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3

Hoch über der mächtigen Deichkrone, die sich in saumseliger Schleife den Rhein entlang nach dem benachbarten Grieth zog, kroch es mit den Windungen und den sanften Gelenken einer dunkeln Riesenmade.

Über dem pilgernden Tier erhob sich etwas Schwarzes, Langgestrecktes, ragte das silberne Kreuz auf, dessen eigenartiger Glanz weit in das sommerstille Land hineinblenkerte.

Links flutete der Strom gemächlich nach Holland, rechts wellte sich ein unendliches Gras- und Halmenmeer gegen den Horizont an, um sich in einem violblauen Duft zu verlieren ... weit da drüben bei Hasselt und Qualburg und den feingestrichelten Konturen des Klever Reichswaldes. Stattliche Gehöfte lagen dazwischen, friedliche Weiler, geruhsame Windmühlen, und alles und jedes präsentierte sich wie auf der blanken Hand des ewigen Gottes ... und Stäwe Donsbrügge mitten darunter, hoch ob den Schultern von sechs ganz in Schwarz gekleideten Männern, auf seinem Paradebett, mit gefalteten Händen und unter dem Gefummel der bequem ihre Pfade dahinschreitenden Kleriker.

Knollenkampbauer, Knollenkampbauer, sind deine Wege immer gerecht gewesen?

Gerecht – ja, in deinem Sinne gerecht. Man mußte hierfür nur den richtigen Ausdruck gebrauchen.

Knollenkampbauer, Knollenkampbauer, und deine Taten und Werke – konntest du sie immer vertreten vor dem Gesetze und deinem Gewissen?

Bis auf mehrere Fälle: auch dieses – nur sie sind hart und frostig und unerbittlich gewesen.

»Und was noch kommen wird ...« sagte Jan-Ohme stumpf und dumpf vor sich hin, schüttelte bedenklich den Kopf und torkelte weiter.

Die Sterbeglocke von Grieth hub wieder an.

» Requiem aeternam dona ei, Domine

» Et lux aeterna luceat ei

»Amen!«

Jan-Ohme, wenn auch in sich gefestet und nicht bange vor Hölle und Teufel, konnte seine schlimmen Gedanken nicht los werden. Die Kälte des unbarmherzigen Sensenmannes saß ihm nun einmal im Nacken. Noch immer fühlte er die nadelspitzen Lichtseelen der Trauerkerzen, die den Sarg seines Schwagers umstanden hatten, noch immer den süßlich-faden Geruch nach Krepp und sickernden Wachstropfen. Alles war so plötzlich und überraschend gekommen, so ohne Übergänge, so aus dem Vollen heraus, ohne ihm Zeit zu lassen, sich zu besinnen und dem Geschick in die Parade zu fahren. Vieles wäre vielleicht noch im letzten Moment auf die Butterseite gefallen, hätte man ihn früher verständigt, ihn früher gerufen, vor wenigen Tagen noch, als die verflixte Testamentsgeschichte anfing bedrohlich zu werden. Das war nun unwiderruflich dahin ... und das Ende davon: Stäwe Donsbrügge wurde auf die Hobelspäne geworfen. Schade um den Mann! wenn er auch ein Krippensetzer und mit Mauke behaftet gewesen war; aber er hatte doch das Seine vorgestellt, hatte das Seine geleistet, wenn auch wie ein Bulle im Joch und mit schnaubenden Nüstern, hart bis zur Brutalität, eigenwillig wie'n Küster in 'ner Gnadenkapelle. Kein Zweifel: als Ökonomierat und Kreisdeputierter verfügte er über große Meriten, als Mensch und Familienoberhaupt nur über äußerst geringe ... und was zuletzt zwischen Vater und Tochter passiert war, in der kleinen blauen Stube, wo die Flurkarte an der Wand hing und eine holländische Kastenuhr jede Viertelstunde mit einem fidelen Klingeln begrüßte, das hatte den Knollenkamp mit dem letzten Aufschrei einer armen Seele durchzittert.

»Gott Verdammich nochmal!«

Unwillig warf Jan-Ohme den pontakroten Kopf in den Nacken.

»Auch das muß sich geben, wenn auch nicht der Verhältnisse wegen, sondern bloß der näheren Umstände halber, sonst ist alles für nichts und für die Katze gewesen. Immer man dusemang und fortepiano.«

Den kegelförmigen Zylinder, den er der Hitze wegen noch immer vor sich her balancierte, stülpte er über die eingeschmalzten Sardellen, unter fünfundvierzig Grad Neigung und mit einer energischen Forsche.

»So und nicht anders.«

Die traurigen Bilder und Erinnerungen streifte er ab. Er suchte nach neuen und fand sie. Drüben lag sein eigenes Anwesen, lag der Baumannshof an einem kreisrunden Wasser, die Fahne auf halbmast, in den preußischen Farben, die Kulören des Rechtsbewußtseins und der gesetzlichen Ordnung. Er begrüßte sie mit einer getragenen Handbewegung. Früher war das anders gewesen, damals, vor Jahren, als die Märzrevolten einsetzten und die demokratischen Köpfe eine neue Weltverfassung erträumten. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und hoch die konstituierende Nationalversammlung in Frankfurt unter dem schwarz-rot-goldenen Lappen! Juden, Polen und sonstige Volksfreunde durchreisten das Land, beglückten den Niederrhein, um auch hier den Geist zu erleuchten und das Evangelium der Nächstenliebe zu predigen. Fort mit dem Katzenbuckeln vor Fürstenthronen, dem Lakaienscharwenzeln und dem niederträchtigen Hofzeremoniell. In Berlin krachten die ersten Flinten, desgleichen in Köln, desgleichen in Kleve. Preußen mußte aufgeteilt werden, in einzelne Distrikte, Kantone und Republiken. Klein, aber oho! Auch Jan- Ohme war Feuer und Flamme. Und da eines Tages ... Flüchtige Helden waren aus dem fernen Osten gekommen, aus Rußland, aus der verwanzten Polakei. Darunter eine gewisse Anna Maslowa Pugatschew mit ihrem senilen Gemahl, kinderlos und sonder Anhang, aber jung und rassig und nicht unterzukriegen – und, wie sie selber behauptete, 'ne veritable Fürstin mit Freiheitsideen. Ex oriente lux. Sie wollte nach Holland, blieb aber auf dem Baumannshof kleben, Tage hindurch, Wochen hindurch, wütete unter den Spargelbeeten und dem Hofgeflügel wie eine Semiramis des Nordens unter ihren moskowitischen Bauern und verstand es, die revolutionäre Bewegung immer emsiger in Brunst und Lohe zu blasen. Jan-Ohme, als kregeler Kerl und fixer Seladon, verstand sie und sah ihr tief in die Augen. Kein Rückwärts mehr. Die glorreiche Erkenntnis mußte durchgeführt werden. An Stelle der Monarchie hatte eine Republik zu treten. Selbstverständlich nur in engeren Grenzen, für die nächste Umgebung berechnet, für Huisberden, Wissel und die benachbarten Weiler, mit Grieth als Zentralstelle, ähnlich so wie der niedliche und graziöse Freistaat San Marino oder der von Andorra. Also los denn dafür! aber immer man dusemang und fortepiano. Von Anna Maslowa Pugatschew, der Fürstin, begleitet, 'ne schwarz-rot-goldene Kokarde am Hut, ein Stück Kreide im Sack und den Kavalleriesäbel seines seligen Vaters, der noch aus den napoleonischen Kriegen stammte, um die Hüften geschnallt, rasselte er mit etlichen Getreuen auf Grieth zu, hielt dortselbst auf offenem Markt eine zündende Rede und erklärte Post, Schule und Rathaus in Kraft der mitgeführten Kreide als besonderes Staatsgut.

Die Republik war hiermit bestätigt, die Frage hinsichtlich der Präsidentschaft allerdings noch offen gelassen.

Brausender Jubel umtoste ihn und die Fürstin.

Unter demselben Jubel wurden sie nach Hause geleitet.

Immer bedrohlicher krachten die Flinten. Aber was tat das? Jan-Ohme sielte sich in einem Meer von Zukunftsträumen.

Das war im Juni gewesen.

Zwei Monate später blitzten die ersten preußischen Bajonette in der Gegend von Kleve auf. Die in Grieth sahen sie leuchten.

Der Fürstgemahl machte ein langes, verschmitztes Gesicht. Nicht so die Fürstin, und als sie sich eines Abends solo und im traulichen tête à tête mit dem jungen Besitzer des Baumannshofes einer Bouteille Champagners erfreute, fiel sie ihm plötzlich um den Hals, zog ihn an ihre wogende Brust und machte ihm unter fließenden Tränen eine empfindsame Erklärung.

»Ach, du!« sagte sie schluchzend, »das, was ich lange ersehnte, ist endlich in Erfüllung gegangen. Kein Ukas und kein Strelitze kann mir das nehmen. Das edle Fürstengeschlecht der Pugatschews ist nicht zum Untergang verdammt. Es wird weiter leben unter der Sonne der Freiheit. Durch dich – ich fühle mich Mutter.«

Leider: Jan-Ohme hatte die traurige Gefälligkeit, ihr Glauben zu schenken.

Anderen Tages jedoch, als bereits die infamen preußischen Tamboure ihre Trommelfelle in der Nachbarschaft malträtierten und die Kreide nicht mehr in der Lage war, Post, Schule und Rathaus als republikanisches Staatsgut zu schützen, war Anna Maslowa Pugatschew mit ihrem Fürstgemahl und ihrer Mutterschaft spurlos verschwunden.

Der Baumannshof und Jan-Ohme hatten das Nachsehen. Und dann noch: in Kleve hatte er Muße und Andacht genug, über das wandelbare Geschick eines übereifrigen Umstürzlers nachzudenken, bis ihn das Wohlwollen und die milde Hand seines Königs begnadigte. Frei von allen Regungen und Wegungen eines Irregeführten, schwor er sein Demokratentum ab, ließ auf einem gerichteten Scheiter das schwarzrot-goldene Tuch in Staub und Asche aufgehen und an dessen Stelle die schwarz-weißen Kulören von seinem Söller herabbammeln.

»Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben ...?« aber die russische Fürstin konnte er so leicht nicht vergessen. Er glaubte an sie wie an eine Offenbarung des Herrn, er sehnte sich nach ihr wie ein Feinschmecker nach einer getrüffelten Fasanenpastete, und als dann, später, da ihre Zeit gekommen war, von Amsterdam aus ein Schreiben einlief, in dem es hieß: »Dank deiner gütigen Fürsorge wurde uns in der Maslawiza, der Butterwoche, ein prächtiger Junge geboren. Die Dynastie ist gerettet. Habe Dank, habe innigen Dank. Schicke mir aber einige Napoleondors, damit ich in der Lage bin, auf meine podolischen Güter zu reisen. Lebe wohl für immer und ewig. Deine Anna Maslowa Pugatschew, geborene Prinzessin Botschkowa ...« da war Jan-Ohme wie vor den Kopf geschlagen, benebelt, wirbelsinnig und dennoch wonnig-beseelt, getragen von dem Bewußtsein, das Höchste geleistet zu haben. Er schwelgte in süßen Erinnerungen, in Schäferstündchen mit prickelnden Einschlägen. Er fühlte sich als Neubegründer eines gefährdeten russischen Fürstengeschlechts, als Amoroso einer stolzen Anna Maslowa Pugatschew, aus dem durchlauchtigsten Hause Botschkowa, beging aber den unverzeihlichen Lapsus, bei Gelegenheit einer landwirtschaftlichen Ausstellung, auf der zwei seiner prächtigsten Bullen prämiiert worden waren, sein zartbesaitetes Geheimnis unter die Leute zu tragen – im Weinrausch, im Hinblick auf genossene Freuden und von der logischen Erwägung ausgehend, sich höher zu dünken als seine poweren Nichtprämiierten, was diese veranlaßte, ihn heimlicherweise den ›Moskowiter‹ zu heißen.

Aber nicht lange, denn der energische Baumannshöfer schlug bald darauf den ihm angehäkelten ›Moskowiter‹ mit derben Fäusten zu Boden.

Das war Jan-Ohmes Schwäche, aber auch seine einzige Schwäche. Im übrigen hatte sein Name den besten Klang in der ganzen Gemarkung. Neben seinem Schwager Stäwe Donsbrügge führte er die gediegenste Mistgabel und das properste Pflugmesser. Er war hilfreich, jovial, freundlich und gütig, dazu ein Patriot nach dem Herzen des Landrats, nach dem der Verfassung. Die sitzende Lebensweise hinter dem Gitter des gerechtesten Königs war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er dachte mit einer gewissen Dankbarkeit daran, mit einer getragenen Wehmut und der Selbsterkenntnis eines geläuterten Herzens.

»Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben ...?«

Ja, er war ein solider, königstreuer Untertan geworden, und um nicht wieder auf umstürzlerische Ideen zu kommen, hatte er als warnendes Beispiel Heckerhut und Kavalleriesäbel in sein Glasspind geborgen, daneben den Flausrock, nachdem er ihn hatte säubern und die Revolutionswanzen aus ihm herausklopfen lassen. Sie wurden versenkt in das kreisrunde Wasser, das in seinem sauberen Gewese plätscherte, und war von Stund an nichts mehr von diesem demokratischen Getier zu finden, weder Motten noch Wanzen.

Nur Anna Maslowa Pugatschew sah mitunter noch in seine Junggesellenträume hinein, gab ihm zeitweilig Gelegenheit, sich ihrer zu rühmen, sich als Teilhaber einer berühmten Magnatenfirma in die Erscheinung zu setzen, aber nur dusemang und ganz fortepiano, sozusagen unauffällig und mit einer natürlichen Pose.

»Oremus!«

Der Sarg mit dem solennen Leichengefolge pendelte weiter. Unmittelbar vor Grieth zweigte ein breiter Seitenweg von der Deichkrone ab. Die fette, dickleibige Riesenmade senkte sich allmählich ins Flachland und wandte sich einer langgestreckten Mauer zu, hinter der pyramidenartige Lebensbäume aufragten.

»Sacer locus,« sagte Jan-Ohme.

Phöns met de Fleut bekam wieder seinen schmerzlichen Anfall, nahm seinen Mausegrauen vom Kopf und weinte bittere Tränen in die schäbige Röhre.

Auch die drei ehernen Männer waren ernster und nachdenklicher geworden.

Der Zug verfolgte den Hauptweg bis zur achten Gräberreihe.

Hier gruppierte er sich.

In einer kleinen halben Stunde war alles vorüber.

 

Während dessen ...

Der große Pendel, den die Lichtjungfer bei der Aufbahrung angehalten hatte, tat wieder seine bedachtsame Arbeit.

Die Kastenuhr in dem blauen Zimmer auf dem Knollenkamp schlug drei. Dann folgte ein munteres Klingeln und dann die getragene Weise:

»Wilhelmus von Nassauen
Bin ich von teutschem Blut,
Dem Vaterland getreue
Bleib' ich bis in den Tod;
Ein Prinze von Oranien
Bin ich frei onerfehrt,
Den König von Hispanien
Hab' allzeit ich geehrt.
In Gottesfurcht zu leben ...«

Mit einem mißtönigen Schnarren und Rätschen brach das Klingelspiel ab, versummelte im Näseln des dicken Brummers, der nach etlichen Flugkünsten zwischen den vier Wänden eine Falte der Musselingardine aufgesucht hatte, um dort sein Mittagsschläfchen zu halten. Mit ihm und dem Schweigen der Kastenuhr war alles Leben aus der Stube gewichen. Nur nebenan wurden Stühle gerückt, die Dielen gefegt und die Holzspreizen, auf denen der Sarg geruht hatte, ins Freie getragen. Sonst war eine Stille geworden wie in der Nähe eines amerikanischen Friedensapostels, der mit salbungsvollen Händen Quäker-Oats verteilt, während seine lautlosen Schuhe Menschenherzen zermartern. Da nahmen die bösen Bahrgeister ihre grauen Gewandzipfel zusammen und wanderten abseits. Mit ihnen verflog der Geruch nach warmem Krepp und faden Rosenblättern. Eine wohltuende Sommerluft zog wieder durch die dumpfigen Flure und Kammern.

Die blaue Stube ging auf den Hof hinaus, auf den weitläufigen Platz, wo sich die Schafställe erhoben und wo die Ackergäule gestriegelt und eingesträngt wurden. Das Mobiliar selber war einfach. Ein schlichter Tisch stand inmitten des Raumes, seitlich des Fensters eine Schreibkommode aus Kirschbaumholz, mit seichten Holznäpfen bestellt, worin der Herr des Hauses allezeit seine klingende Münze abgezählt hatte. Eine gipserne Madonna hing über der Tür, reich illuminiert und mit einem Kränzlein von getrockneten Immortellen umgeben, daneben eine mächtige Flurkarte, ausgemessen und gezeichnet von dem vereidigten Geometer in Kalkar, die alles enthielt, was den reichen Besitzstand ausmachte: die Wiesen und Hutungen, die einzelnen Ackerparzellen, die Neuanlagen und Schleusenwerke, bis auf die winzigen Pfade, die das Anwesen nach Länge und Breite durchquerten.

Vor dieser Karte hatte Stäwe fast tagtäglich gestanden, sich ihrer erfreut und war stets darauf bedacht gewesen, den weitverzweigten Liegenschaften noch eine bessere Arrondierung zu geben.

Nun war ihm auch dieses aus den Händen geglitten. Im Paradiese gab es keine wogenden Kornfelder, keine mastigen Zuckerrübenplantagen, nur süßliche Mannaanpflanzungen, und diese hatten ihm gar nichts zu sagen.

Requiescat in pace!

Ein schweres Aufatmen ging durch das durchsonnte Zimmer.

Schon geraume Zeit hatte Anna Donsbrügge neben der gespreiteten Tafel gesessen, die flache Hand auf einem amtlichen Schriftstück und die Augen ins Leere gerichtet, als linkisch und zu wiederholten Malen angepocht wurde.

Sie wandte den Kopf.

»Herein!« sagte sie tonlos.

»Erküsiert, wenn ich mir so unvermittelt die Ehre vergönne.«

»Strückerjans, Ihr seid mir immer willkommen.«

»Merci, Madam, und es ist nur um dessentwegen, daß ich hier stehe. Ich wollte nämlich festgestellt haben ...«

Der grobknochige Mann trat einige Schritte vor, schurfelte verlegen die trockenen Finger gegeneinander und suchte nach Worten. Hoch gewachsen, nur etwas vornübergebeugt, in Ledergamaschen und blauem Leinewandkittel, strähnigen Haares, mit gelben Stockzähnen wie die eines Bibers, erinnerte er an die ernsten Gestalten, die als Schäfer und Heideläufer die weiten Ginsteröden von Kevelaer bewohnen, gebräunt und rissig und mit Spinnwebfäden umkleidet.

»Madam,« nahm er wieder das Wort auf, wobei seine lichtlosen, ausgeblasenen Augen fest und zuversichtlich auf Anna Donsbrügge ruhten, »ich wollte nämlich festgestellt wissen, schon des Honnörs und der Reputierlichkeit wegen... Ich meine, es steht schon geschrieben: Du sollst die Kranken besuchen und die Toten begraben. Aber nicht immerst. Erst die Arbeit und dann das Trauerbegebnis, denn ohne diejenige welche kann ein ausbündiger Hof nicht prästieren, gewissermaßen nicht seinen Atem behalten. Beides ist gut; nur muß man es in die richtige Anwendung bringen, sonst heißt das: Mit die Trummeln gewonnen, mit die Fleuten zerronnen, und so was hat immerst kein besonderes Ende verzeichnet. Es bedeutet kein Wohlgefallen vor dem Herrn, keine sogenannte Bonität für Menschen und Tiere.«

Er sprach langsam, eindringlich, mit einer gewissen Selbstgefälligkeit, ohne dabei den Respekt außer Obacht zu lassen. Die einzelnen Sätze standen langdrähtig nebeneinander, wie die gelben Zähne hinter den schmalen und zu kurz geratenen Lippen. Fragend sah er auf die Gutsherrin.

»Madam, ich bin doch verständlich gewesen?«

»Eigentlich nicht; ich bin so recht nicht im Bilde.«

»Erküsiert, dann muß unsereins präziser und deutlicher werden. Ich meine, Madam: der Baas hat nach Grieth auf den Friedhof gemacht« – er zeigte nach oben – »und drüben wartet auf ihn die große Parole, wo auf 'nem heiligen Balken seine Worte und Werke geschrieben stehen, die Geißböcke und Kälber nicht mehr ablecken dürfen. Der Hof hat ihm die letzte Ehre erwiesen. Nur ich nicht. Aber wie sollte ich können? Alle Mannskerle sind mit und singen: Oremus! Drin liegt 'ne gewisse Noblesse und Bonität, wenn auch man äußerlich; denn ich vertrete die Ansicht: erst die Pflicht und dann die samaritanische Güte, sonst wird die Geschichte mit die Trummeln und Fleuten 'ne veritable Sache, und so was ist niemals mein Gusto gewesen. Ohne dem Baas zu nahe zu treten: meine fünfhundert Merinos und Rambouilletböcke konnten nicht ohne Beaufsichtigung bleiben, und darum und deshalb ... Ich denke: Ihr werdet mir das nicht verargen und auf 'ne unhonorige Reputierlichkeit schieben, denn Arbeit geht immerst vor 'nem Gang nach dem Kirchhof. So hab' ich mir bloß 'nen Trauerwacholder genehmigt und bin im Schafstall geblieben.«

Er machte eine stumme Bewegung und sagte: »Madam, das wollte ich festgestellt haben, um mein Dekorum nicht unter den Scheffel zu stellen.«

»Strückerjans, der Baas und ich sehen das ein. Ihr habt richtig und nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.«

»Merci, Madam. Das hat mich beängstigt. Aber das nicht allein; es ist nicht um dessentwegen, daß ich hier stehe. Ich habe noch sonst was. Ehre, wem Ehre gebührt. Der Knollenkampbauer ist rips, hat das Seine getan, hat das Seine gesegnet. Aber nicht immerst so, wie er sollte. Das muß er selber vertreten. Nu aber« – und der Alte reckte sich auf, daß seine Gelenke in ein dürres Knacken gerieten – »nu aber, wo sein Regententum alle geworden, hab' ich dem neuen meine ergebensten Gefühle unter die Füße zu legen – als Ältester vom Knollenkamp, um Gotteswillen und von wegen einer glücklichen und bekömmlichen Zukunft. Das mußte ich sagen, der Ordnung halber und weil der Untertan hierzu gesetzt ist, von jetzt an bis zu seinem gottwohlgefälligen Sterben.«

»Strückerjans, ich danke Euch herzlichst. Wir bleiben die alten.«

»Soll mir angenehm sein, und hier« – und er legte die linke Faust schwer auf die Herzgrube – »ich werd's in dieser Munstranz wie 'n großes Heiligtum halten.«

Er wandte sich der Tür zu, blieb aber stehen und drehte sich nochmals.

»Madam,« sagte er nach einem bedeutsamen Hüsteln, »das mit dem Regententum ... Ich meine, wenn es erlaubt ist, darüber zu reden. Da soll sich ja noch etwas Extraordinäres befinden; denn was einer so hört ... und davor soll Gott uns bewahren ...«

Anna Donsbrügge erhob sich. Ihr Antlitz war um eine Tönung bleicher geworden.

»Strückerjans, was meint Ihr damit?«

»Madam, was die Leute so sprechen. Wo's muffelt, da schwelt was. Aber was besagt so'n Feuerchen? Menschenwerk! und alles, was die Menschen betreiben, ist immer mit 'ner gewissen Schwachheit behaftet. Nur – man muß es beizeiten austreten, sonst könnte es dem Regententum schaden, und das wäre nach meiner unmaßgeblichen Ansicht 'ne traurige Sache.«

»Strückerjans, Ihr sollt deutlicher werden.«

»Kann ich, Madam, denn ich sagte schon eben: Da soll sich ja noch was Extraordinäres befinden ... so'n Schriftstück auf Leben und Sterben, ordnungsgemäß verfaßt und vom Baas unterfertigt. Ich meine, um es mit besseren Worten auseinander zu setzen ...«

Sie unterbrach ihn unwillig: »Und wenn es so wäre?«

»Madam, wenn die Sache kommod ist, gut – dann mag so'n notarielles Schriftstück bestehen. Aber wenn's dem Knollenkamp in sein Gottesgnadentum hinein hageln täte ...«

Seine weiten Augen begannen zu leuchten.

»Wenn's da hinein hageln täte, um Strunk und Stiel auseinander zu kloppen, dann hat die letzte Glocke geschlagen.«

»Wer sagt das?«

»Ich nicht, aber die anderen.«

»Dann laßt die anderen man reden. Zu viel melken, gibt Blut, und zu viel des Redens, macht närrische Köpfe.«

»Hab' ich auch schon gesagt.«

»Na also ... und was die Urkunde anbetrifft ...«

Über das Gesicht der Gutsherrin zog etwas Hartes und Kaltes.

»Wer mir an Hof und Haus und den Hufwagen karrt, dem weiß ich schon das Handwerk zu legen.«

Die Stockzähne des Alten taten sich sacht auseinander, wie im Erstaunen.

»Gott Lob und Preis!« rief er mit einem erlösenden Seufzer. »Ganz meine Äußerung. Leute, hab' ich gesagt: Was die Madam ist, die melkt nicht, ohne 'nen Eimer darunter zu halten, und wenn sich da etwas Extraordinäres befindet, so ist dieses Extraordinäre für sie bloß ein Unding. Die hält, was sie hat, und nimmt mit, was sie kriegen kann, außer 'nem Mühlstein und glühende Amböß, und was ihr kunträr steht, das drückt sie schlankweg beiseite oder läßt es verkahmen. Nichts weiter. Meine Augen haben gesehen und meine Ohren gehört. Wo's Mode ist, geht unsereins auf Strümpfen in die Kirch' und mit Klumpen zum Ballsaal. Hier aber nicht. Das Regententum ist schon in die richtigen Hände gekommen. Madam, ich kann ruhig zu Bett gehen. Adjüs denn,« und sanft und feierlich wie ein Heidegänger aus der Umgebung von Kevelaer verließ er die Stube.

Anna Donsbrügge sah ihm nach, als wäre der alte Strückerjans eine Erscheinung gewesen.

Da ging er hin, der Schäfer vom Knollenkamp, der Getreue, der Zuverlässige, der Unentbehrliche und dennoch der Undurchdringliche, der Mann, der es schon vierzig Jahre hindurch verstanden hatte, auf Lammfellsocken zu pilgern, unauffällig zu werken, als Prophet zu erscheinen, ohne auf seinem Prophetentum sitzen zu bleiben, und sein eigenes Selbst, sein Tun und Lassen gleichsam durch einen weiten, weißen, undurchdringlichen Nebel zu tragen. Er betete, ohne zu beten. Er sang, ohne zu singen. Seine Augen, so ausgeblasen und blind sie auch schienen, konnten aufleuchten wie Mondsteine, gleich denen von Schafen, die nachts im Pferch stehen. Er regierte seine Herde, ohne mit der Wimper zu zucken. Zu seinen Mitmenschen, zu Knechten und Mägden, war er selbstlos und zutunlich, und doch gingen sie ihm scheu aus dem Wege. Er verabscheute die, die sich abmühten, Ferkel zu scheren, denn er sagte sich immer: »So was macht Spektakel und gibt keine Wolle.« Er kam wie ein Schatten und ging wie ein Schatten.

So war er auch heute erschienen, auch heute gegangen, und obgleich die Gutsherrin versuchte, dem Laut seiner Schritte zu folgen – sie hörte so wenig, als wäre ein Maulwurf dabei gewesen, seine unterirdischen Gänge zu ziehen.

Sie suchte nach Atem.

Ihr Gesicht war weiß und gespenstisch geworden.

»Also das wissen sie auch schon?!«

Sie ballte die Rechte und setzte die Knöchel auf das amtliche Schriftstück.

»Im Namen des Königs! Vor Notar und in Gegenwart zweier Zeugen getätigt. Aber es gibt noch 'ne Anna Donsbrügge und 'nen Herrgott im Himmel!« und ihre Gedanken weiteten sich, gingen über Äcker und Felder bis nach Huisberden zu, von hier mit der Fähre zum Emmericher Eiland, wo ein breiter, mastiger Hof lag. Sie sah diesen Hof und stieß einen Fluch gegen ihn aus, denn auf diesem Gewese residierte Cornelis ten Berg, ein weitläufiger Verwandter ihres verstorbenen Vaters, einer, der mit Scheffeln einnahm, um mit Metzen zu geben, einer von denen, die schattenlose Augen ohne Wimpern besaßen ... und von diesem Cornelis ten Berg war alle Misere und alles Leid und ihr ganzes Unheil gekommen. Ja, und streckte er nicht die Faust nach ihr aus, um ihr mit dem Willen und Wollen des Dahingegangenen das Erbe aus den Händen zu winden? Schickte er sich nicht an, das Heiligtum ihres Leibes zu entweihen, und war er nicht entschlossen ...

Sie unterbrach die Flucht ihrer reißenden Gedanken.

Unter ihren Knöcheln zerknitterte das weiße Papier mit dem preußischen Adler.

Sie wähnte Blutstropfen zwischen den amtlichen Zeilen zu sehen. Aus diesen starren Buchstaben redete ein Toter, sprach das Gesetz mit dem entsetzlichen Grinsen eines Unerbittlichen.

»Hier der Wille eines Verstorbenen und hier – der einer Lebendigen. Also Kampf zwischen Leben und Tod, zwischen Verwesen und Werden. Siegen oder ein rasches Hinsterben.«

Sie stand wie ein Bildstock.

Dann ließ sie die Hand von der Unterlage, scheu und bestürzt, als hätte sie Schmutz an den Fingern.

Sie setzte sich wieder, lehnte sich im Sessel zurück und folgte mit leisem Weinen dem stillen Gang ihres Vaters und denen, die ihm hierbei die letzte Ehre erwiesen. Jetzt waren sie am Hechelkreuz, jetzt bei der roten Schleuse; gleich darauf bogen sie scharf nach links ein, um den umfriedeten Acker zu gewinnen, wo alle diejenigen ruhten, die der Herr zu sich entboten hatte. Sie vernahm das Säuseln der Lebensbäume, das Wispern der langen Grashalme, die monotonen Sterbegebete, das verhaltene Schurfeln der Spaten, dann nichts mehr. Sie sah nur noch; sie sah nur noch in die verflossenen Tage und fühlte: nun bist du um eine kleine Lebensspanne jünger geworden, und siehe: sie mußte noch einmal durchleben, was sie noch vor kurzem durchlebt und erduldet hatte.

Da stand er...

Ein grober, untersetzter Mann in den siebziger Jahren erhob sich im blauen Zimmer und drückte die erregte Stirn gegen die Scheiben. Er trug den landläufigen Leinenkittel mit den weißgestickten Achselzeichen; dazu einen geschälten Dorn mit ledernem Knebel.

Regungslos sah er seinem Knecht zu, der eben dabei war, einen Percheron aus einem leichten Tilbury zu strängen. Mit diesem Gefährt war der Alte vor wenigen Minuten aus dem benachbarten Kalkar ankutschiert, in dringenden Geschäften und mit einer Urkunde im Sack, die er sich für alle Fälle hatte ausfertigen lassen.

Es war gegen Abend und just um die Zeit, als das letzte Heu des Tages eingebracht wurde. Die vom Knollenkamp schnitten am frühesten in der ganzen Umgebung. Langsam schwankte denn auch eine hochgestapelte Fuhre, mit dem langen Wiesbaum darüber, in den stattlichen Hof ein, nahm aber den Ansatz zu kurz und stolperte gegen einen Prellbock, daß es in allen Rädern ächzte und krachte.

»Himmelhunde, verdammte!«

Der Alte riß das Fenster auf und wetterte die Begleitmannschaft an: »Ihr Schnösels, infame, glaubt ihr denn, ich hätte meine Gäule gestohlen?! Noch mal so'ne Schose, und ich spanne euch selbst ein; aber dann jü mit die Pferde. Gottverdorie! und wie viel Lasten habt ihr noch ausstehen?!«

»Wablif?!«

»Modder auf den Kopp! Ich spreche doch deutlich. Wie viel Lasten noch ausstehen?!«

»Ach so! Fünfzig bis sechzig, Mynheer.«

»Aber die Geschichte da drüben! da sitzt Hagel und Grus drin.«

Er deutete mit dem Weißdorn über den Rhein fort, wo ein dicker, grauer Schwaden auf dem Bauch lag und von Zeit zu Zeit wie ein Kirmesbaß grunzelte.

»Wenn das da heraufkommt, dann könnt ihr morgen nichts eintun.«

»Bloß keine Bange,« sagte der Mann, der die Peitsche regierte. »Das steht, wo's steht; denn was sich bei Grietherorth zusammenzieht, geht nicht über den Rhein weg.«

»Gut! dann beginnt ihr morgen um viere, aber ich bitte mir aus: akkurater gefahren.«

Er stierte in die umdüsterte Landschaft.

Dann klappte das Fenster zu.

Stäwe Donsbrügge trat an den Tisch, hob den Stock und ließ ihn dreimal hintereinander auf das Tafeltuch knallen.

»Holla, heda! kommt vor!«

Ein verschüchtertes Mädchen erschien und blieb an der Stubentür stehen.

»Mieke, meine Tochter soll kommen.«

»Sie ist nicht zu Hause, Mynheer,«

»Wo ist sie denn hin?«

»Zu Hochwürden in Wissel. Mynheer van Holten feiert heut seinen Geburtstag.«

»Wann kann sie retour sein?«

»So gegen achte, Mynheer.«

»Dann wißt Ihr Bescheid ... und in 'ner Viertelstunde die Lampe.«

»Wollen's besorgen, Mynheer.«

Kaum wahrnehmbar seufzte die Tür zu.

»Immer diese ausgefallenen Wege!« knarzte der Gutsherr, trat wieder ans Fenster und folgte den Vorgängen am Himmelreich mit sichtlichem Interesse.

Die einzelnen Wolkengeschwader sammelten sich, wagten es aber nicht, den Vormarsch anzutreten und die Strombarriere zu nehmen. Sie blieben in Reservestellung. Nur das Gesummel war stärker geworden.

Immer mehr dunkelte der Hof ein.

Viertelstunde um Viertelstunde verging. Hinter Grietherorth glühte es auf, nur für eine Gedankenspanne, um wie eine rasche Erscheinung zu verschwinden.

Die Kastenuhr klingelte und intonierte die Weise:

»Wilhelmus von Nassauen
Bin ich von teutschem Blut ...«

Bolzengerade stand der Alte am Fenster. Er rückte und regte sich nicht, gewahrte auch nicht, daß hinter ihm auf dem Tisch die Lampe brannte und mit heimeligem Lichtschein die ganze Stube erfüllte.

Strückerjans schlenderte über den Hof fort. Irgendwo geisterte eine Stallaterne auf. Aus den Ställen klang das Stampfen der Pferde herüber. Der Knollenkamp schickte sich an, die Schauer des Abends über sich ergehen zu lassen. Er bemerkte schon einige Lichter in der nächsten Umgebung.

»Endlich!« kam es von zuckenden Lippen.

Stäwe Donsbrügge wandte sich, legte den Weißdorn neben die Lampe und ließ sich in einen Korbsessel nieder.

Die rechte Faust auf dem Tisch, den eckigen Kopf nach Art eines lauernden Tieres vorwärts gestreckt, wartete er ab, bis sich die Angel bewegte.

Er zählte die einzelnen Schritte, die aus der Tiefe des Flures heraufkamen.

Er wußte, das war seine Tochter.

Als sie das Zimmer betrat, sagte er barsch: »Späte Gäste sind nicht immer willkommene Gäste. Der Hof liebt 'nen prompten Ausgang und Eingang. Sonst legen sich die Gäule verkehrt in den Kummet. Wo warst du?«

Sie zuckte die Achseln.

»Mieke wurde verständigt. Sie hat dir bereits Antwort gegeben.«

»Allerdings, aber doppelt hält besser.«

»Für alle Fälle denn: ich bin in Wissel gewesen.«

»Bei Johannes van Holten?«

»Ja, bei Hochwürden.«

»Gratulierenderweise? oder aber ... Gratulierenderweise ist gut, aber das andre ... Ich will nicht. Die verfluchten Gänge bringen Vater und Tochter immer mehr auseinander. Mit den Sprüchen eines Jesus Sirach wird keine Erbschaft geregelt. Die fettesten Bibelstellen sagen mir nichts, wenn sie meiner Überzeugung konträr sind. Pastor ist Pastor und Bauer ist Bauer. Sapperment noch einmal! was versteht so'n Schwarzrock davon, wenn ich nachts darüber nachsimuliere: was soll später aus dem Knollenkamp werden? und daher: meine Ordonnanzen werden befolgt oder der Leimpott spült über.«

Das junge Weib straffte sich auf.

»Vater, ich habe auch 'nen Willen und auch ein Herz im Leibe, und darüber hab' ich mit Hochwürden gesprochen.«

Ihre Stimme zitterte.

»So, mit Hochwürden gesprochen?! Allen Respekt vor Hochwürden. Aber ich vertrete den Standpunkt: Heerohme hin und Heerohme her, handelt es sich um meinen Geldsack und um das, was ich hier unter meinem Kittel vertrete. Pastor und Bauer sind wie Feuer und Wasser, haben gar nichts gemeinsam, oder weiß so'n Mann, was ich vorhabe und was meinen Realitäten not tut? Keine blasse Idee; denn der Knollenkamp will, daß die einzige Tochter des Hauses nicht wie 'ne gelte Färse herumläuft.«

»Ich verbitte mir, Vater ...«

»Ruhe! oder – wie schon einmal gesagt – der Leimpott spült über.«

Seine derbe Faust knöchelte auf den Tisch.

»In dieser Beziehung lasse ich mir keine Bußpredigt halten oder Vorschriften machen. Hier allein ist das richtige Kontor und nirgendwo anders. Also nimm Platz; ich habe mit dir noch ein Wörtchen zu reden.«

Sie trat näher heran.

»Kann es nicht später geschehen? Das Essen ist angerichtet.«

»Soll warten. Was ich zu sagen habe, geht über Messer und Gabel, kann nicht länger mehr ausstehen. Seit heute nicht mehr. Ich will klaren Wein in der Buddel. Schnelle Arbeit ist prompteste Arbeit. Ich habe in Wesel gedient, vor Jahren, bei der Artillerie. Da stand auf den Geschützen geschrieben: Ultima ratio regis, was sie auf deutsch übersetzen: die letzte Parole des Königs. So'n Wort hat Haar auf den Zähnen und Marks in den Knochen. Ich hab's mir verbriefen lassen in rechtlicher Form, denn so ging das nicht weiter. Nach all dem verflüchtigen Warten und Betteln – nu hab' ich's überbekommen. Um deinetwillen, um dem Hof die verdiente Ruhe zu geben: Ultima ratio. Sie wird heute verpulvert. Also nimm Platz, denn was man zeitig notiert, braucht man anderntags nicht zu verbuchen.«

»Wie du meinst, obgleich ich mir keine Übereinkunft verspreche. Du kennst meinen Standpunkt.«

»Das wollen wir abwarten.«

Er klopfte sich auf den Leinwandkittel, unter dem etwas Papierenes aufraschelte.

»Hier dieses bringt selbst die rossigste Stute in die Scherendeichsel hinein. Also ich bitte.«

Alsbald saßen sich Vater und Tochter hart gegenüber, er mit blutunterlaufenen Augen, schmalen Lippen und von der sturen Mission gepackt, heute zum letztenmal alles und jedes auf ein und dieselbe Karte zu setzen, und sie ... Ruhig wie immer, sah sie den nächsten Augenblicken entgegen, wenn sie auch wußte, es geht um das Höchste, um Kindesliebe, um Haus und Herd und den Segen des Vaters. Die kommende Stunde hatte ihr nichts mehr zu sagen, so wähnte sie, aber sie sah nicht, daß ein Gespenst aus den Dielen herauswuchs, ein grauer und wesenloser Schatten, daß er ein weißes Tuch auseinanderfältelte, um dieses Nebeltuch still und unversehens über ein Menschenleben zu spreiten, nur – sie hatte das vage Gefühl, als legte sich ihr eine unsichtbare Hand auf die Schulter.

Mit weitgeöffneten Blicken stierte sie in die singende Lampe.

Jenseits des Rheins hub es an, dumpfer und stärker zu murren.

Stäwe Donsbrügge räusperte sich.

»Na ja,« sagte er endlich, »ich denke, wir machen die Sache ab, wie's unter Kaufleuten Mode ist, ohne dabei verwandtschaftliche Fisimatenten zu entrieren, rein geschäftlich, mit der Elle herunter, sonst ist doch kein Loch durch die Geschichte zu finden. Anna, ich sollte meinen, was ich jetzt proponiere, ist auch deiner Bekömmnis gemäß, und kannst du dich damit einverstanden erklären. Bloß geschäftsmäßig und man so mit der Elle herunter.«

»Vollkommen, Vater.«

»Dann höre. Bevor ich auf den richtigen Turnus gelange, hab' ich unser beiderseitiges Gedächtnis aufzufrischen, damit es später nicht heißt: Herrgott noch mal, das ist mir durch die Wicken gegangen! Auch hiergegen wirst du keine Einwendung machen.«

»Nicht die geringste.«

»Na, gut denn ... ich rekapituliere. Ein leckerer Geruch in der Nase, ist Kirmes für 'nen veritablen Menschen. Darüber bin ich schon lange hinweg. Es ist einsam um mich. Die heelmoijen Zeiten verkrümeln sich langsam. Es riecht nicht mehr nach Goldlack und Nachtviölchen, eher noch nach Hobelspänen und Schreinerfirnis, denn das Nuckerchen, das mich vor'n Jahr oder zwei gegen die Wagenrunge drückte, hat man in Rechnung zu ziehen.«

Er berührte das linke Augenlid, das etwas von seiner Straffheit verloren hatte.

»Aber man weiter. Nur keine Rührseligkeit. Du weißt: deine Mutter stammte vom Baumannshof her. Außer 'nem properen Sinn und 'ner adretten Montierung brachte sie mir nichts in die Ehe. Jan-Ohme schöpfte den Rahm von der Suppe ... Gar nichts dagegen einzuwenden, denn wer Äcker und Wiesen, Ställe und Scheunen in Parzellierung nimmt, der teilt sein Seelenheil auf, und das ist wider den Bestand der gesetzlichen Ordnung. Repartieren macht kurzen Atem und Bettler, und wer sich mit 'nem Bettler herumschlägt, kriegt Läuse. Das läßt sich doch hören, und so viel ich dich kenne, bist du der nämlichen Ansicht.«

»Kein Zweifel.«

»Gut so! Also deine Mutter selig brachte mir nichts in die Ehe, von Rechts wegen, von wegen seßhafter Konsolidierung. Hab's ihr auch nicht übel genommen, unter keiner Bedingung ... aber was schlimm war ...«

Anna Donsbrügge unterbrach ihn mit einem bitteren Lachen: »Arme Mutter! nur ich wurde während der Ehe geboren.«

»Richtig,« fiel der Alte dazwischen. »Du machst Nägel mit Köpp, und da wirst du verstehen: durch dieses Malör wurde mir der beste Weizen, die schönste Hoffnung verhagelt. Ein Weibsbild ist gut, aber so'n kleiner Mannskerl wäre mir kommoder gewesen. Himmel Sapperment noch einmal! seit Methusalems Zeiten ist der Knollenkamp in ein und derselben Sippschaft gewesen. Anno 1635 beginnt die Reihe mit Everhard Donsbrügge. Dann bekam Grades das Zepter, dann Franz met de Poggenhaar, dann Hendrik, dann Jean Baptiste, der mit Napoleon nach Rußland mußte, aber zurückkam und bei Leipzig die Franzosen verkloppte ... immer nur Donsbrügges ... immer vom Vater auf den Sohn oder vom Sohn auf den Enkel ... Kerle wie Bullen im Joch ... mit Gott für Kirche und Vaterland ... und immer so weiter, bis auf den heutigen Tag, wo ich, Stäwe Donsbrügge ... Da schnappte es ab wie 'n kaputter Flintenhahn auf der Pfanne. Ich, der letzte, und nichts mehr zu machen.«

Die Faust trommelte auf.

»Ah! so 'ne Hundewirtschaft, und so was mußte mir grad passieren. Das ist ja, um Büchsenkugeln zu schlucken.«

»Und ich? bin ich denn nicht da? Habe ich keine Anrechte?«

»Du?! Natürlich, natürlich! Wird gar nicht bezweifelt. Hast auch das Deine gelernt, bei dem da in Wissel, und die Leute sagen ja wohl: So'n Frauenzimmer gibt's nicht mehr zwischen hierorts und Xanten. Überhaupt diese Rasse und Aufmachung! Um dessentwillen kann sich schon ein Mannskerl vergaffen und in die Ravage geraten. Aber was hilft das dem Hof, was dem beweglichen und seßhaften Inventar, was mir und der Zukunft?«

Er schnippte verächtlich mitDaumen und Zeigefinger.

»Kein Kastemännchen und kein lumpiges Dittchen.«

»Du,« preßte sie zwischen den Lippen hervor, »bin ich denn müßig gewesen, oder hab' ich die Absicht bekundet, Kartoffeln und Zuckerrüben mit Handschuhen einzumieten?«

»Aber wenn ich die Augen mal zutu' ...?«

»Dann gerade erst recht nicht. Genau so wie Everhard, wie Jean Baptiste und genau so wie du werd' ich die Futterschwinge regieren, den Pflugsterz anpacken, Knechte und Mägde auf die richtige Stelle verweisen. Und hier diese Hände!« – und das erregte Weib zitterte auf – »glaubst du denn nicht, sie hielten nicht fest, was sie Hütten, griffen nicht zu? Der Knollenkamp ist mir ans Herz gewachsen, genau so wie dir, genau so wie allen, die den Namen Donsbrügge trugen, und wenn Kirche und Staat mir die Daumenschrauben ansetzten – keine Handbreit und kein Krümelchen Erde soll mir durch die Finger entwischen.«

»Halt!« kommandierte der Alte. »Weiß ich alles, ist mir pläsierlich zu hören. Aber das segnet mich nicht, gibt mir keine richtige Andacht. Ich denke an später. Ich will: der Hof soll weiter florieren. Art von meiner Art und Blut von meinem Blut hat hier für allewige Zeiten die Schollen zu brechen. So und nicht anders. Dein Leben geht auch mal zu Ende, und wenn du weiter so wie 'ne gelte Färse herumläufst und keine Befruchtung annehmen willst ...«

»Vater!« schrie sie auf und war steil in die Höhe gefahren.

»So ist es. Ich will wenigstens Blut von deinem Blut in der Erbfolge haben, verstehst du? Davon kann ich kein Tittelchen streichen, und damit bin ich auf den richtigen Awek und den gehörigen Standpunkt gekommen, und ich sage dir hiermit zum ersten, zum zweiten und letzten ...«

Ein trockener, wilder Donner kegelte in diesem Augenblick über den Hof fort, daß davon die Scheiben klirrten und die Pfosten ins Wanken kamen.

»Da hörst du! Gottes Wort pflichtet mir bei, Gott und seine Heiligen und alles, was sein ist.«

Mit jähem Ruck hatte er ihre Rechte ergriffen. Sein Gesicht stand dicht vor dem ihren. Das linke Augenlid sank tiefer herunter. Sein heißer Atem glühte sie an. Er schien zu straucheln, auf die Seite zu taumeln. Aber er hielt sich. Willenskraftig riß er seinen inneren und äußeren Menschen zusammen.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes! entweder du tust dein Jungfertum ab und sorgst, daß der Hof aus der Bredullig herauskommt, oder aber ...«

Seiner Sinne nicht mehr Herr, hielt er ihr die geballte Faust vor die Stirne.

»Ich kann nicht mehr warten, denn hier diese Faust hier ...«

Sie schob sie beiseite.

»Ich tu', was ich will,« hielt sie ihm entrüstet entgegen, »denn über mich hab' ich allein zu verfügen. Kein andrer. Auch du nicht. Mag kommen was will. Ich habe schon das Ärgste erduldet. Schlimmer kann's nun einmal nicht werden. Ich bin keinem Rechenschaft schuldig, aber auch keinem, und das hier« – und sie zerrte ihr Kleid mit einem herrischen Griff auseinander, daß ein Stück ihrer weißen Schultern aufleuchtete wie eine Handbreit köstlichen Linnens – »hier dieses Herz hier, ich geb's dem, der mir ansteht, denn ich habe nur dieses eine Herz zu vergeben ... und hier diesen Leib hier« – und ihre Stimme flackerte hoch wie eine siegreiche Flamme – »hat nur der zu zu umarmen, zu entkleiden und in die Kammer zu führen, den ich rufe mit dem heißen Schrei eines liebenden Weibes, sonst niemand ... und legte mir Cornelis ten Berg eine Krone zu Füßen, und könnte ich durch ihn eine Herzogin werden ...«

»Dein Herzogtum hole der Satan!«

Der Alte stieß einen gellenden Pfiff durch die Zahne.

»Weibsbild, infames! Ich muß wissen, was nach meinem Tode passiert, was aus meinem Grund und Boden wird, was sich die Roggenfelder erzählen. Alles schreit nach dem Erben ... kann nicht mehr warten .., muß seine Betätigung haben ...«

»Und ich meine Freiheit und mein eigenes Leben!«

»Der Knollenkamp auch! Also das ist deine letzte Bedingung?!«

Seine Stimme lachte und gellte.

»Ja, Vater, die letzte.«

»Gut!« schrie er auf, »dann kommt das an die Reihe,« und seine knochige Hand fuhr in den Leinewandkittel, packte zu und brachte ein amtliches Protokoll zum Vorschein.

»Für alle Fälle und in Voraussicht der Dinge: vor Notar und Zeugen getätigt. Das steht wie'n Pfahl und läßt sich nicht umblasen. Wenn ich die Augen mal zutu': hier findest du alles. Ultima ratio! Die letzte Parole des Königs und die des Knollenkampbauers. Kraft ihrer und in Kraft des Gesetzes: du wirst vom Hof gefegt wie 'ne Hergelaufene, es sei denn: der Paragraph wird beglichen.«

»Es gibt noch Richter in Kleve, und ich weiß meine Rechte zu wahren.«

»Auch das noch?! Auch dagegen willst du anoperieren?!«

Er hatte Schaum auf den Lippen. Ein dünner Blutfaden rieselte aus der linken Mundecke nieder.

»Herr Jeses, auch das noch?! Jean Baptiste, Grades und Hendrik, ihr seid meine Zeugen! Hörst du das, Grades? Hörst du das, Hendrik?! Ist so was schon seit Jahren und Tagen geschehen?! Hier in der Gegend? Hier, wo sich kein Strunk verrückt, kein einziger Ziegel, um sich in andermanns Hände zu schleichen? Seit Anno 1635 hat der Hof schon bestanden, und nun will die Tochter von Stäwe Donsbrügge kommen ... Es macht mich marode. Es drückt mir die Luft ab. Mir ist so, als würde 'ne Totenglocke geläutet.«

»Vater, ich bitte dich, Vater!«

»Hier ist nichts mehr zu bitten und nichts mehr zu sagen! Du willst mich zum Totschläger machen. Das kann immer passieren ...«

Seine verklammte Faust streckte sich aus.

Ein wuchtiger Stuhl schwebte zwischen Decke und Diele.

»Modder und Morast auf den Kopf! Hurra, im Namen des ewigen Satans und der Dreieinigkeit Gottes!«

Das schwere Gerät sollte fallen.

Da drehte sich Stäwe Donsbrügge um seine eigene Achse, und bevor noch die Ärmste es verhindern konnte, war er krachend zu Boden geschlagen, die Augen verglast, die Urkunde zwischen den vertrockneten Fingern ... und der Himmel spaltete und öffnete sich und rollte seinen furchtbarsten Donner über den unseligen Hof hin. –

Ja, sie erinnerte sich, und die Stunde stand vor ihr, als wäre sie aus hartem Porphyr geschlagen, unvergänglich und mit gefühllosem Meißel.

Langsam erschlossen sich ihre Blicke.

Die Hand ruhte noch immer auf dem entsetzlichen Schriftsatz.

Die Herrin des Hofes und doch nicht die Herrin ...

Hinter ihr tat die Uhr ihren gewöhnlichen Gang, als wäre gar nichts geschehen, als hätte der Herr nur mit der Wimper gezuckt und eine nichtige Handvoll Ähren achtlos auf die Seite geschoben. Die Bäume da draußen wisperten wie sonst, die liebe Mittagssonne sah freundlich ins Zimmer. Etliche Schippen Kirchhofserde brachten alles ins gleiche. Vor dem Allmächtigen war der selbstbewußte Knollenkampbauer auch nur ein Sterblicher, nur ein Federspiel im Winde gewesen. Er wertete vor ihm nicht mehr und nicht weniger als ein Quentchen Chausseestaub. Auch ohne ihn ging die Welt nicht aus Angeln und Fugen. Die Hofleute kehrten von dem Beerdigungsgang zurück wie von einer gewöhnlichen Arbeit.

Unter ihnen Jan-Ohme.

Er war schwer in Gedanken.

Feierlich schritt er auf die Freitreppe zu – ganz dusemang und fortepiano, um mit einem tiefen Seufzer über die Schwelle zu treten.

Anna Donsbrügge hörte ihn kommen.


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