Kurd Laßwitz
Aspira
Kurd Laßwitz

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Berggeister

Noch lange zögerte Aspira, aufgelöst in den verschwindenden Weiten. Sie lebte in Erwartung des Zukünftigen, in Stolz und zagender Ungewißheit, und hoffte auf ein weiteres Wort der Erklärung. Aber die Stimme des Hohen war nicht mehr zu vernehmen.

Da zog sie ihre Teilchen zusammen und ward wieder schwer und sank hinab zur Erde. Und sie kam in das Reich des Vaters.

Wo das Atem des Erdballs sich verdünnt zur Leere des Weltraums, an den Grenzen des Luftmeers wohnt König Migro. Dort umspannt er das Rund der Erde, der Pförtner der Strahlung, die Erde und Sonne und all die Welten des weiten Himmels verbindet. Von dort wandern schwingende Boten zum dauernden Austausch der Kräfte rastlos ums Erdenrund. Tief unter ihm schweben Dünste und Wolken, unter ihm zucken von den Polen die glimmenden Lichter, ihn trifft ungeschwächt die Fülle der Sonnenbotschaft. Und er verteilt die Gaben des beherrschenden Glutballs an die Stoffe des Planeten, daß sie wallen und wandern in der Elemente Gewalt und sich einen und lösen im feinsten Gliederbau geordneter Zellen.

Der Vater empfing Aspira mit freundlichem Ernste.

»Vom Hohen kommst du«, so sprach er, »mit wundersamer Bitte, mit seltener Erlaubnis.«

»Ja, Vater, der Hohe erlaubt mir, in das Reich der Freiheit zu treten aus meinem Reiche der Notwendigkeit, wenn du mir den Menschenleib gewähren willst, dessen ich bedarf.«

»Wisse, mein Kind, was mir von den Menschen bekannt ist, das ist nur das Spiel der Stoffe und Kräfte in den Zellen ihres Leibes. So weiß ich auch nur, wie du dich mit diesem Leibe verschmelzen kannst. Dein Wolkenkörper ist durchstrahlt von einem schwingenden Äther, dessen Spannung deine Teile zu einer Einheit verbindet, und mögen sie durch die Räume der Welt verstreut sein. Ihr nennt ihn das Wolkenherz, und in ihm liegt dein Leben als Wolke. Dieses Wolkenherz kann sich verschmelzen mit dem Menschenhirn, das des Menschen Leib und Leben regiert. Und ich weiß, wie sie sich wieder trennen können, ja auch, daß sie noch vereint bleiben können, wenn dein Leib wieder die Form der Wolke angenommen hat.«

»So kann ich auch eine Wolke sein mit der Seele des Menschen?«

»Was das bedeutet, weiß ich nicht. Was in der Seele des Menschen vorgeht, kann ich nicht verstehen und es geht mich nichts an. So weiß ich auch nicht, was deine Seele fühlen mag, wenn du ein Mensch bist. Denn mein Reich ist das der Notwendigkeit und nicht der Freiheit. Und ich weiß nur, daß die getrennten Reiche verbunden sind durch die Brücke der Erkenntnis, wie der Hohe dir offenbarte. Die Menschen können sie betreten und dadurch Macht gewinnen über unser Reich. Dann zürnen ihnen unsre Geister. Was aber die Menschen dabei erleben, ist uns unbekannt. Vielleicht will der Hohe, daß auch wir erfahren von dem unbekannten Leben der Menschenseele. Dazu muß einer der Unsern Mensch werden. Das aber können nur die Königswolken. Und auch diese nur, wenn in ihnen die Sehnsucht rege geworden ist nach dem Reiche der Freiheit, wenn sie mutig genug sind die Brücke der Erkenntnis zu betreten. Es ist eine seltene Gnade, die der Hohe dir gewährt. Doch was dann an Leid oder Lust die Seele durchbebt, das weiß niemand von uns Geistern der Natur.«

»Der Hohe selbst hat mich gewarnt. Doch, Vater, wenn ich es darf, so will ich es. Ich habe den Mut.«

»Zwei Tage mußt du warten und still ruhen, um dich zu prüfen. Und beharrst du dann in deinem Entschlusse, so magst du am Morgen des dritten Tage hinabgehen als Mensch zu den Menschen.«

»Ich werde gehorchen. Doch sage mir, wie alles geschehen soll!«

»Ich will es dir künden. Mit deinem Wolkenherzen wirst du hineinziehen in den Leib eines Menschen, der im Schlafe der Erstarrung dich aufnimmt. Dann wird der Leib des Menschen dein sein mit alles, was der Mensch durch sein Leben erworben hat, soweit dein Wolkenherz ihn zu durchdringen vermag. Und soweit wird auch seine Seele die deine sein. Dann bist du ein Mensch unter Menschen.«

»Und kann ich wieder zurückkehren als Wolke?«

»Du kannst es, so oft du willst, doch nur auf kurze Zeit. Dann mußt du dich niederlegen mit deinem Menschenleibe an verborgener Stelle dieses Bergreichs, das deine Heimat ist, und in den Schlaf der Erstarrung versinken. Und dein Atem wird entweichen als Wolke zugleich mit der Menschenseele. Und du wirst sein eine Wolke mit der Seele einer Wolke und dem Geiste eines Menschen zugleich. Der Leib des Menschen aber liegt inzwischen erstarrt in den Bergen. Darum hüte dich, daß du nicht zu lange als Wolke säumst, damit nicht etwa inzwischen der Leib des Menschen Schaden nimmt; sonst kannst du nicht wieder Mensch werden. Und hüte dich, daß von deinem Wolkenherzen nichts verloren geht; sonst kannst du nicht wieder eine reine Wolke werden. Denn wenn du wieder frei sein willst in unserm Reiche, so mußt du dem Menschen alles zurückgeben, was du mit deinem Wolkenherzen vermischt hattest. Kannst du das nicht, so stirbt der Mensch und du bleibst eine Menschenwolke.«

»O mein Vater, es ist ein gefährliches Wagnis.«

»Darum hast du Bedenkzeit. Und wisse noch dies: Es ist dir verboten, den Menschen zu verraten, daß du eine Wolke bist.«

»Warum das?«

»Der Hohe will's.«

»Und was für ein Mensch werde ich sein, o Vater?«

»Einer von denen, die in der Frühe des dritten Tages heraufkommen in die Berge. Ich sage dir, daß ich die Seelen der Menschen so wenig kenne, wie irgend einer von uns Geistern der Natur. Darüber vermag ich nichts. Doch seinen Leib können wir beschützen. Auch dich, meine Tochter, werden wir hüten mit unsrer Macht, solange du in Menschengestalt wandelst. Du wirst einen andern Namen haben als Mensch, uns aber bleibst du Aspira. Migros Segen geleitet dich. Und faßt dich ein Leid um der Menschen Not, so fliehe zurück in unser Reich. Und nun ziehe hin, mein Kind, und entschließe dich. Am Morgen des dritten Tages werde ich dich wieder hören.«

Da sank Aspira hinab in die Schlucht am Blankhorn und barg sich vor den ersten Strahlen der Sonne, die das weiße Haupt des Bergriesen vergoldete.

Wieder leuchteten die hohen Schneeberge im Sonnenschein.

An der dunkeln Felswand, die zum Firnfeld des Blankhorns abstürzt, erwachte der Nachtreif und begann mit feuchtem Augenaufschlag ins Tal hinabzuglänzen. Unter den Schneeresten wurde ein kleines Rinnsal lebendig; das tropfte leise auf die Streifen der gelbbraunen Flechten hernieder.

»Sehr ihr nichts?« knurrte der Fels.

»Es sind Wolken über dem Gletscher,« sagte der Nachtreif schüchtern.

»Das weiß ich selbst. Aber ob Aspira darunter ist, das kann ich nicht unterscheiden. Wozu seid ihr denn naß, wenn ihr nicht zwischen dem Wolkengewimmel hindurch sehen könnt?«

»Wen meinen Sie denn mit dem »ihr«,« tönte es von den Flechten. »Wir sind nämlich auch hier und wir sind auch naß, aber etwas mehr Höflichkeit möchten wir uns doch ausbitten.«

»Sie meine ich freilich nicht,« polterte der Fels. »Das weiß ich schon, daß Sie nichts Rechtes sehen können mit Ihrem gefärbten Zellenleibe. Jetzt tun Sie groß, aber warten Sie nur, bis die Schneereste fort sind und Sie austrocknen.«

»Das tut uns nichts, höchstens ruhen wir dann ein Weilchen. Es ist ja hier dafür gesorgt, daß es Feuchtigkeit genug gibt. Der Nebel und der Herr Nachtreif genügen uns vollständig.«

»O bitte,« sagte der Nachtreif geschmeichelt, »ich tue es gern.«

»Sieh dich lieber um,« brummte der Fels, »ob du nicht Aspira erblicken kannst.«

»Ich sehe nichts. Vielleicht ist schon alles vorüber.«

»Was soll denn vorübersein?« fragte das Rinnsal.

»Das weißt du nicht?« rief der getaute Nachtreif.

»Das weißt du nicht?« rief der Schnee entrüstet.

»Das weißt du nicht?« brummte sogar der Fels verächtlich.

»Aber ich bin doch eben erst ganz neu geboren,« klagte das Rinnsal zaghaft.

»Geschmolzen, meinen Sie,« sprachen die Flechten. »Sie scheinen ein kurzes Gedächtnis zu haben. Sie waren doch vorher Schnee, und da wußten Sie sicher, wer Aspira ist.«

»Ach, Aspira? Des Königs Migro kluge Tochter? Die kenn ich freilich. Was ist mir ihr?«

»Na, das könnten Sie doch auch wissen,« sagten die Flechten. »Das ganze Bergland redet ja darüber, vom Blankhorn bis unten zu den Maulwurfshaufen. Jeder Tropfen kümmert sich darum. Wir sind genug mit der Geschichte gelangweilt worden, und wir glauben kein Wort davon.«

»Seien Sie nicht zu vorlaut,« knurrte der Fels die Flechten an.

»Der Schnee, von dem das Rinnsal kommt, liegt noch vom vorigen Herbst hier ganz unten in der Spalte, da ist von den neuesten Geschichten noch nichts hingedrungen. Und wenn Sie's nicht glauben wollen, so können Sie mir leid tun.«

»So sagt mir doch, was mit Aspira ist,« bat das Rinnsal.

»Mensch wird sie!« riefen Fels und Schnee und Nachtreif.

»Unsinn ist es, das geht gar nicht,« sagten die Flechten.

»Unsinn mag's sein, aber es geht,« entschied der Fels. »Das weiß ich genau. Der Morgenwind hat mir's gestern erzählt.«

»Da haben wir's auch gehört,« riefen die Flechten.

»Sie werden's eben nicht verstanden haben.«

»Erlauben Sie. Wir wohnen zwar schon über tausend Jahre bei Ihnen, aber Sie haben unsre Leistungen und Verdienste noch immer nicht schätzen gelernt.«

»Bitte sehr, ziehen Sie ruhig aus!« brummte der Fels. »Ich brauche Ihre Zellkriecherei und die ganze Familienwirtschaft nicht.«

»Familienwirtschaft ist gut. Damit gestehen Sie eben, daß wir etwas Höheres sind. Wir sind ein wirtschaftlicher Verein. Wir sind Pilze, die Algenzucht treiben, damit wir leben können. Und dafür wollten Sie uns dankbar sein. Denn nur durch unsre gemeinsame Arbeit können wir Sie annagen und zerlegen. Und wenn wir das nicht täten, würden Sie niemals Humus werden und zu etwas nütze sein. Hätten Sie sich nicht so hoch oben plaziert mit so steilem Abfall, so könnten Sie längst eine anständige Viehweide oder gar ein Wald geworden sein.«

»Sie sind wirklich eine unverschämte Gesellschaft. Ich werde Sie mit dem nächsten Bergsturz abschieben.«

»Das ist uns eben recht, da kommen Sie Ihrem Ziele näher.«

»Ziele? Was ist das für ein Unsinn. Kenne ich nicht.«

»Das glauben wir! Das verstehen nur die Zellenwesen. Sie wissen nicht einmal, daß Sie Humus werden sollen, Dammerde, fruchtbarer Talboden. Dazu wollen wir Ihnen verhelfen.«

»Ich will nichts. Ich bin hier oben und bleibe hier, das Hinab und Hinauf können die Wolken besorgen. Liegen sie denn immer noch da unten?«

»Ich kann noch nichts sehen,« sagte das Rinnsal.

»Vielleicht ist doch schon alles vorüber,« wiederholte der Nachtreif. »Aber ich werde es bald wissen. Ich werde gleich verdunstet sein, und dann kann ich hinüberfliegen.«

»Aber bei mir dauert's noch lange, bis ich hinunterkomme, und dann sehe ich nichts mehr, ich möchte doch hören, wie den Aspira Mensch werden kann.«

»Solange die Wolken unten sind, wird's noch nicht vorübersein. Der Morgenwind hat mir versprochen, sogleich heraufzukommen und mir alles zu erzählen, sobald's vorbei ist.«

»Wie soll denn eins von Ihnen Mensch werden?« riefen die Flechten. »Wir wissen doch, wie das bei den Zellenwesen ist, denn wir sind selbst welche. Der Mensch ist auch nichts als eine höhere Flechte – was man so höher nennt. Eigentlich sind wir die höheren, aber weil er herumlaufen kann, so – na, darüber will ich nicht streiten. Aber das weiß ich, daß bei ihm zwei dazu gehören, wenn ein neuer Mensch werden soll. Das ist also gerade wie bei uns. Unsere grünen Algen allein bringen keine Flechte zustande, und unsere Pilzsporen allein auch nicht. Erst wenn sie sich zusammentun, wird wieder eine neue Flechte daraus. Beide aber sind Zellenwesen. Wie soll denn von Ihnen ein Mensch kommen, da Sie gar keine Zellen haben?«

»Das mag bei Ihnen so sein,« sagte der Fels. »Wir können vieles allein, wozu Sie sich erst zusammentun müssen. Aber das muß ich zugeben: für gewöhnlich können wir keine Menschen werden. Wir Felsen und Berge, und die Gletscher und der Wind und das fließende Wasser, die können's überhaupt nicht. Nur die Wolken können's, und auch von denen bloß die Königswolken. Und der Morgenwind hat einiges gehört, wie Migro mit seiner Tochter sprach, die seit zwei Tagen in der Schlucht liegt, denn er mußte eine Botschaft zwischen ihnen tragen. Ich will es dem Rinnsalchen mitteilen, damit es Bescheid weiß. Und wenn Sie's schon einmal gehört haben, so ist mir das egal.«

Der Fels nahm eine noch steifere Haltung an und fuhr dann fort: »Ich bin zwar nur ein kleiner Teil vom Blankhorn, das alles weiß –« die Flechten räusperten sich höhnisch – »aber ich weiß doch auch allerlei. Die Wolken haben nämlich etwas voraus vor uns andern Erdgeistern, sie sind so etwas für sich, ja, na, so wie die Menschen auch sein sollen, – sie haben auch einen Namen dafür –«

»Den haben Sie aber vergessen,« mischten sich die Flechten ein. »Wir Zellenwesen sind nämlich Individuen. Sie, meine Herrschaften, sind immer nur ein Stück von etwas anderem. Sie sind ein Stück Fels, und Sie ein Stück Wasser, und der Wind ist ein Stück Luft. Wir aber, die Pflanzen und die Tiere, sind etwas für sich, jeder was Eigenes. Und das nennt man ein Individuum. So was ist der Mensch auch.«

»Das weiß ich natürlich,« rief der Fels. »Seien Sie doch schon still! Also die Wolken sind solche Dinger. Sie können wachsen und können abnehmen und sich so dehnen und so, und sich auflösen und wieder sammeln, aber sie bleiben immer eins dabei. Darum kann eine zu einem Menschen werden, wenn sie einen lebendigen Menschen findet und ihr unsichtbares Wolkenherz mit dem Menschenherzen mischt.«

»Ich weiß nur nicht,« begann der Nachtreif, »was eine Wolke davon haben kann, ein Mensch zu werden. Denn sie ist doch etwas Höheres.«

»Freilich ist sie das,« fuhr der Fels fort. »Die Menschen sind eben traurige Maschinen wie die Tiere – unterbrechen Sie mich nicht, Sie Flechtenwesen – sie sind alle aus einer Form gebacken wie die Käfer. Und dabei wollen sie den Langberg anbohren, vielleicht sogar uns selbst, das Blankhorn. Ich kann ja freilich nichts dagegen tun, ich bin nur ein Felsen und kann mich wenig rühren, ich kann nur schimpfen. Aber der Gletscher, der sich fortwährend wandelt und wandert, und die Wolken, die schweben und weben in tausend Gestalten, sollen sie sich den Menschen nahe kommen lassen, der immer derselbe ist? Sieh den Toni, wenn er mit dem Strick und Eisbeil herumsteigt, immer hat er zwei Arme und zwei Beine und denselben Kopf, und der Hans und der Peter drüben auf der Alp sieht ebenso aus. Hast du jemals gesehen, daß ein Mensch sich in drei Beine gespalten hat, oder in Streifen in der Luft zerflossen ist? Ist's nicht so?«

»Das ist schon richtig,« fielen die Flechten ein. »Darin sind wir eben die Höheren, wir brauchen uns nicht so einzuschränken.«

»Na, also!« fuhr der Fels fort. »Maschinen sind sie. Die Nebeltante erzählt uns ja immer, so oft sie drüben zwischen den großen Häusern in Schmalbrück liegt. Mittags klingelt es und abends wieder; dann müssen sie allerlei Zeug in sich hineinstecken, sonst können sie nicht mehr kriechen.«

»Aber,« fragte das Rinnsal, »wenn die Menschen so närrisch sind, was kümmert ihr euch um sie?«

»Närrisch sind sie wohl nicht bloß, es muß noch etwas hinter ihnen stecken. Mir kann's ja gleich sein, aber den Wolken ist's wohl nicht gleich. Sonst würde doch der Hohe Aspira nicht zu den Menschen schicken.«

»Na,« meinte der Nachtreif, »das ist vielleicht eine Art Strafe.«

»Warum denn?« fragte das Rinnsal.

»Nimm dich in acht, Kleines,« sprach der Nachtreif im Verdunsten, »daß dir's nicht auch so geht. Wegen des »Warum« wurde Aspira weggeschickt, weil sie immer diese dumme Frage hatte. Sie wollte allemal einen Grund wissen. Und ein Grund, das ist so was Menschliches, das wollen die Menschen auch überall haben. Eine richtige Wolke hat keinen Grund.«

»Es ist auch Blödsinn,« brummte der Fels wieder. »Man ist eben, und damit ist's genug. Aber Aspira fragte immer: »Warum steigen die Menschen auf die Berge? Warum macht sich der Vetter Kumulus unten so breit und oben so rund? Warum kann ich mich ausdehnen und zusammenziehen? Warum können die Menschen nicht fliegen?« Da wurde Migro einmal ärgerlich und rief: »Wenn du jetzt noch einmal Warum fragst, so kannst du unter die Menschen gehen, dann da paßt du hin.«  »Warum?« fragte Aspira. Und da mußte sie fort, da mußte sie ein Mensch werden.«

»Na, na, na!« riefen die Flechten. »Da reden Sie wieder einmal rechten Unsinn. Der Morgenwind hat es ganz anders erzählt. Eine Belohnung ist's für Aspira durch den Hohen selbst. Sie soll einmal erfahren, was sonst nur die Menschen wissen. Und daß die allerlei verstehen, das haben Sie ja selbst zugegeben. Da fragen Sie doch einmal den Nachtreif.«

»Wo ist denn der Nachtreif hin?« rief der Fels.

»Verdunstet! Er hat sich dünn gemacht.«

»Wirklich! Doch seht, da lichten sich die Wolken. Da muß es geschehen sein. Nun wird der Morgenwind gleich erscheinen. Drüben auf der Alp wogt schon das Gras. Da werden wir ja hören, was mit Aspira geworden ist.«

Klar im Sonnenschein lagen jetzt die Gletscher und das Tal mit den grünen Matten und den dunklen Fichtenwäldern und dem blauen See. Und der Morgenwind strich über Flechten und Fels.

»Kommt spät,« brummte der Fels. »Die Sonne steht schon hoch.«

»Ich mußte mich solange verweilen, wenn ich alles selbst sehen wollte. So schnell geht das nicht, wie man sonst wohl einmal einen Menschen abstürzen läßt. Sämtlichen Luftgeistern hatte es Migro selbst eingeschärft, sie mußten den Menschen aufs zarteste behandeln. Denn wenn ihm irgend ein Schaden zugestoßen wäre, so hätte Aspira darunter zu leiden gehabt.«

»Hier der Fels behauptet,« mischten die Flechten sich ein, »Aspira sei zur Strafe Mensch geworden. Wir hatten Sie aber dahin verstanden, daß es zur Belohnung sei.«

»Unterbrechen Sie gefälligst den Morgenwind nicht,« polterte der Fels. »Er spricht zu mir.«

»Lassen Sie mich darüber hinweg fächeln,« säuselte der Morgenwind. »Keins von beiden ist ganz zutreffend. Es handelte sich vielmehr um eine Bitte von Aspira. Was aber diesem etwas wolkenhaften Wunsche zugrunde liegt –« der Morgenwind zog einen kleinen graziösen Wirbel, der alles sagen sollte, was er nicht wußte – »so darf man sich darüber nicht aussprechen. Es handelt sich da um Verhältnisse, die nur den höchsten Kreisen bekannt sind. Kommen wir lieber zur Sache.«

»Das denk' ich auch,« brummte der Fels. »Wie war's denn?«

»Zwei Tage hatte Aspira Bedenkzeit, aber sie blieb dabei, ein Mensch zu werden. Heute war der Morgen des dritten Tages. Vom Blankhorn bis zum Großblick lauerte die ganze Wolkensippe schon vor Sonnenaufgang, daß ein Mensch sich blicken ließe, der König Migro für Aspira gut genug schien. Aufgelöst hatten sich alle in der Luft, daß es ganz klar war und das erste Frührot glückverheißend heraufdämmerte.«

»Werden Sie nicht zu poetisch,« murmelten die Flechten leise.

»Wenn Sie es gesehen hätten, das schöne Menschenweib! Dort drüben kam sie heraufgestiegen auf dem Wege von Schmalbrück am Abhange des Langbergs. Dann betrat sie das Band über dem Gletscher, wo die weißen Blumen stehen. Kräftig schritt sie dahin, den Bergstock in der rechten, in der linken Hand trug sie eine Mappe. Und wo das Band endet, ist eine Höhle im Felsen, da drinnen ist es dämmrig und kühl. Sie aber setzte sich vor die Höhle auf einen Stein und hüllte sich in ihr Tuch. Und mit den großen braunen Augen blickte sie hinüber zum Blankhorn und den Eisriesen, ganz allein im weiten Wolkenreich. Und die Sonne ging auf und strahlte auf die Kette, und all die Gipfel leuchteten rosig, und die Augen des Mädchens glänzten noch mächtiger und herrlicher als die schimmernden Riesen der Luft.

Da winkte Migro. Und plötzlich stieg die Wolkensippe vom Gletscher herauf als ein dichter Nebel. Und mir winkte er. Da mußte ich hineinblasen mit meinem kältesten Atem und die Nebel vor die Höhle treiben, daß die Schneeflocken und das schöne Menschenkind wirbelten. Da stand sie auf und zog sich in die Höhle zurück und lehnte sich an die Steine. Aber Aspira flog ihr nach und hüllte sie ein, daß sie in Kälte erschauerte. Sie schloß die Augen und sank langsam um, ganz sanft, denn Aspira schützte sie und trug sie. So lag sie erstarrt, wie schlafend, in ihr Tuch gehüllt. Die Mappe lag neben ihr, und die schönen, dunklen Locken quollen unter dem Hut hervor, und ich habe sie bewegt, leise, ganz leise, als wären sie lebendig.

Da floß Aspira in sie hinein und mischte ihr Wolkenherz mit dem Menschenherzen.

Und Migro winkte wieder. Da mußte wir alle hinweg, eilends. Die Wolken lösten sich auf und die Sonne schien wieder klar und die Luft in der Höhle erwärmte sich.

Ich aber flog zuletzt fort und sah noch, rückwärts blickend, wie die Gestalt des schönen Mädchens aus der Höhle trat und sich umschaute. Sie sah aus wie der Mensch, der sich vorhin hineinbegeben hatte, aber ich weiß, daß es Aspira war.

Ich grüßte sie mit meinem mildesten Hauche und eilte hierher.«

»Und Aspira –?«

»Blickt dort hin! Weiter unten! Schon am Waldrand – da steht sie noch –«

»Sie winkt!«

»Und jetzt, jetzt verschwindet sie hinter den Bäumen.«

»Horcht, horcht!«

»Es schwebt von ferne wie eine Menschenstimme –«

»Es hallt wider von den Bergen – die Alten rufen Aspira den letzten Gruß – –«

»Lebt wohl! Ich fliege.«

Und der Morgenwind hob sich aufwärts zum Schneehaupt des Blankhorns.

Aspira aber wandelte zu Tal.


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