge und den Knollenkamp gegen dich auf, und dann wollen wir sehen, ob du noch sagen kannst: Meine Schwurfinger sind keine Meineidfinger gewesen.«

Er taumelte rücklings, mußte sich an einem Bettpfosten halten.

Mit toten Augen begegnete er ihren hämischen Blicken.

Sie hatte keine Eile.

Ruhig zog sie das herabgeglittene Hemd über ihre nackten Schultern, nestelte die Bänder ihres Rockes zurecht und fragte, indem sie den rechten Arm emporhob und zwei Finger streckte: »Also was willst du? Klinkst du mich aus, oder hab' ich weiter zu bleiben? Es ist mir alles Hose wie Jacke. Ich tu', was du vorhast.«

Er fröstelte bis in die Nieren hinein. Die Hand, mit der er seiner Zeit dem bedrängten Stäwe einen Gefallen erwiesen, wurde eisig und bleiern ... und die eifrige Seele, die immer fehlte, wenn es galt, dem König zu geben, was des Königs, aber allzeit dabei war, wenn die Bettelbüchse mobil machte, um den Kindern der verschnapsten Südseeinsulaner die Feigenblätter christkatholischer Keuschheit zu verstatten oder den Abaten aus dem gesegneten Lande, wo die Zitronen blühen, das faule Leben noch fauler zu gestalten ... ach! diese frömmelnde Seele sackte zusammen gleich einem von Ratzen angeschroteten Kornsack und stammelte: »Ich glaube, Peternell, es wäre schon besser ...«

»Natürlich wär's besser. Dann ist uns beiden geholfen. Also – ich bleibe?«

»Ja, bleibe.«

»Aber nur dann,« setzte sie unflätig hinzu, »wenn auch Jans-Kasper da drüben ...«

»Wie du meinst,« stotterte er mit zerbrochener Stimme.

Sie drängte sich an ihn.

Der Wildgeruch des Weibes fiel über ihn her.

»Also seien wir Freunde wie immer.«

Sie kicherte, und unter diesem hellen Gekicher zog sie ihn dem noch warmen Himmelbett zu.

Durch die verhangenen Fenster schmeichelte sich das erste Licht des grauenden Morgens.

Der Hof wachte auf.

Noch selbigen Tages begann das Geld wieder zu rollen.

Der verflossenen Nacht wurde nicht mehr gedacht.

Das alte Leben kam aufs neue zu seinem Recht.

Peternell regierte wie in früheren Tagen.

Die Mägde schwänzte sie hoch; die Knechte zitterten vor ihr.

Nur einer nicht.

In aller Gemächlichkeit stopfte er seine Pfeife mit Oldenkott Rippchentabak, rekelte sich über den Latierbaum, säuberte sich die Fingernägel und sah zu, wie der Stalljunge die beiden Rotschimmel abkartätschte.

Peternell kam vorüber und streifte ihn mit ihrer üppigen Bluse.

Gleich darauf kutschierte sie nach Kleve.

Sie kaufte wahllos, unbesehen, mit den Launen einer verzärtelten Närrin, bis das Spritzleder die vollgepfropften Schachteln und Schächtelchen nicht mehr zu bergen vermochte.

Klärchen Schweißgut nannte sie gnädige Frau, was sie veranlaßte, sich noch ein Garnitürchen von Blaufuchs um den speckigen Nacken zu legen.

Mit diesem Pelzgarnitürchen rauschte sie am folgenden Sonntag unverfroren ins Hochamt.

Der geistliche Herr glaubte nicht mehr seinen Augen trauen zu dürfen. Die Sinne wirbelten ihm. In heißen Tropfen perlte es ihm von der Stirne herunter, obgleich auf dem Kirchhof die Kälte belferte, als wollte sie Wackersteine zernagen.

»Babel, die feile Hure, ist lebendig geworden!« Der Entrüstete bekreuzigte sich. Er donnerte und blitzte mit den Worten seines großen Kollegen Abraham a Santa Clara: »Ja, sie ist lebendig geworden. O dieses Weibsbild! Da schwingt es seine Milchgefäße wie Weihwasserkessel – diese Verbuhlte! Der Ochse des heiligen Lucas müßte sie mit seinen Fladen von oben bis unten beschmeißen ... et nunc et semper, et in saecula saeculorum. Sonst trägt sie nächstens noch 'nen goldenen, mit Edelsteinen umkrusteten Ring durch die Nase. O du mein Heiland! wenn das schon in Huisberden und Wissel geschieht, was soll dann aus Kleve erst werden?!«

Er verstand die Welt nicht mehr, Cornelis nicht mehr, und war doch so'n braver, besonnener und opferfreudiger Gärtner im Weinberge des Herrn gewesen. »Hosenteufel und Frauenröcke bewegen die Zeiten. Aber die Stunde wird kommen ... da heißt es: die Freude der Pauken feiert, das Jauchzen der Fröhlichen ist aus, das Jubeln der Harfen hat sein Ende gefunden. O diese Weiber!«

Aber Jan-Ohme wußte Bescheid, und als die Peternell- und Blaufuchsgeschichte lange Beine machte, über Land spazierte, alle Weiler und Dörfer aufsuchte, bei dieser Gelegenheit auch auf dem Baumannshof vorsprach und sich breitbeinig in eine warme Sofaecke hineindrückte, um besser und ausgiebiger erzählen zu können, da lachte ihr Jan-Ohme ins Gesicht und sagte, was er schon einmal mit einem so recht tiefgründigen Behagen an den Mann gebracht hatte: »Das Konto ist voll, der Pott läuft über, die Blansierung ist kaum noch zu halten. Der Kerl ist geliefert, denn über kurz oder lang hat die Melkmamsell ihm das letzte Hemd vom Leib und den letzten Halm von der Stoppel gefressen. Ich hab' gar nichts dagegen. Der Mensch ist reif wie 'n Limburger Käse. Außerdem sind Maden vorhanden. Da geht es noch fixer. Addio, Cornelis!«

»Heute!« sagte Klaas-Welm, zog sich seinen Düffelrock über, ließ die Helling hinter sich und marschierte, nachdem er den Rhein und seine knirschenden Schollen passiert hatte, weiter landeinwärts.

Es war um die Zeit, als die bläulichen Schneeschatten schon lange Gesichter bekamen.

»Heute!«

Auch Ewert setzte sich in Marsch.

Sein Atem dampfte durch den klingenden Reichswald.

Um ihn spielte der einsame Forst mit seinem Glockenspiel, indem er die zwischen den starren Asten hängenden Eiskristalle auf- und niederbewegte.

Ab und zu holzte ein Eichkater auf, zärrte und zäckte eine Blaumeise, lärmte der Vogel mit den himmelblauen Deckfederchen durch die schneeverwehten Fuchsperücken der Hainbuchenhecken. Ewert achtete nicht darauf.

Er hatte es eilig.

Jenseits von Kleve bog er scharf ein und nahm den Weg auf, der von hier über Kellen und Riswick nach Huisberden führte.

In der Richtung der drei Katen verschwand er.

Um dieselbe Zeit kam Arn: von einer Deichschöffensitzung.

Es war die erste Sitzung nach der Katastrophe auf dem Rhein gewesen. Wichtige Dinge hatten auf der Tagesordnung gestanden. Nachdem die Korporationsrollen durchgesehen, neue Geschworene in Verpflichtung genommen und in der Gemarkung Wissel-Bylerward drei Gefahr- und Schlafdeiche beantragt und genehmigt waren, gedachte der Schöffenälteste des Meisters und seiner heroischen Tat in beredten Worten, und als dann noch der zuständige Landrat erschien, auf den Gefeierten zutrat und ihm und seinen Brüdern die Rettungsmedaille zusprach, da wetterleuchtete es so herzhaft durch die Schankstube im ›Blauen Pferdchen‹, reihte sich Beifall an Beifall, daß selbst draußen die Leute stehen blieben, um auch ihrerseits den Geehrten mit Applaus zu überschütten.

»Im Namen des Königs!« also der Landrat. »Selten wohl ist mir ein lieberer Auftrag geworden als der, den ich in jetziger Stunde zu erledigen habe. Was damals geschehen, hat an Allerhöchster Stelle Beachtung gefunden. Nur zu verständlich, denn Mannesmut und Treue bis in den Tod hinein lassen Spuren hinter sich, die zu den ewigen zählen. Mannesmut und Mannestreue! – vor ihnen beugt sich selbst der finstere Geist der Verneinung. Sie sind die Träger der Kirche, die Säulen des Thrones, die ehernen Bande, die der gesetzlichen Ordnung Dauer und Stütze verleihen. Unter ihrem blanken Schilde ist wohl sein. Ich danke Ihnen, Herr Schwaters, und bin stolz darauf, einem Mann gegenüber zu stehen, der den Wahlspruch vertritt: Nur frisch das Herz über die Hürde, und der Gaul wird schon folgen ... stolz darauf bis zum letzten Atemzuge. Aber nicht ich allein als Vertreter des Kreises, sondern alle mit mir, die wir gemeinsam die stählerne Luft des Niederrheins genießen. Also denn – im Namen des Königs!« und er heftete ihm die schlichte Medaille auf die Brust ... »und das hier für Ihre wackeren Brüder. Mit Gott denn, Herr Deichhauptmann.«

Hand lag in Hand.

Über Arnt brach es wie Sturm und Gewitter herein.

Der ganze Mann bebte.

»Ich danke Ihnen, Herr Landrat. Aber das mit dem Deichhauptmann ...«

»Auch diese Ehrung hat Ihnen die Gnade des Königs verliehen.«

»Herr Landrat ...!«

Er warf sich herum.

Eine nie dagewesene Wucht durchfuhr seinen Körper.

In dem scharfgemeißelten Gesicht flammte es auf.

»Männer der Niederung!«

Er suchte nach Worten.

Dann aber rollte die Stimme: »Ehre, wem Ehre gebührt, aber was mir geschehen, geht weit über Ehrung. Meine Brüder und ich – wir taten nur das, was die Menschenwürde dem Menschen gebietet. Nichts weiter ... und den vom Niederrhein, der noch über ein gesundes Herz, noch über gesunde Knochen verfügt – ja, den vom Niederrhein möchte ich sehen, der nicht in gleicher Weise verfährt. Hart auf hart, in Not und Gefahr den Sturmriemen untergezogen und dem Verhängnis die Stirn geboten – so denken wir alle, Herr Landrat. Wessen Sinne bangen und zaudern, der ist nicht zwischen Kleve und Geldern geboren, der weiß nicht, was es heißt, Gott zu dienen, sein Letztes und Höchstes in die Schale zu werfen. Meine Brüder und ich, wir maßen uns nicht an, etwas Besonderes geleistet zu haben. Aber für die uns erwiesene Huld und Gnade – wir danken dem König, wir danken Ihnen, Herr Landrat. Das Treugelöbnis als Deichhauptmann lege ich in Ihre Hände und sage: Schulter an Schulter mit Ihnen, mit Schöffen und Deichgeschworenen, in sorgsamer Wahrung der mir verliehenen Gerechtsamen und Pflichten, in Hegung von Dämmen und Schleusenwerken, im Kampf mit dem Wasser – bis zum letzten Atemzuge: ich stehe auf Posten. Es lebe der König!«

»Es lebe der König!«

Im ›Blauen Pferdchen‹ klirrten die Scheiben, und als der neue Deichhauptmann die Sitzung verließ, noch ganz benommen von dem, was er durchlebt und erfahren hatte, geleitete ihn die halbe Einwohnerschaft des kleinen Rheinstädtchens bis weit in die verschneiten Wiesen hinein.

Am Hechelkreuz, das den Leedeich hoch überragte, trennte man sich, aber er sah noch, daß Bartje Rennings sein im Hafen liegendes Bootje prächtig beflaggt hatte.

Die besten Tops wehten im Wind.

Eine kleine Stunde später, als bereits die Schwaterskat in Sicht kam, nistete schon ein kaltes Glühen zwischen den Bäumen.

Schneeblau dämmerte es aus der Ferne herauf.

Schneeblau tastete er sich gegen ihn vor, umkleidete alles mit einem schneeblauen Linnen.

Die spitzen Kristalle unter seinen Füßen begannen zu singen. Zwischen Himmel und Erde raunten ungewöhnliche Stimmen, drängten sich Bilder und Erinnerungen, die ihn eigenartig bewegten.

Die Stunde der Entscheidung rückte immer naher und näher.

Er wandte sich und sah den Knollenkamp tief in der Niederung liegen, eingedunkelt, in Bauschen versenkt, mit dem Granwerk des Geheimnisvollen umsponnen.

Vereinzelte lichtschwache Pünktchen blinzelten über den langgestreckten Dächern von Scheunen und Ställen.

Im Herrenhaus schien ein Fenster zu leuchten.

Es nestelte unsichtbare Garne von hüben nach drüben.

Er wähnte, eine hohe Gestalt über das Schneefeld wandeln zu sehen.

Sie kam vom Hof und schlug den Weg ein, den er bereits zurückgelegt hatte.

Jetzt war sie bei ihm, aber wie seltsam! nur ein dunkles Spitzentuch hatte sie um sich geschlagen.

Jede einzelne Form ihres geschmeidigen Körpers war deutlich erkennbar.

Sie lehnte sich an ihn und sagte: »Gedenke des heutigen Tages und des Schriftstückes, das ich verfaßte. Und öffnen sollt Ihr es, Ihr und die Brüder, am Sankt Thomas-Abend ... nicht früher ... nicht später ... das wißt ihr ... und heilig sei es euch wie das Allerheiligste auf dem Altare des Herrn ... und außer euch: kein menschliches Ohr und keine menschliche Seele ...«

Sie sprach nicht weiter.

Er hatte alles so deutlich verstanden, als wäre jedes Wort von körperlichen Lippen gekommen.

Aber niemand war bei ihm.

Er wandte sich wieder.

Das kalte Glühen in den nackten Bäumen verlor sich.

Dunkle Schatten, tief wie Wäschebläue, gingen über die Landschaft.

Das Himmelreich bestickte sich mit einzelnen Fünkchen.

Ringsumher das Schweigen des Todes.

Er fühlte das Schweigen, die große Stille ohne Anfang und Ende.

Er wußte: seine Brüder warteten auf ihn.

Die Stunde war da.

In raschen Schritten ging er der Kate zu.

Des Tages Lasten und Mühen waren getragen.

Eine ferne Glocke mahnte zur Einkehr.

Es war Sankt Thomas-Abend geworden ... mit seinem Schleiern und Scheinen ... seinen Fragen und Rätseln ...

Eine weiße Hand hob das dunkle Tuch von den zukünftigen Tagen, zeigte hierhin und dorthin und drückte die Herzen dreier Brüder enger zusammen.

Jüllecke war trunken vor beseligtem Schrecken, vor übermütigem Staunen.

»Jesus Christus!« stammelte sie, »daß ich das noch erleben durfte. O du gebenedeite Jungfrau, o du Mutter der Gnaden!«

Ihre Hände falteten sich, ihre verklärten Blicke irrten vom einen zum andern.

Mit scheuen Fingern berührte sie die Medaille des Königs.

Das Herz ging ihr über.

Sie hatte schon viele lustbare Tage gesehen, aber der des heiligen Thomas machte doch die anderen zuschanden.

Da standen sie vor ihr, ihre Getreuen ... mit dem glorreichen Zeichen ... sie, die sie aufgezogen von Kind an ... die ihr nie Kummer und Sorgen bereitet, sondern nur Freuden, Freuden wie aus dem Paradiese heraus, um ihr jetzt den Lebensabend noch schöner und stolzer zu machen.

Nun mochte sie in Frieden dahingehen, ohne Bangen die Sterbesakramente empfangen.

Sie hatte nichts mehr zu wünschen. Nur das eine noch. Aber diesem würden gewißlich auch noch die Wege geebnet. Das Krüglein der guten Vorbedeutungen träufle heute schon über. Mehr des Glückes konnte sie in der jetzigen Stunde schwerlich ertragen.

Die Sonne des Allmächtigen und die Huld ihres Landesherrn waren über ihre schlichten Sparren gefallen.

Sie streckte die Arme.

»O du gebenedeite Jungfrau! O du grundgütiges Herrgöttchen von Bentheim! Gepriesen und gelobt sei der König! Rosinne sonder Pöntjes, Mynheers!« und sie schloß jeden einzelnen ihrer Lieblinge in ihre weichen Arme, drückte jedem einen innigen Kuß auf und sagte: »Kinder, mir solche Ehrensalve zu machen! Und dann der extraordinäre ›Deichhauptmann‹ noch! Laßt mich gewähren. Ich halt's nicht mehr aus! Bis später denn. Ich muß mich erst mit meinem lieben Herrgott besprechen,« und ganz durcheinander, mit dem Aufgebot der letzten Kräfte ihrer Selbstbeherrschung wankte sie ihrem verschwiegenen Kämmerlein zu, um dort ihre schwere Erregung, ihre köstliche Andacht und die seraphische Stimmung ihrer tiefsten Wonnen gegen die mit Vergißmeinnicht, Krapprosen und Goldlack bedruckte Tapete zu weinen.

Die drei sahen sich an.

Obgleich sie stumm blieben – ihre Blicke sprachen zusammen. Und dennoch: jeder war mit sich selber beschäftigt. Ihre Gedanken wanderten auf verschiedenen Wegen. Aber das Ziel war dasselbe.

Unwillkürlich legten sie ihre Hände ineinander.

»Sankt Thomas-Abend,« sagte Klaas-Welm.

Seine Stimme zitterte, war dabei aber von einer besonderen Feier und Gottseligkeit.

Die anderen nickten.

»Kommt!« meinte Arnt und deutete auf die Türe zur Linken.

Gemeinsam betraten sie die benachbarte Stube.

Es war das Gemach, worin der nunmehrige Deichhauptmann seine häuslichen Arbeiten durchdachte und abwickelte. Flurkarten hingen an den Wänden, Skizzen von Sielen, Schleusenwerken und Verteidigungsbauten reihten sich an, während einzelne Regale die einschlägige Literatur des gesamten Wasserrechtes und Deichwesens enthielten.

Für die kurze Sitzung hatte eine sorgliche Hand das Nötige vorbereitet.

Die Lampe brannte auf dem Tisch. Daneben stand eine Vase mit Stechpalm. Ein kleiner Kanonenofen verbreitete eine behagliche Wärme.

»Nehmt Platz,« sagte Arnt, entnahm einem Wandschrank das versiegelte Schriftstück, übergab es seinem Bruder Klaas-Welm und setzte sich gleichfalls.

Es war ihnen so, als wenn sich zwischen ihnen und dem Dokument ein schroffer Abgrund hinzöge, als verlöre er sich ins Unermeßliche, als wäre alles dort unten mit einem schauerlichen Dunkel umkleidet ... und doch begann es in der Tiefe schneeweiß zu blühen ... erhob sich ein Weib ... streckte es sich mit sehnenden Armen ... lockte ein Mund mit bleichen Lippen ...

»Sankt Thomas-Abend,« wiederholte Klaas-Welm.

In selbstquälerischer Ruhe erbrach er das Schreiben.

Dann las er:

»Ihr Lieben!

Gedenket meiner in der jetzigen Stunde. Es geht um mein Höchstes, um meines Daseins Inhalt und Seligkeit, denn die Annahme oder Verweigerung des von mir Niedergelegten entscheidet für mich über Leben und Tod, Verwelken und Auferstehung. Alles das wißt ihr, denn ich sagte es euch am Tag der Geschenke. Es bleibt mir nur übrig, das Letzte und Herbste mit ehrbaren Händen und reinem Gewissen vor euch auszubreiten. Ihr und ich – wir alle bringen ein Opfer, und ich bitte euch flehend: Habt ihr gelesen – zeiht mein Herz nicht besudelter Wünsche und Neigungen, macht es nicht schuldig. So wahr mir Gott helfe: ich selber fühle mich wie die lauterste Quelle. Kein Makel haftet mir an. Jede sinnliche Unterstellung weise ich von mir. Die Hoheit des Weibes ist in mir. Ich bete sie an, ich lebe in ihr, ich sterbe mit ihr und hoffe mit ihr dereinstens vor dem Odem des Ewigen bestehen zu können. Mein Wollen und Tun ist durch den letzten Willen meines Vaters begründet, und ist Sünde dabei, es ist eine Sünde, die weder der irdische, noch der überirdische Richter verurteilt. Ich rühme mich ihrer, denn es ist eine Sünde, die keine Verzeihung erbettelt. Ich handle durch Gott nach freiem Ermessen, und ich mußte so handeln. – Jedem von euch bin ich bis in die tiefste Seele verpflichtet. So hört denn ...«

Der Älteste schwieg, aber in gieriger Hast las er weiter.

Als er geendet, entrang sich ein schwerer Seufzer seiner Brust.

Sein Haupt sank vornüber.

Mit abgewandtem Gesicht legte er das Schriftstück in die Hand seines Bruders.

Ewert las mit fliegendem Atem.

Die Urkunde knisterte ihm zwischen den Fingern.

»Es ist so, wie ich dachte,« sagte er schließlich.

Um seine Mundecken irrte ein verstörtes Lächeln.

Der Jüngste hatte den Schriftsatz empfangen ... und keine drei Minuten vergingen, da war es allen, als wäre Anna Donsbrügge in ihre Mitte getreten, als schmeichelte sie jedem einzelnen ihr bleiches Haupt auf die Brust, um die wehe Sprache ihrer Herzen zu hören ... und während sie lauschte, faltete Arnt das Schreiben sorglich zusammen, legte es beiseite und sagte wie durch einen grauen Nebel hindurch: »Wir sind gleich vor ihr. Drei Nächte hat sie verheißen, drei gesegnete Nächte ... und also hat sie gesprochen: Ich gebe sie euch – erstens die heilige Weihnacht ... dann die Nacht, wenn die Osterfeuer brennen, von Rees bis nach Emmerich hin ... und schließlich die geweihte Nacht Johannis des Täufers ... und wem von euch ich gestehen mag: Ich bin gebenedeit unter den Weibern, dessen Hand soll mir werden. Ich habe nichts mehr zu sagen. Nur, mein Gebot sei euch heilig, und harret des Zeichens in der Finsternis.«

Alle erhoben sich.

Ihr Geist war bei ihnen, und dieser Geist umschwebte sie in köstlicher Reinheit.

Nicht Irdisches mehr. Alles verklärt, von der Gloriole der Unschuld umgeben.

Mit großen, sternlichten Augen sah der Sankt Thomas-Abend durch unverhangene Scheiben.

»Ihr Wille geschehe,« sagte Klaas-Welm. »Wir fügen uns dem Geschick und der Vorsehung. Sonst bleibt uns nichts übrig zu tun. So mag das Los denn entscheiden.«

Und das Los entschied.

Ewert ...!

Da reichten sie Ewert die Hand, wenn auch in herber Bedrängnis, und sie sprachen aus einem einzigen Munde: »Treue um Treue. So gehe denn hin, denn du bist als erster berufen. Finde dein Heil! Wir freuen uns herzlich, wenn wir auch fühlen: es ist eine Freude mit einem Immortellenkränzlein zwischen den Händen. Gott hat es so wollen.«

Und sie konnten noch lächeln.

Die schwerste Stunde am Sankt Thomas-Abend war damit vorübergegangen.


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