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Nachdem die Tunnelfrage in befriedigender Weise gelöst und der Fortgang der Arbeiten gesichert war, hatte Sohm sich in Schmalbrück im Hotel Leberecht eingemietet. Hier hoffte er, die sehnlichst erwartete Nachricht von Wera baldigst zu erhalten. Die größere Nähe des Ortes am Gletscher war ihm der Versuche wegen erwünscht, die er mit seinem neuen Apparat anstellte. Dieser hatte sich vortrefflich bewährt. Zwar das Wetter war fortwährend ungünstig, kalt und windig. Doch gestattete es immerhin das Herumsteigen auf den Bergen.
Heute hatte er bestimmt auf eine Botschaft von Wera gerechnet, aber wieder war er enttäuscht worden. Er begann, sich zu beruhigen, doch er tröstete sich mit Weras Telegramm: »Ängstige dich nicht um mich.« Er nahm an, daß sie sich in einen jener einsamen Orte, vielleicht auf eine der Klubhütten, zurückgezogen hätte, von denen die Verbindung mit der Außenwelt nur durch Boten möglich ist. Aber jedesmal, wenn der Sturm einhersauste, der jetzt mehrfach Schneefälle mit sich brachte, erwachte in ihm der Gedanke, daß Wera ein Unglück zustoßen könne. So heute Abend, als nach leidlichem Tage plötzlich ein Unwetter über Schmalbrück hernieder gebraust war, das die Fremden, deren Zahl sich schon gelichtet hatte, in Ärger und Schrecken versetzte.
Von der Hotelgesellschaft hatte sich Sohm ganz ferngehalten. Auch jetzt, ermüdet von seinem Umhersteigen auf dem Gletscher, war er zeitig auf sein Zimmer gegangen, um die Ruhe zu suchen.
Der Sturm hatte sich gelegt. Dennoch fand Sohm keinen erquickenden Schlaf. Er dachte an Wera und fuhr mitunter erschrocken empor, wenn er im Halbschlummer ihr Bild vor sich sah, als riefe sie ihn – Wo mochte sie sein? War er ungerecht gegen sie gewesen? Doch nein, jetzt nicht grübeln! Schlafen, schlafen!
Um seine Gedanken abzulenken, richtete er sie auf den Erfolg seiner heutigen Tätigkeit. Er konnte zufrieden sein. Eine stattliche Anzahl Flaschen, sorgfältig etikettiert und in Watte verpackt, lagen in den Fächern seines Kastens verwahrt. Das gab eine interessante Analyse für Wera – –
Wieder Wera! Schlafen, schlafen!
Auf einmal war es ihm, als klänge es ganz leise aus seinem Kasten wie ein Seufzer. Noch einmal! Und dann glaubte er eine feine Stimme zu vernehmen – deutliche Worte:
»Laß mich heraus! Bitte, laß mich heraus!«
»Spricht da jemand?« stieß Sohm hervor. »Wer denn nur? Ist jemand hier?«
»Ich bin's, die Wolke.«
»Wolke? Kenn' ich nicht. Aber wenn sich jemand hier einen schlechten Witz machen will, so ist jetzt nicht die Zeit. Wo steckt denn der Störenfried?«
»Hier im Glase, im Kasten.« Ganz deutlich klang es jetzt aus der Richtung, wo die Kiste stand. »Eine Wolke bin ich, König Migros Tochter.«
»Verrückter Traum! Muß ich doch einen Moment eingenickt sein«, brummte Sohm und drehte sich auf die andere Seite.
Aber aus dem Kasten klang es weiter, leise, doch vernehmbar:
»Eine Wolke bin ich. Gefangen ward ich durch meine Neugier. Ganz aufgelöst zog ich oben am Firnfeld, unsichtbar ausgebreitet zum leichtesten Hauch. Da erblickte ich dich und den andern und das glitzernde Rohr. Und wissen wollt ich, was der fürwitzige Mensch anhebt in unserm Reiche. Ich schwebte näher an die Dinge, die ihr aufgestellt hattet, und da ihr nicht nahe dabei standet, glitt ich mit der Luft hindurch und spähte durch die lichte Wandung. Und auf einmal war die enge Tür geschlossen, ich konnte nicht fort. Du aber packtest mich ein, und finster ist es seitdem – ich will hinaus aus dem Dunkel!«
»Eine dunkle Sache ist das freilich«, sagte Sohm und richtete sich auf. »Aber man soll alles objektiv betrachten. Dann muß sich's ja zeigen, daß ich bloß subjektiv träume. Also eine Wolke bist du?«
»Ja.«
»Du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß eine Wolke in einem Glase von 300 Kubikzentimeter Inhalt Platz habe, bei dem mäßigen Druck, den das Glas aushält?«
»Ich bin ja auch nicht die ganze Wolke, die du gefangen hast. Noch schweb' ich droben um den Fuß des Blankhorns frei in der Weite, noch kann ich als Nebel durch die Ritzen des Hauses dringen, aber nicht durch das Glas. Zum Unglück war es gerade ein Teil meines Herzens, den ich in der Flasche gesammelt hatte. Und den will ich wieder haben, denn ich brauche ihn.«
»So? Also Wolken haben Herzen. Ist mir als Meteorologe sehr interessant. Aber nun ist's genug! Wolken sind überhaupt nur Ansammlungen von kleinen kondensierten Wassertröpfchen, ihre Gestalt ist ganz abhängig von den äußeren Wirkungen der Umgebung, sie haben keine individuelle Einheit; sie sind selbstverständlich keine organisierten Wesen, haben also auch kein Herz, noch viel weniger, wie du es zu verstehen scheinst, Leben und Seele; sie haben kein Bewußtsein, keine Freiheit, keine Könige und Prinzessinnen, und du bist weiter nichts als ein Spiel meiner Einbildung. Und somit laß mich jetzt in Ruhe.«
»Ich denke,« erwiderte Aspira, »man muß alles objektiv betrachten. Das ist nun zwar sonst nicht gerade Wolkensache, aber mit mir ist es etwas Besonderes. Mein herz nämlich kann mitschwingen mit allen Regungen deines Nervensystems, und so kann ich deine Gedanken verstehen und kann in deiner Sprache mit dir reden.«
»Unsinn!«
»Etwas höflicher könntest du schon mit einer Wolkenprinzessin reden.«
Ein gewaltiger Windstoß erschütterte das Fenster. Sohm fuhr auf.
»Laßt es gut sein draußen!« ertönte Aspiras Stimme. »Mit Gewalt ist nichts auszurichten, das Haus ist zu fest. Ich muß mit dem Menschen gütlich verhandeln.«
Sogleich schwieg der Sturm. Sohm lauschte eine Weile, und da sich nichts regte, streckte er sich wieder hin und dachte: »Das kommt nun davon, du böse, geliebte Wera, von deiner Geistertheorie! Nun träume ich auch schon von Wolkenseelen!«
»Willst du mich nicht herauslassen?« klang es wieder aus dem Kasten.
»Ich denke gar nicht dran. Aber wenn ich einmal den Traum nicht los werden kann, so rede meinetwegen weiter. Ich schlafe ja.«
»Wenn ich dir aber beweise, daß ich eine Wolke bin?«
»Beweise muß man achten. Immer zu!«
»Du behauptest, Wolken seinen nur Anhäufungen von Tröpfchen und keine lebenden Wesen? Was bist du denn? Eine Anhäufung von Teilchen derselben Elemente, nur ein bißchen mühsamer zusammengesucht. Da müssen sich erst die komplizierten Eiweißklümpchen balanzieren und Zellen bilden und sich teilen und differenzieren – bei uns ist das alles viel einfacher. Und du sagst, wir hätten keine innere Einheit? Woher willst du das wissen? Zerfließt ihr nicht auch und fließt wieder zusammen aus den Elementen? Ihr atmet und eßt und trinkt und erneuert euern Leib in jedem Augenblick; bei uns geht das nur alles viel schneller. Deswegen bestehen wir doch im Wechsel. Wer gab dir denn deine Gestalt und deine Organe, Haut und Nerven, Blut, Muskeln und Knochen? Wir, die Luft, das Wasser und die Erde und die strahlende Sonnenmutter. Wer formte sie? Niemand anders als das Zusammenwirken der Gesetze in meines Vaters Reiche, die diese Elemente verbanden und mit der Umgebung in einen Austausch der Kräfte setzten. Dadurch mußte in ungezählten Generationen sich diese Gestaltung erzeugen, die ihr einen Menschenleib nennt, und erzeugt sich immer wieder nach gleichen Gesetzen, wenn auch immer wieder ein wenig anders unter dem wechselnden Einfluß der Umgebung. Denn ihr seid eben nur Versuchsobjekte der Natur, an denen sie herummodelt, weil sie nie mit euch zufrieden ist – höflicher gesagt, weil sie aus euch noch etwas ganz Großes machen will. Auch dein Leben ist abhängig von der Umgebung. Steige doch mit mir in die Höhe des Äthers, wir wollen sehen, wer besser lebt. Auch wir bilden uns aus dem Zusammenwirken des eignen Gesetzes mit der Umwelt, genau wie ihr. Nur weil wir einfacher sind, sind wir de Natur bald gelungen. Wir zerfließen schneller und bilden uns schneller, aber die Einheit des Gesetzes halten wir fest. Unter gleichen Bedingungen sind wir wieder dieselbe Wolke, wenn auch unabhängig von unsrer Gestalt. Ja wir können uns teilen, und verlieren doch unsre Einheit nicht. Unsre Einheit ist anders als die eure, aber warum soll es keine Einheit sein? Hast du doch dafür ein Wort und einen Begriff, warum also sollen wir darin nicht eine Seele haben?«
»Allen Respekt, Hoheit Wolke, vor deinen Deduktionen! Wenn das so ist, dann kann dir's ja auch ganz gleich sein, ob ich hier ein paar Milligramm Wasserdampf in meiner Röhre habe, oder nicht.«
»Ich sage dir ja, das gehört gerade zu meinem Zentralorgan, das wir das Wolkenherz nennen.«
»Siehst du, da hab ich dich! Eine solche Zentralisation bei euch ist gar nicht denkbar.«
»Das ist eben unsre Streitfrage. Weil die Meteorologie sie bis heute nicht entdeckt hat, soll sie nicht denkbar sein! Ich sage dir, es gibt in allen atmosphärischen Bildungen gewisse formsetzende Gruppen, gasförmige Kristalle, Spannungssysteme des Äthers, die unsre Einheit bedingen. In ihnen treffen sich und regulieren sich die Spannungen, die bei allen Kondensationen und Verdunstungen unsrer Teilchen maßgebend sind. Es ist schließlich nichts andres, als was auch in euerm Nervenapparat vor sich geht, nur ungleich einfacher, weiter und schneller wirkend. Das hindert nicht, daß dieses Organ teilbar ist wie wir selbst, wir sind eben keine Zellenwesen. Es gibt viel mehr Einheiten des Gesetzes, als ihr bisher habt entdecken können.«
»Das Letztere gebe ich ohne weiteres zu. So wäret ihr in der Tat in gewissem Sinne organisiert? Und dann könnte man euch auch eine Art Bewußtsein nicht absprechen. Nur wissenschaftlich beweisen läßt es sich niemals. Und deswegen kann ich darauf keine Rücksicht nehmen. Überhaupt – du bist gar nicht originell, das träume ich alles bloß, weil – –«
»So kann dir's ja auch gleichgültig sein, ob du mein Herz in deinem Glase hast, oder ein andres Quantum Luft.«
»Aber dir kann's auch gleichgültig sein. Es scheint doch, daß dein Zentralorgan auch noch durch das Glas und die Watte und Kiste hindurch dein Wolkenleben regieren kann.«
»Bis zu einem gewissen Grade, ja. Aber ich brauche dieses Stoffliche selbst zu einem ganz besondern Zwecke, den ich dir nicht erklären kann. Außerdem – wenn auch ein Wolkenherz in der Natur nahezu unsterblich ist, könnte es doch durch eure systematisch angewendeten technischen Mittel zerstört werden. Du willst mich doch mit fortnehmen zu irgend welchen Versuchen –«
»Allerdings. Meine Assistentin wird dich austrocknen, durch Kalilauge saugen, um die Kohlensäure zu entziehen, dann –«
»Höre auf! Was hast du davon? Gib mich frei! Verlange von mir, was du willst. Wir sind mächtig. Wir wissen viele Geheimnisse der Natur und der Menschen, oder können sie erfahren. Wir kennen in den Klüften der Berge seltene Gesteine und Metalle. Ich will sie dich finden lassen und dich zum reichsten Manne der Erde machen. Aber laß mich frei!«
»Wirklich? Ach sieh doch! Da hätte ich dich also, wie der Fischer in ›Tausendundeine Nacht‹ den Geist in der Flasche mit dem Siegel Salomonis. Da könnte ich vielleicht ein mächtiger Zauberer werden? Aber, liebe Wolke, solche Märchen glaube ich nicht. Und wenn ich einen Augenblick daran glauben könnte, so dürfte ich dich doch erst recht nicht frei lassen, denn dann hätte mein glücklicher Fund ja das höchste wissenschaftliche Interesse. Indessen –«
Es fiel ihm ein, daß dies doch nicht so fortgehen könne. Er mußte wenigstens morgen früh konstatieren können, daß er diesen ganzen logischen Gedankenbau nur geträumt habe. Er dachte wieder an Weras Phantasien. Gewiß, wenn er träumte, so würde das alles, was ihm jetzt so klar durch den Kopf ging, morgen als schönster Unsinn erkannt werden. Wenn er jetzt aufstände und sich ankleidete, dann müßte er doch morgen merken, ob er das nur geträumt habe.
»Warum sprichst du nicht weiter?« fragte Aspira.
»Ich habe mir überlegt,« sagte Sohm, »wenn du wirklich eine Wolkenprinzessin bist, so erfordert die Höflichkeit, daß ich deiner Flasche einen bevorzugten Platz anweise, und dazu muß ich doch erst etwas Toilette machen.«
Er drehte das Licht an und tat wie gesagt. Dazwischen fragte er:
»Wo war es eigentlich, wo ich dich einfing?«
Er glaubte nun, da er das Gefühl hatte, ganz munter zu sein, es werde keine Antwort mehr erfolgen. Aber es klang ganz deutlich aus dem Kasten:
»Am obern Rande des Gletschers, wo der schwarze Felsblock hervorragt.«
Sohm wußte nicht mehr, was er denken sollte. Doch er sammelte sich. Dort hatte er nur eine Probe entnommen. Es war sein höchster Punkt gestern, 3024 Meter. Die Flasche mußte leicht zu finden sein. Er öffnete die Kiste und erkannte sogleich die mit der Meereshöhe bezeichnete Flasche.
Er hielt sie gegen das Licht, natürlich ohne irgend etwas Besonderes sehen zu können. Aber fast wäre sie ihm aus der Hand geglitten, so schrak er zusammen, als deutlich, obwohl leise, dicht vor seinem Gesicht die Stimme erklang:
»Ja, ich bin es, laß mich heraus!«
Er schloß die Flasche in das Schreibpult, setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände.
»Du machst mich noch wahnsinnig!« rief er verzweifelt. »Es ist doch unmöglich! Wie kann eine Wolke solche verteufelt schlau geordnete Vorstellungen haben? Wie kannst du überhaupt reden!«
»Weißt du etwa,« tönte es aus dem Schreibtisch, »wie dein Bewußtsein mit deinem Körper verknüpft ist? Wie soll ich es wissen? Und das sagte ich dir doch, das Organ, wodurch ich mich dir verständlich mache, ist dein eignes Gehirn. Vermöge meines Zentralorgans löse ich in dem Deinen zentrale Reize aus. Du glaubst zu hören, wie du im Traume den redenden Freund hörst –«
»Also endlich! Gott sei Dank! So träume ich doch!«
»Nein, nein! Der Anlaß des scheinbaren Traums ist objektiv. Ich bin hier, das Wolkenherz! Gedenke der Schätze!«
»Still! Still! Ich habe wirklich andere Sorgen – ich muß Ruhe haben.«
Er legte sich wieder zu Bett. Aber Aspira ruhte nicht. Sie begann aufs neue:
»Wenn du keine Schätze willst – ich kann mehr geben. Erinnerst du dich, was du mit Wera Lentius von den Elementargeistern gesprochen hast?«
»Wera? Was? Wie kommst du dazu? Ach – das kannst du nicht wissen. Also habe ich jetzt den strengen Beweis, daß ich nur träume. Das stammt alles aus mir selbst.«
»Weißt du, wo Wera ist?«
»Nein!«
»Aber ich weiß es. Willst du mich frei lassen, wenn ich dir verspreche, sie morgen herzuführen? Morgen früh sollst du sie wieder haben.«
»Laß mich! Laß mich! Ich will wach sein.«
»Und ich muß hinaus. Wenn es nicht anders geht, so mußt du das Schreckliche vernehmen! Weißt du wo Wera ist?«
»Um Gotteswillen! Das wird ein Angsttraum!«
»Wenn du mich nicht frei läßt, ist sie verloren! Wera liegt draußen in der Gletscherspalte. Nur ich weiß den Ort. Nur ich kann sie retten! Aber nur, wenn ich mein ganzes Herz wieder habe!«
Sohm stieß einen Schrei aus und schlug mit den Armen um sich.
»Eile, eile, Paul Sohm! Weras Leben ruht in dieser Flasche!«
»Wahnsinn!« schrie er. Er raffte sich auf und nahm aus seiner Reiseapotheke ein Pulver. Er tat es in Wasser und trank es aus. Noch einmal hörte er Aspira rufen. Dann wirkte das Pulver. Die Stimme verschwamm undeutlich. Er hörte nichts mehr. Er schlief wirklich.