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Durch den regnerischen Tag, in engen Kurven an schwindelnden Abgründen entlang, auf kühnen Viadukten über schäumende Wildwasser, in langen Tunneln die Berge durchsetzend, wand sich der Schnellzug zur Höhe und donnerte seinem Ziele entgegen, dem Endpunkte der Bahn in St. Florentin. In zwanzig Minuten mußte es erreicht sein; eben war die letzte Station vorüber. Das graue Licht des herannahenden Abends mischte sich mit dem Lampenschein in den Wagen.
Allein in ihrem Abteil erster Klasse hatte Wera das Fenster geöffnet. Kalt sprühte ihr der Nebel entgegen, der Wind preßte ihr den Schleier gegen das Gesicht. Sie schlug ihn zurück und atmete mit Wohlbehagen die frische Bergluft ein. Hinauf! hinauf! Bald wollte sie dort oben bei den Geschwistern sein. Sogleich vom Bahnhof hinan zum Gletscher! Und dann – –
Sie vernahm das Geräusch der Schiebetür, die zum Seitengange des Wagens führte, und wandte sich um. Ein Herr war eingetreten und verbeugte sich. Im Augenblick erkannten sich beide.
»Herr Martin?«
Das bleiche Antlitz des Ingenieurs färbte sich leicht.
»Wenn ich störe – gnädiges Fräulein sind allein? Oder –«
Wera war in Verlegenheit. Was sollte sie sagen? Sie wollte sich ja gar nicht mehr sehen lassen – und doch – hier war der einzige Mensch, mit dem sie noch reden konnte – –
»Ich will Bekannte besuchen,« sagte sie. »Mein Bräutigam kommt morgen nach Schmalbrück, wir werden uns später treffen. Sie werden sein Telegramm erhalten haben? Herzlichen Dank übrigens für Ihren Brief.«
Sie reichte ihm die Hand, er nahm Platz.
»Ja,« antwortete er. »Es ist sehr liebenswürdig, daß der Herr Professor unsern Antrag annahm. Gerade in diesen Tagen muß sich die Frage entscheiden. Ich hatte heute Nachmittag hier zu tun, wo ich eben einstieg, und erwartet in St. Florentin Nachricht über das Ergebnis der heutigen Sprengung –«
Er sprach unsicher. Seine traurigen Augen ruhten auf Wera mit einer Frage, die er nicht auszusprechen wagte. Sie fühlte es. Nach ein paar Bemerkungen über den Tunnelbau stockte das Gespräch.
Endlich begann Wera, ohne ihn anzublicken:
»Sie sehen nicht so froh aus, wie – wie ich es Ihnen wünschte. Macht Ihnen die Arbeit so viel Sorten? Ich denke, es wird doch alles glücklich ablaufen –«
Martin schüttelte leise den Kopf. »Sorge um die Arbeit gehört zum Kampfe, sie greift an, aber sie fördert auch und stählt. Es gibt ein andres Leid – ach, und Sie kennen es ja selbst, teuerste Freundin! Verzeihen Sie mir – auch um Sie sorge ich mich, um Ihr Glück – das ist es, was mich jetzt so – befangen macht. Ich weiß nicht, ob ich fragen darf, ob Sie es wiedergefunden haben.«
Wera atmete tief. Dann sagte sie leise: »Ich weiß es selbst nicht.«
Jetzt schlug sie die Augen voll zu ihm auf:
»Die Zeit drängt. Wir werden bald voneinander scheiden. Mein lieber Freund, wir werden uns wohl nicht mehr wiedersehen. Sie sind der einzige Mensch, dem ich damals mein Leid verriet, und Ihnen danke ich großherzigen Rat, den ich befolgt habe. Darum verdienen Sie Offenheit. Mit aller Macht des Willens bekämpfte ich die Störung, die mich hier in den Bergen überfiel, noch habe ich sie nicht überwunden. Noch aber gebe ich es nicht auf, mein Gefühl wiederzugewinnen. O, wenn es auf mich ankäme! Ich wollte verzichten auf alles Menschenglück, nichts mehr sehen von den Menschen, hinausfliehen in die Einsamkeit, in die Berge – dahin treibt es mich jetzt – und ich kehrte am liebsten nimmer zurück. Aber ich gehöre ja nicht mir allein. Ich vernichte ja zugleich das Glück, das Leben eines anderen.«
»Nicht nur des einen,« murmelte Martin stöhnend.
Wera schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Ich weiß es! Ich weiß es!«
»Doch der zweite ist nicht zu retten,« sagte Martin gefaßt. »Aber sich selbst müssen Sie retten und damit den einen.«
»Meine Hoffnung ist gering. O dieses Abscheuliche, was Sie Liebe nennen! Was den Menschen so elend macht und klein!«
»Nicht immer klein, auch groß, am größten!«
»Sie dürfen das sagen. Aber elend sind Sie doch! Ich sah es Ihnen an, als Sie hereintraten. Was werden Sie tun, mein Freund, sagen Sie es mir. Ich will es wissen! Was kann ein Mensch tun, dem jede Hoffnung verloren ist?«
»Fragen Sie um meinetwillen?«
»Ich will es wissen! Sagen Sie nicht wieder, die Arbeit! Nein, nein, die täuscht die Zeit fort, aber das Elend kommt, und wenn es nur Sekunden findet, es quält für Jahre. Sagen Sie mir, gibt es für den Menschen eine Erlösung vom Leide?«
»Das hängt von der Art des Menschen ab, das wissen Sie ja.
»So gibt es Menschen, die verloren sind –«
»Der Mensch kann sterben.«
Wera lachte bitter. »Ha! Sie glauben an den Tod? Ja, wenn es der Hohe will! Wenn die Natur diesen Leib zerstört, da verfließt der Schmerz in nichts, der an diesem zeitlichen Zellenbau hängt. Aber der Wille des Menschen, der seinen Leib bewußt vernichtet, glauben Sie, daß der das Leid mittrifft, das im ewigen Leide wurzelt? Kann der freiwillige Tod töten? Dann müßte sich der Mensch auch freiwillig das Leben geben können. O, Sie wissen nicht, wie das einzelne Leben im unendlichen Zusammenhange verknüpft ist – der Schmerz, der aus den unzugänglichen Tiefen des Weltleibes hervor in das Bewußtsein zuckt, den kann der Eigenwille nicht erreichen – denn der Weltleib lebt weiter –«
»Nun denn, wer diesen Glauben hat, was ist dem der Tod, was ist ihm dieses Leben? Wer teil hat am Weltleibe, der hat auch teil am Weltwillen. Der wird das Leid aufnehmen willig und groß als seinen Anteil, der ihm im ewigen Weltprozeß geworden ist, und seinem Gott gehorchend vertrauen, daß er ein Größeres hinaufführen will, um dessentwillen dieses Menschen-Ich leiden muß. Wer diesen Glauben hat, um den mögen Sie nicht sorgen, den mögen Sie beneiden. Er wird seine Pflicht tun und sagen: Herr, Dein Wille geschehe.«
Wera sah ihn mit großen, leuchtenden Augen an. Dann sprach sie: »Der sind Sie! Der sind Sie! O, ihr großen, reichen Menschen! Das ist die Erlösung, die euch gegeben ist. Ja, ihr könnt auf die Brücke der Erkenntnis treten, denn ihr habt noch eine andere Macht, die selbst das Leid des Schöpfers um sein Werk bezwingt!«
Sie brach ab, denn sie las in Martins Augen, daß er nicht wußte, was ihre letzten Worte bedeuten sollten. Sie war nahe daran, ihr Geheimnis zu verraten. Aber sie mußte schweigen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie sagte:
»Und dennoch – es muß etwas Schönes sein um das Glück! O, daß Sie es noch gewinnen möchten!«
Er lächelte wehmütig. »Das ist zunächst mein Wunsch für Sie.«
»Um mich sorgen Sie sich nicht. Ich werde danach streben, aber – wenn es anders bestimmt sein sollte, es gibt noch ein anderes Glück, als es die Menschen kennen – und ich – –«
Sie hatten gar nicht bemerkt daß der Zug hielt. Die Fahrgäste drängten sich im Gange. Wera sprang auf und ergriff Martins Hände.
»Leben Sie wohl, mein teurer, lieber Freund!« rief sie. »Zürnen Sie mir nicht, daß ich in Ihr Leben getreten bin –«
Ein Schaffner öffnete die Tür. Sie trat zurück. Martin griff mechanisch nach ihrem Gepäck.
»Haben Sie weiter nichts?« fragte er. »Wo wollen Sie wohnen?«
»O fragen Sie nicht,« bat sie. »Dies kleine Bündel nehme ich selbst. Lassen Sie mich allein – ich weiß meinen Weg. Leben Sie wohl!«
Er folgte ihr aus dem Wagen, aber er kam nicht mehr zu Worte. Ein Beamter trat an ihn heran. Wera hörte noch, daß Martin rief: »Im Tunnel? Ich komme sofort.« Er wandte sich Wera zu. Sie verschwand im Gedränge.
Eilig wand sie sich in der Bahnhofshalle durch das Gewühl der Reisenden, Bahnbediensteten und Hoteldiener. Sie kümmerte sich nicht um die Angebote der Träger, nicht um die Verweisung auf die Gepäckausgabe. Ihr Koffer mochte dort stehen, bis sie ihn brauchte. Fürs nächste – ah! Sie trat aus dem hellen Vorplatz in den dunklen, rauschenden Regen. Das war Luft! Das war Heimat! Nun hinein in die sinkende Nacht! Schnell schritt sie an der Reihe der Hotelwagen vorüber und bog in einen schmalen Gang ein, der nach dem See hinabführte.
Sie hatte ihren Weg abkürzen wollen, aber es sollte ihr nicht sogleich gelingen. Wo der Weg die Fahrstraße wieder kreuzte, hatte sich zum Unglück ein mit langen Baumstämmen beladener Wagen festgefahren, und nun stockte dort die ganze Reihe der Hotelwagen, die vom Bahnhofe kamen. Wera konnte nicht hinüber. Sie stand dicht an der Straße unter dem Dunkel eines Baumes, bald sammelten sich noch andere Passanten des Weges. Auf der Straße versuchte ein mit einem Herrn und zwei Damen besetzter Einspänner sich an der Wagenburg vorbeizudrängen, wurde aber bald durch den allgemeinen Unwillen zum Halten gezwungen, unmittelbar vor Wera, die weder vorwärts noch zurück konnte.
Unter dem Verdeck des Wagens hervor klang eine schneidende Stimme, die ihr bekannt vorkam, und vom Rücksitz unter einem Regenschirm erwiderte eine ebenfalls laute Männerstimme. Und jetzt glaubte Wera ihren eigenen Namen zu vernehmen, so daß sie aufmerkte.
»Hättest du dich nicht solange nach der Lentius umgeguckt, so wären wir hier noch rechtzeitig vorbeigekommen.«
»Aber sie war's ja gar nicht, wie soll sie jetzt hierhin kommen?«
Das waren Bertile von Okeley und der Alpinist, die sich da stritten – kein Zweifel. Und jetzt erinnerte sich erst Wera, daß sie vor einigen Wochen die Verlobungsanzeige von Dr. Haberdorf erhalten hatte.
»Sie war's ganz bestimmt,« klang eine dritte Stimme, in der Wera diejenige Beatens erkannte. »Ich hab' sie ja vom Gange aus in der ersten Klasse mit dem Ingenieur allein sitzen sehen.«
»Der ist ja erst auf der letzten Station eingestiegen,« sagte der Alpinist.
»Ja, und gerade in das Abteil. Merkwürdig!«
»Das ist doch ein Zufall.«
»Natürlich, du wirst sie auch noch verteidigen! Das war natürlich auch ein Zufall, damals auf der Bank im Walde, wo sie gesehen worden sind – – Und die Person soll verlobt sein!«
»Und wie sie dann plötzlich verschwunden ist!«
»Aber was soll sie denn hier? Was ihr immer redet!«
»Das wird der Martin schon wissen, wenn du's nicht weißt!«
»Bertildchen!«
»Du hast dich doch auch mit ihr kompromittiert! Es war eigentlich ein Skandal! Nun, sie soll sich nur nicht in Schmalbrück sehen lassen!«
»O Gott, o Gott! Nun werdet ihr euch noch zanken!« jammerte Beate. »Und euertwegen sind wir so schrecklich eingeregnet. Ich war ja dagegen, daß wir heute die Partie machten. Und nun soll uns noch die gräßliche Person dazwischen kommen!«
Wera hatte sich gleich bemerkbar machen wollen, aber das Geräusch des Regens und das Rufen der Fuhrleute hatten ihren Versuch vereitelt. Dann dachte sie daran, lieber unbemerkt zu verschwinden, nur sah sie keinen Ausweg. Neben dem Wege zwar rauschte das Regenwasser gewaltig bergab dem See zu, und es lockte ihre Aspiraseele nicht wenig, einfach hineinzuspringen und auf dieser ungewöhnlichen Bahn dem Gedränge zu entfliehen. Aber das wäre doch aufgefallen, sie wäre erkannt worden und durfte Wera nicht durch einen solchen Geniestreich unmöglich machen. Länger aber hielt sie es nicht aus, hier zuzuhören. Sie entschloß sich, in den Straßenschlamm an die Wagentür heranzutreten, und die Hand darauf legend sagte sie laut:
»Guten Abend, meine Herrschaften! Kennen Sie mich noch?«
Beate brach in ihrer eben neu angefangenen Rede ab, und die Insassen des Wagens sahen sich einen Augenblick starr an. Aber sofort faßte sich Bertilde und rief:
»Ach, Fräulein Lentius! Das ist aber eine reizende Überraschung! Sie sind wohl auch eingeregnet.«
»Wie Sie sehen. Doch es tut mir nichts.«
»Ich habe mich schrecklich erkältet,« fiel Berta ein. »Wir waren drüben in Passurn, wir haben meine Tante, Excellenz Wieden, besucht – aber wollen Sie nicht in unsern Wagen kommen, liebes Fräulein? Sie müssen ja klatschnaß sein. Wir rücken ein Stückchen zusammen.«
»Emil, du kannst dich auf den Bock setzen!« sagte Bertilde. »Nein, wie ich mich freue, Sie wiederzusehen. Wie entzückend Sie in der Kapuze aussehen! Natürlich fahren Sie mit uns.«
»Ich danke sehr,« lehnte Wera ab. »Ich will gar nicht nach Schmalbrück. Und der Regen tut mir nichts. Ich konnte nur nicht weiter, weil der Weg gesperrt war. Aber jetzt scheint es ja vorwärts zu gehen.«
In der Tat kam Bewegung in die Masse, Wera trat an ihren Platz zurück. Der Wagen rückte an.
»Aber Sie werden uns doch besuchen? Nicht wahr?« rief Bertilde zurück.
»Wir haben Sie so vermißt, jeden Tag haben wir von Ihnen gesprochen. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!«
Wera sah dem Wagen achselzuckend nach. Sie runzelte die Stirn.
»Das sind auch Menschen!« murmelte sie. »O, fort! Fort!«
Bald war die Straße passierbar. Wera eilte vorwärts.
Jetzt hatte sie das unmittelbare Bereich der Häuser verlassen, der Blick ging ins Freie. Aber sie sah nichts als einen Kranz von Lichtern, der sich allmählich im Dunkel der Regennacht verlor, während nur hier und da die Glasveranden der großen Hotels hindurchschimmerten. Bald lag der erleuchtete Fußweg am Seeufer hinter ihr.
Sie trat in die Finsternis des Waldes. Der Pfad, obwohl hier noch ein sorgfältig gepflegter Promenadenweg, war nicht zu erkennen. Dennoch zögerte ihr Fuß keinen Augenblick. Der unfehlbare Raumsinn Aspiras leitete sie.
Spärlicher wurde der Wald. Der Wind warf den Regen von der Seite rücksichtslos gegen die unbekannte Nachtwandlerin. Er heulte um die Felsecken und knarrte und klapperte in den dürren Ästen der Kiefern. Der Gießbach tobte neben ihr in der Seitenschlucht der Festina zu, und wilde Sturzwässer benetzten hier und da ihren Fuß. Immer dichter hüllten die Wolkenmassen sie ein, je höher sie kam. Ihr Mantel triefte. Sie kümmerte sich nicht darum.
»Nur zu! Nur zu!« klang es in ihr. »Bald bin ich bei euch im Wettertanz!«
Nacht, wohin sie blickte, Nacht, Wasser und Wind. Wo waren die Menschen und ihrer Wohnungen Lichterglanz? Verschwunden drüben im Dunkel. Doch nein. Vorübergehend teilt sich der Nebel. Da drüben schimmert noch ein trübes Leuchten von fern – dort liegt die Arbeitsstätte am Tunneleingang – ein Abschiedsgruß! Verschwunden. Wieder Nacht und Nebel!
Und es war gut so! Hui! Heulte der Wind – es gibt keine Naturgeister – ich bin Bewegungsenergie der Luft! – Krrr! prasselte der Regen – ich fühle nichts, ich bin kondensierter Wasserdampf. – Weh, Weh! seufzte die Wolke – ich kann nicht denken, ich habe kein Menschenhirn!
»Sollst es lernen, sollst es lernen,« rief es in Weras Seele. »Ich komme, ich komme! Sei gegrüßt, umfassende Nacht, nimm mich in den bergenden Arm deines Dunkels! Ich wandle gehüllt in den schwarzen Schleier der Verneinung. Nein! riefen sie mir zu drunten im Tale, du bist nicht, du lebst nicht. Nein riefe sie, du kannst nichts beweisen. Nein und immer nein! Und ich stand ohnmächtig und durfte nicht rufen: »Hier bin ich, Aspira! Seht ihr mich nicht? Und ich denke, ihr liebt mich?« »Wer ist Aspira? Wir kennen nur Wera Lentius, der Philosophie Doktorin, die schöne, kluge Braut – –«
»Ach! Aber ich komme!«
Der Wald liegt unten. Über die Halde fliegt der eilende Fuß. Der Wind saust vom Rücken, muß treiben, muß heben. »Ja, ich bin Wera, ich zwinge die Kräfte der Natur. Doch ich bin auch Aspira, ich verbünde mir ihre Gewalten. Vorwärts! Hinauf! Wie er rasend geflogen kommt, Bruder Sturm. Erkennst und mich noch nicht? Ich kenne dich. Kommst vom Wirbel her, den Vetter Drehbold ansaugte über der Biskayasee. Ich lehne mich an deine starken, weichen Schultern, und du hebst mich, trägst mich. Ja, ich komme!
Hab's euch gestern hinübergerufen vom milden Abendgarten unter den Kastanien, doch ich dachte nicht, daß ich so bald kommen würde. Heute schon, nach vierundzwanzig Stunden. Was sollt' ich noch dort? Wieder und wieder verhandeln, ohne sich zu verstehen? Gegenseitig sich kränken? Nein, ich muß Gewißheit finden hier droben bei den Meinen – –
Liebe! Ich suchte sie nicht. Doch da ich sie fand, hab' ich sie ehrlich gegrüßt mit leuchtendem Menschenauge. Aber sie zerknirscht mir den Körper, sie verzittert in Schmerz – – Wußt' ich denn, daß einer mich schon liebte, ehe ich hinabstieg ins Menschenreich? Gestern, ach, wie er mich umfaßte! Und heute! Und nun wird er mich suchen im Arbeitssaal, er wird durch den Draht klingeln und sprechen, er wird draußen fragen bei den Freunden im Gartenhaus. Jetzt hat er meine Botschaft, doch ich bin fort. Und nun sitzt er geängstet im rasenden Wagen und saust über dieselben Schienen, die mich hergeführt haben. Ach, ich will nicht, daß er leidet! Auch der andre nicht – – Ich werde sie wiedersehen. Und dann? Dann – wird eine Tat geschehen – doch wie? Er soll doch glücklich sein, nicht wahr, Wera? Zürne deiner Aspira nicht. Gedulde dich noch ein wenig.
Nun? Ist dir der Atem ausgegangen, mein wackerer Träger? Du läßt mich fallen? Ach, ich bin über die Höhe. Was leuchtet da droben? Ein Stern? Verwaschen sieht er aus, doch ein Stern ist's. Es wird heller, die Luft ist still. Und dort, ein silberner Streifen. Sei mir gegrüßt, alter Mond!
Sieh doch, die leuchtende Zacke drüben! Bist du es nicht, getreuer Oheim, Blankhorn, der alte? O wie herrlich! Das weite, weite Nebelmeer zu meinen Füßen! Unter mir alles eine einzige, weiße Decke. Und nur darüber die höchsten Spitzen der Freunde. Ja, ich komme!
Glück? Ich suchte es nicht, so miss' ich es nicht. Bleib' es drunten bei euch, ihr glücklichen Menschen! O daß i es keinem zu trüben brauchte! Fand ich doch das Glück bei euch, das Wissen und die Macht – sollt' ich euch nicht danken?
Und ihr, geliebte Geschwister im hohen Äther, ihr weißen Eiszacken, ihr ragenden Berge, du fliehende Luft, du rieselnder Bach, ich komme, komme und bringe euch, was ihr noch nicht kennt, ein Glück, da die Macht ist! Ich komme.
Erkenntnis! Mitwirken sollt ihr am gemeinsamen Glück der Menschen und Elemente, zu treten auf die Brücke der Erkenntnis. Versöhnen will ich euch, ihr scheinbaren Feinde. Und das wird auch meine Versöhnung sein!
Hinab in die weißen Nebel, die den Gletscher verdecken! Kommst du wieder, fliegender Wind? Ah, du schaffest mir Bahn. Die Nebel weichen vor meinem niedersteigenden Fuß. Da ist die Moräne – da liegt der weiße, bläulich schimmernde Riese – im Mondlicht glitzern die eisigen Glieder. Sieh doch, Neuschnee, wie eine frischweiße Hülle, den Nachtgast zu empfangen.
Ja, ich komme, bei dir ich zu bergen. Willkommen, zerklüfteter Kristall – willkommen, Phosphorglanz der Spalte! Ich bin da!
Nun mögt ihr mich kennen! Ich bin da. Aspira ist da. Doch leise, leise. Ruft's noch nicht hinaus. Nur die Nächsten sollen mich hören. Da, ihr gespenstigen Nebelstreifen, die ihr noch träge am Grunde der Spalte hinschleicht, bleibt hier, ihr sollt mich herausheben. Ich suche mein Lager. Da, wo der ausgewaschene Sand die Ecke füllt, da ist gut ruhen. Haltet brav Wache, daß mir der Gletscher die Tür nicht sperrt. Unversehrt muß ich dich finden, Weras Körper, wenn ich zurückkomme und wieder davon gehen will als Mensch, du, Wera, oder ich, Aspira.
Einmal darf ich's schon wagen, den Wolkenleib wieder mit dem Menschenleibe zu vertauschen. Nicht auf lange, dann kehr' ich zurück. Dann werd' ich wissen, was werden soll.
Eiswand, die du so geheimnisvoll schillerst im verirrten Mondstrahl, sickerndes Wasser, und ihr, unsichtbar spielende Ionen der Luft, ich rufe euch, ich banne euch im Namen Migros, des mächtigen Strahlenkönigs! Wahret den Schatz, den ich euch hier niederlege, Weras Menschenleib! Und empfanget mich, daß ich euch versammle und dehne zur alten, freien Wolke Aspira!«
Wera kniete nieder in der Ecke der Nebenspalte. Sie öffnete ihr Bündel und hüllte sich in die dichte Decke, dann streckte sie sich auf dem Boden aus. Sie faltete die Hände über der Brust und atmete langsam. Nur nichts versäumen von den Vorschriften des Vaters, dachte sie, damit das Wolkenherz nichts zurücklasse von allem, was es durch Wera gewonnen hat. So lag sie still und regungslos wie ein schönes Wachsbild mit geschlossenen Augen. Ein matter Reflex des Mondlichts spielte um ihr Antlitz.
»Ich komme.« Das sprach sie nicht mehr, sie dachte es nur. Immer langsamer und schwächer wurden die Atemzüge. Jetzt bewegte sich nichts mehr. Ein leichter Nebel legte sich über sie und wurde dichter und dichter.
Und nun hob es sich lautlos empor und stieg in die Höhe und erreichte den Rand der Spalte.
Und da schoß es heran von allen Seiten, unsichtbare Teilchen, und wandelte sich zu kleinsten Tröpfchen, und es quoll in die Gletscherluft hinaus im Mondlicht schimmernd und sich dehnend weiter und weiter, Aspira, die lebendige Wolke.
Weras Leib aber lag eisig und starr in der Gletschergruft.