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Noch immer ruhte Wera auf dem sonnenwarmen Rasen in der Stille der Alpenwiese. Noch immer war ihr das weite Bild der leuchtenden Bergwelt hinweggesunken. Ihre Augen waren geschlossen. Noch einmal suchte sie in ihrer Weraseele zu lesen. Nicht mehr die große Frage nach dem Gesetz der Erkenntnis, das die Menschenherrschaft gewährt über die Reiche des Lebendigen. Sie war auf ein Kapitel gestoßen, das den Menschen allein anging, und das so viel schwerer für sie zu verstehen war – –
Wohin sie in die letzten Jahre zurückblickte, überall fand sie den Namen Paul Sohm, überall fühlte sie ihr innigstes Leben daran geknüpft, und dennoch lag es jetzt darüber wie ein lichtloser Fleck, ein undurchsichtiger Schatten, der sie den eigentlichen Sinn dieses Seeleninhaltes, dieses Lebensmittelpunktes nicht begreifen ließ. Es gab eine Stelle in Weras Bewußtsein, wohin Aspiras Verständnis nicht zu dringen vermochte. Alle Vorgänge, alle gemeinsamen Erlebnisse, was sie taten und sprachen, konnte sie klar ins Gedächtnis rufen, und immer wieder fragte sie: Warum? Warum mußte ich das tun? Warum war ich so glücklich?
Seit dem ersten Tage, an dem sie Sohms Vorlesung über Meteorologie gehört hatte, fühlte sie sich von diesem Manne gefesselt. Zuerst, ja lange nur, von dem Lehrer. Da war alles so klar und einfach gesagt und doch nicht trocken; selbst in den mathematischen Entwicklungen verschwand nie der Endzweck des Ganzen; überall eröffnete sich ihr der Blick in die gesetzliche Einheit der Naturerscheinungen. Die Strömungen der Luft, der Kreislauf des Wassers, die große Arbeit der Sonne an der Atmosphäre enthüllten sich in strengem Zusammenhang, und doch lag in allem, was er sagte, ein so feiner, freier Geist, von dem sie zuerst lernte, wie ein ernsthafter, kritischer Gelehrter den Inhalt seiner Forschung zugleich mit warmem Herzen umfassen und an den lebendigen Weltzusammenhang knüpfen konnte. Und das verstand Aspira wohl, wie der Einfluß dieses Mannes Wera begeistern und in ihrer Arbeit fördern und beglücken mußte.
Später waren sie im Hause von Geheimrat Rötelein gesellig zusammengetroffen, wo sie als Freundin von Suse und Else Rötelein viel verkehrte. Warum sie nur immer so heiter war? Und warum sie mitten zwischen ihren ernsthaften Untersuchungen so fröhlich lachen konnte wie ein Kind? Denn damals hatte sie mit ihren Analysen der natürlichen Gewässer begonnen – sie wußte wohl, daß ihre chemischen Studien diese Beziehungen zur Geologie gerade durch Sohm gewonnen hatten.
Und dann, als Sohm seine große Arbeit über die geologische Bedeutung der Gase plante – – Sie sah ihn vor sich auf dem Spaziergang mit Röteleins nach dem Erdsturz am Klippberg, wie er mit ihr so vertrauensvoll über seine Grundgedanken sprach und sie fragte, ob sie nicht einen Teil der Analysen übernehmen wolle. Wie sie zögerte – – Es war keine falsche Bescheidenheit von ihr, daß sie sich bedachte. Sie wußte genau, was sie damals gesagt und getan hatte, sie wußte, daß sie der Aufgabe gewachsen war und daß jede kleinliche Ziererei ihr fern lag. Und welches ehrenvollere Anerbieten konnte ihr gemacht werden, als von einem so bedeutenden Gelehrten zur Mitarbeiterschaft aufgefordert zu werden, welche bessere Einführung in die wissenschaftliche Welt konnte sie, die junge Doktorin, gewinnen? Und dennoch hatte sie gezögert? Sie verstand sich nicht. Ganz deutlich sah sie sein ernstes, männliches Gesicht vor sich und den traurigen Blick der treuen Augen, mit dem er die Verlegene anschaute, und wieder verstand sie sich nicht, warum dieser Blick auf einmal alle ihre Bedenken umwarf, und sie ihm die Hand entgegenstreckte und dankte. Und wie glücklich er nun aussah, und wie warm er von seiner großen Freude sprach, daß sie annahm, während doch sie allein es war, die ihm zu danken hatte – –
Und dann weiter, wie die Arbeit sie täglich zusammenführte – Sie wollte an etwas andres denken, aber es lag ein Zwang in dem Namen Paul Sohm – sie mußte in Weras Gedächtnis nachlesen Woche für Woche, wie die Arbeit fortschritt, gemeinsam beiden bald im Zweifel, bald in der Freude des Erfolgs – wie jede längere Unterbrechung ihr fast unerträglich schien – – bis jener Abend kam, da sie einander gegenüberstanden und such ansahen und nichts sagten, und er auf einmal ihre Hände faßte und sie an sich zog, und sie in seinen Armen lag – – Und diese Küsse und diese heißen Worte – – Wie war das möglich? Wie konnte sie das dulden und erwidern? Was war das?
Wer war sie?
Und schluchzend warf sich Wera auf den Rasen, und Träne auf Träne rann aus ihren Augen. Sie kam sich so namenlos elend vor, so ganz vernichtet, zerrissen in ihrem innersten Wesen.
Gewiß, das war die Liebe, ja, das hatten sie sich ja tausendmal glückstrahlend gestanden – aber was war das jetzt? Ein Wort, ein leeres Wort, das ihr nur von unverständlichen Handlungen, von unglaublichen Erlebnissen sprach, die sie vor sich selbst erniedrigten – Sie verstand es nicht und konnte es nicht verstehen, daß sie das gesagt und getan und versprochen hatte –
Versprochen hatte! Wera hatte versprochen, und Aspira, die unglückliche, mußte sich mit dieser gebundenen Seele verschmelzen – mußte gefesselt sein an ein Menschenschicksal, das sie nicht verstand – das sie nicht wollte. Nein, nicht wollte!
Ja, er war ihr Freund, dem sie ihr Bestes verdankte, den sie hochhielt in einem aufrichtigen Gefühle der Verehrung – im übrigen konnte sie sich nur vorstellen, daß er ihr gefiel wie – wie der Ingenieur. Aber die Liebe? Sie hatte eine einzige Erfahrung, den Handkuß des Ingenieurs, und das war ihr wie ein körperliches Unbehagen – die Erinnerung an all die Stunden, die Wera so glücklich gemacht hatten, hätte sie jetzt aus dem Gedächtnis reißen mögen – – Und doch – Sie war Wera, sie hatte diesen Leib und diese Seele auf sich genommen, sie hatte mit Stolz und Seligkeit dieses Menschenwesen erfaßt, sie verdankte ihm ihre Erhebung, ihre Erkenntnis, ihre Macht, sie konnte diese Lebenseinheit nicht entbehren – sie war Wera und mußte es bleiben.
Was hatte sie gestern von der Liebe geschrieben? Mochte sie Glück sein oder Leid, was ging es sie an? Sie suchte sie nicht bei den Menschen, sie brauchte sie nicht. Und wenn die Wolken etwas von Aspira wissen wollten, so war es nicht dies.
Und wenn nun Liebe Leid war? So mußte sie es wohl auf sich nehmen um ihrer großen Aufgabe willen? Diese Aufgabe war ihr heute, hier, in diesem wundersamen goldenen Lichte einer erhabenen Sendung aufgegangen. Sie suchte ja auch nicht das Glück. Sonst hätte sie nicht auf die Brücke der Erkenntnis treten dürfen. Da aber stand sie nun, da wollte sie stehen. Würde sie das jetzt noch vermögen?
Sie raffte sich empor und schritt langsam ihren Weg nach Hause. Die Sonne glänzte und die Nigritellen dufteten und die Eisgipfel grüßten, bis der dunkle Wald seine Schatten über ihr Haupt breitete. Ach, es war doch schwer, so schwer ein Mensch zu sein! Aber sie war es nun und wollte es sein – Wera Lentius! Ja, wenn es nur das wäre! Aber Wera – Sohm! Das – o Gott – wie würde das sein? Freiheit und Macht wollte sie erringen, und nun gab es nur diesen Weg durch Sklavenfesseln?
Sie setzte sich auf eine einsame Bank, denn sie war inzwischen bis auf den Weg in der Nähe von Schmalbrück gekommen. Die Pfade waren jetzt verlassen, alle Welt befand sich schon bei der Toilette zum Mittagessen – nur sie hatte die Zeit versäumt.
Doch noch ein anderer – sie vernahm rasche Schritte.
Es war der Ingenieur Martin, der nach seiner Gewohnheit so spät zu Tische ging. Jetzt erkannte er sie.
»Sie noch hier, Fräulein Lentius?« rief er fröhlich. »Guten Tag!« Sie versuchte freundlich zu danken. Aber jetzt sah er sie in der Nähe. Erschrocken trat er auf sie zu und blickte sie teilnehmend an.
»O,« sagte er, »was ist Ihnen? Sie haben geweint? Sie sind nicht wohl?«
Die Tränen traten ihr wieder in die Augen, aber sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Es ist nichts,« sagte sie. »Vielleicht habe ich mich doch etwas überanstrengt. Wissen Sie, wo ich war? Bei der Silberquelle.«
»Silberquelle? Wo ist das?«
»Das – das nenne ich nur so. Ich habe sie nämlich heute entdeckt, und Entdecker können doch den Namen geben, nicht? Die Stelle liegt im Silbertobel über Ihrem Tunnel. Und die Quellen stammen wahrscheinlich aus Ihrem Kalkbande, natürlich dort, wo es aufhört, wo wieder undurchlässiges Gestein darunter lagert. Ich wollte sehen, ob das hoch genug über dem Tunnel liegt. Und ich glaube es bestimmt. Morgen will ich eine Probe holen, da wird ja die Analyse ergeben, ob das Wasser aus dem Kalk kommt –«
Sie sprach, wie es ihr einfiel, um ihre Gedanken zu betäuben. Er hörte verwundert zu.
»Verstehe ich recht?« sagte er. »Sie sind dort gewesen? Das ist ja eine halsbrecherische Partie! Gestatten Sie, daß ich mich einen Augenblick hersetze. Das müssen Sie mir noch erklären. Aber Sie sind in der Tat angegriffen.«
»Es wird schon vergehen. Ich wollte doch wissen, ob Ihr Tunnel wirklich in Gefahr ist.«
Er kam aus seinem Erstaunen nicht heraus.
»Wie gütig Sie sind! Und wie umsichtig!«
Er wollte eigentlich von dem Tunnel und der Kalkschicht sprechen. Aber er konnte nicht anders als sie ansehen. Die tiefe Erregung ihrer Seele verklärte ihr Antlitz, und die Augen leuchteten so wunderbar in dem verhaltenen Schmerze. Wie schön sie war, und lieb, und klug! Und Martin sprach nicht vom Tunnel und der Silberquelle, er sprach von ihr und von sich, und wie er mit seinen Gedanken ohne Unterlaß bei ihr gewesen wäre, und wie er im stillen hoffe – –
Sie hatte eigentlich nur halb auf seine Worte gehört. Sie wußte schon, das war wieder die Liebe, von der er sprach, und die sie nichts anging. Und doch wieder, es ging sie an. Sie mußte ja nun doch sehen, ob denn diese Liebe wirklich so unerträglich ist, wie sie ihr schien. Sie mußte sich abfinden mit ihrem Menschenschicksal. Wer sollte ihr raten? Wen konnte sie fragen? Niemand.
Auf einmal hörte sie seine Frage:
»Wera, geliebte Wera, können Sie mir keine Hoffnung geben?«
Sie fühlte, wie er ihre Hände faßte und sie an sich zog. Was in ihr vorging, bildete ein undurchdringliches Gewirr von Gefühlen und Vorstellungen. Sie wollte nicht nachgeben, sie konnte nicht – aber was da geschah, war ein so Fremdes, Neues, das sie doch erfahren mußte, das doch wieder instinktiv in ihr wirkte –
Sie wollte sagen: »Ich liebe einen andern.« Aber das war ja nicht wahr.
Sie wollte sagen: »Ich bin Braut.« Aber sie brachte es nicht über die Lippen.
Sie fühlte die Küsse des Mannes auf Wange und Mund – und es war wieder dieses Abstoßende, Unerträgliche –
»Ich kann nicht,« stöhnte sie sich ihm entziehend. »Es kann nicht sein, es ist unmöglich!«
»Wera!«
»Ich kann nicht dafür! Ich bitte Sie! Es darf nicht sein!«
»Wera! Mein Glück! Mein Leben!«
»Nein, nein! Nicht so! Ich kann Ihnen nicht zürnen, nein! Aber ich, ich kann nicht – nicht Ihnen gehören – nein – niemand!«
Es war ein Stammeln, nicht in Entrüstung; es war wie eine Klage. Sie hatten sich beide erhoben.
»So muß ich gehen,« sagte er mit erstickter Stimme.
Die Tränen traten wieder in ihre Augen. Sie raffte sich zusammen und schüttelte den Kopf. Martin wußte nicht mehr, was er denken sollte.
»Sie sind mein lieber Freund,« sagte sie. »Ich möchte Sie begleiten. Ich bin so unendlich traurig, daß ich Ihnen wehe tue. Aber ich kann nicht – fragen Sie mich nicht.«
»Ich weiß nicht, ob ich das versprechen kann. Wenn du nicht mein sein kannst,« rief er leidenschaftlich, »dann ist es besser, ich sehe Sie nicht wieder. Von gleichgültigen Dingen kann ich jetzt nicht reden.«
»Dann muß ich allein gehen,« sagte sie zurücktretend. »Aber gehen Sie voran. Ich habe Zeit. Gehen Sie!«
Er blieb unschlüssig stehen. Er wußte, wenn er sie jetzt nicht verließ, würde er doch wieder von seiner Liebe sprechen, und das würde heute vergeblich sein. Und ach, es war doch so unendlich schwer, sich zu trennen!
»Bitte, gehen Sie!« sagte sie noch einmal.
»Leben Sie wohl,« sprach Martin traurig. »Zürnen Sie mir nicht, wenn ich jetzt fliehe. Wie kann ich Ihnen Ruhe versprechen, wenn ich weiß, daß ich sie jetzt nicht halten kann? Sie würden mich verstehen, wenn Sie wüßten, was Ihre Nähe bedeutet und was – was Liebe ist.«
»Nein, das weiß ich allerdings nicht,« rief sie bitter. »Das ist ja –« Sie brach ab. Aber ihre Augen flammten, ihre Brust wogte. Der Zorn über ihr Schicksal überwältigte sie. So trat sie auf ihn zu, hochaufgerichtet, auf den unschuldigen Repräsentanten der Menschheit – –
»Liebe! Ich habe niemand, dem ich sagen kann, was mich quält, niemand, den ich fragen kann, was in meiner Seele Not ein warmes Menschenherz mir raten würde. Und der einzige Mensch, den ich hier für meinen Freund hielt, der verläßt mich in dem Augenblick, in dem ich nach ihm greife, und – warum? Warum? Aus Liebe? Weil er mich liebt!« Sie lachte höhnisch und streckte den Arm gegen ihn aus. Da donnerte es dumpf über den Bergen. Eine dicke graue Wolke war unbemerkt über den Kamm herübergequollen, und die Sonne verschwand hinter ihr. Weder Wera noch Martin achteten darauf.
»Liebe! Das ist das schöne Wort, hinter dem ihr euch versteckt, ihr klugen Menschen! Auch ein Gesetz, aber nicht von denen, die euch die Herrschaft geben – nein, die euch in die Sklaverei werfen – die euch feig und klein machen! Aus Liebe müßt ihr quälen und hemmen und vernichten, was wonnig und frei und groß in euch emporgeglüht ist, was ich suchte und fand. Aber ich will nicht diesem törichten Worte weichen – ich will den Kampf aufnehmen –«
Plötzlich ein krachender Donnerschlag. Drüben am Berghang stürzte eine Fichte im Blitzstrahl. Martin schrak zusammen. Er hatte auf Weras leidenschaftliche Worte gehört ohne recht zu verstehen, warum sie so empört war – sie, der er alles, sein ganzes Ich geboten hatte, die ihn fortschickte – jetzt klagte sie ihn an?
Wera aber stand unerschüttert. Sie warf nur einen Blick nach dem qualmenden Baum und nach der Wolke. Dann schüttelte sie leicht abweisend den Kopf, als wollte sie sagen: »Laß das, Turgula.«
Auch Martin sah nach dem Wetter aus. Aber schon gehorchte die runde Haufenwolke dem Wink. Sie schrumpfte ein und zog sich zurück. Über den Rand lugte die Sonne, und der Himmel klarte auf.
»Es kommt nicht herauf,« sagte Wera ruhiger. »Leben Sie wohl!«
Aber Martin ging nicht. Wera machte eine Bewegung, als wollte sie sich wieder auf die Bank setzen. Da begann der Ingenieur:
»Verzeihen Sie mir, wenn ich jetzt nicht gehe, wenn ich bitte, Sie nun begleiten zu dürfen. Ich kann Sie so nicht verlassen. in Trauer konnte ich wohl von Ihnen scheiden, nicht unter Ihrem Zorn. Sie standen da wie eine zürnende Göttin, die über Blitz und Donner gebietet. Und so sprachen Sie zu uns Menschen, als gehörten Sie nicht selbst zu uns. Es ist da ein Geheimnis in Ihrer Seele, das ich nicht verstehe. Ich habe kein Recht Sie zu fragen. Aber darin tun Sie mir Unrecht, wenn Sie glauben, ich könnte Ihnen versagen in Teilnahme, in Freundschaft, in Hilfe, falls ich es vermag – dann verkennen Sie meine Liebe. Vielleicht drückte ich mich in meiner Erregung nicht richtig aus. Ich wollte nur offen sein. An Ihrer Seite zu gehen in konventionellen Gesprächen, die Ruhe zu bewahren neben Ihnen Wera, die ich – Verzeihung! Gemütlich mit Ihnen plaudern, das kann ich jetzt so wenig, wie Sie – das andre können. Aber wenn Sie eines Freundes bedürfen, wenn Ihnen ein Leid widerfahren ist, wenn es eine Möglichkeit gibt, Ihnen zu dienen, glauben Sie mir, dann können Sie auf mich vertrauen.«
Wera antwortete nicht. Sie schritt den Weg hinab. Martin ging an ihrer Seite.
»Wenn ich noch eines sagen darf –« begann er wieder. »Ich bin gewiß nicht der Ansicht, daß die Menschen zu andern über das reden sollen, was sie im tiefsten Herzen bewegt. Vieles läßt sich nur in der Stille und im schweigenden Kampfe der Seele bewältigen. Aber wenn zwei Menschen, die sich sonst verstehen, an eine Stelle gekommen sind, wo sie merken, daß eine Scheidewand sich zwischen ihnen aufrichtet durch ihr Schweigen, dann sollen sie nicht in stolzem Trotze verharren. Ich meine, daß uns die Sprache gegeben ist, Klarheit zu schaffen. Sie sagten mir, daß Sie mich nicht leben – nicht lieben können –«
»Ich kann es nicht,« sagte Wera, ihn unterbrechend. »Und so wehe es mir tut, ich muß es Ihnen sagen, weil ich es Ihnen schuldig bin – hoffen Sie nicht, daß die Zeit daran etwas ändern könne. Wenn jemals das, was Sie Liebe nennen, in mir lebendig werden könnte, so würde auch das uns nichts helfen.«
Martin zuckte schmerzlich zusammen. Und doch gab ihm ihr Wort auch eine Ermutigung – – Es konnte ja doch lebendig werden. Und dann konnte es sich doch nur um ein äußeres Hindernis handeln. Und ein äußeres Hindernis kann überwunden werden – er würde es überwinden.
Aber durfte er sie fragen? Er suchte nach einem Worte. Und schließlich sagte er nur halblaut:
»Äußere Hindernisse kann man überwinden.«
Wera schüttelte den Kopf.
»Sie sagten mir auch,« fuhr Martin fort, »daß Sie des Rates eines Freundes bedürften –«
»Ich hätte es nicht sagen sollen. Raten kann mir eigentlich niemand. ein Verhängnis, von dem ich nicht sprechen kann, hat mich in einen Zwiespalt gebracht, den ich nicht zu lösen weiß. Und wenn ich, gegen mein Schicksal mich empörend, Ihnen gegenüber mich zu einer Klage hinreißen ließ, so war es eben deshalb, weil ich keiner Menschenseele mich offenbaren kann. Und dennoch, das Eine muß ich Ihnen sagen, Sie würden es ja doch hören, sobald Sie fragten, wer ich sei. Denn – das wissen Sie ja gar nicht.«
»Mir genügt zu wissen, wie Sie sind. Das andere ist ja jetzt gleichgültig. Und wenn Sie eine Prinzessin wären –«
»Sie haben Recht,« sagte Wera. »Es ist jetzt gleichgültig. Und wenn ich eine Prinzessin wäre, – wenn ich wollte, würde ich aufhören, es zu sein. Das kümmert mich nicht.«
Martin blickte sie von der Seite an. Sie sah so stolz und ernst aus, daß er fühlte, in ihren Worten lag mehr als ein Bild, da lag ein Erlebnis. Und er wußte nicht, was er denken sollte. Er schauderte in dem Gedanken, daß in diesem klaren Geiste ein Punkt sein könnte – nein, nein – das war nicht möglich!
Plötzlich blieb Wera stehen und sagte unvermittelt:
»Kennen Sie Paul Sohm? In Weidburg?«
»Den Geologen?« fragte Martin erstaunt. »Ich kenne einige seiner Schriften.«
»Und ich – ich bin seine Braut.«
Wenn ihm Wera gesagt hätte, ich bin eine Prinzessin, ich bin Aspira, die Wolke, König Migros Tochter, des Beherrschers der Erdstrahlung, – er hätte nicht überraschter dastehen können. Wera gehörte schon einem andern, – daran hatte er noch nicht gedacht. Endlich stammelte er:
»Sie sagten doch – ich verstand, Sie kennen die Liebe nicht, Sie liebten niemand –«
»Aber ich habe sie einst gekannt. Ich habe sie nur verlernt –«
Ein Hoffnungsstrahl zuckte durch Martins Züge. Wera fühlte, was in ihm vorging.
»Hoffen Sie nichts,« sagte sie schnell. »Das eben war's, was ich vorhin meinte, was Sie auf ein äußeres Hindernis deuteten. Ihnen kann es nichts helfen. Könnte ich meine Liebe wiedergewinnen, so müßte sie dem gehören. Ich will, ich muß es versuchen. Denken Sie nichts Falsches. Keinen von uns trifft eine Schuld. Noch weiß Paul nichts davon, daß ich – – Haben Sie je Ritterromane gelesen? Da gibt es wundersame Quellen in den Wäldern; wenn die verliebte Dame dahin kommt und trinkt von dem klaren Bronnen, so verwandelt sich plötzlich ihr Herz, alle Liebe verschwindet, Gleichgültigkeit und Kälte tritt an ihre Stelle. Ich ging, nur um mich von angestrengter Arbeit zu erholen, glücklich und liebend hier hinauf in die Berge. Paul war mein Gedanke, Paul meine Hoffnung. Gestern am frühen Morgen noch stieg ich, das Herz von seligen Träumen erfüllt, hinauf zum Gletscher. Dort muß ich wohl vom Zauberbronnen getrunken haben – – Seitdem vergaß ich ihn – nein, ich weiß ja alles, aber ich verlor mein Gefühl, ich verstehe mich nicht mehr. Schon gestern, ehe ich Sie traf, war es geschehen. Ich sehe, Sie verstehen mich auch nicht. Niemand kann mir helfen. Ich habe nur die Bitte – ich mußte zu einer Menschenseele sprechen – wenn ich Ihnen etwas gelte, vergessen Sie, war ich sagte, verraten Sie es niemand –«
Wera schluchzte tief auf und brach in Tränen aus.
Martin stand ratlos.
»Mein Schweigen versteht sich von selbst,« murmelte er nur. Aber er dachte, sie ist doch krank, das unglückliche schöne Weib. Er ergriff ihren Arm und führte sie sanft weiter.
»Weinen Sie doch nicht, teuerste Freundin. Das kann ja nur Einbildung sein. Das muß vorübergehen. Sie werden bald wieder glücklich sein.«
Wera löste sich sanft von ihm und trocknete ihre Tränen. Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte ihm ja nicht sagen, warum sie keine Hoffnung habe. Sie fürchtete, daß das Wolkenherz in ihr nicht Menschenliebe lernen könne, daß ihres Verlobten Glück daran scheitern werde. Aber das Wolkenherz ausreißen, das hieß die Sendung vernichten, zu der sie sich erkoren fühlte; und Paul aufgeben, hieß ihr Menschentum mit einem Wortbruch beginnen.
Martin redete tröstend zu ihr: »Gönnen Sie sich Zeit. Es kann sich nur um eine nervöse Überreizung handeln. Schonen Sie sich. Und beschäftigen Sie sich mit Ihrer Liebe. Lesen Sie seine Briefe, schreiben Sie. Halten Sie sich ruhig, wahrscheinlich schadet Ihnen dieses Bergsteigen in der dünnen Luft. Sobald Sie sich kräftiger fühlen« – er seufzte leise – »kehren Sie nach Weidburg zurück – – Und – glauben Sie, daß ich stets nicht anderes will als Ihr Glück, Ihr Glück –«
Sie reichte ihm die Hand.
»Sie sind ein Mann,« sagte sie, »ich danke Ihnen. Ich will es versuchen. Verzeihen Sie mir – ich war egoistisch. Es kam so über mich, so erdrückend, es war mir so neu – ich kann Ihnen ja nicht alles sagen. Aber ich mußte sprechen – Es ist mir jetzt leichter. – Und was tun wir nun?« fragte sie schwermütig lächelnd. »Dort ist das Hotel.«
»Jetzt gehen Sie voran,« antwortete er. »Sagen Sie, Sie fühlten sich nicht wohl. Gehen Sie auf Ihr Zimmer, lassen Sie sich dort servieren. Vergessen Sie ja nicht, sich ordentlich zu pflegen. Und dann – lesen Sie, schreiben Sie –«
»Und Sie?«
»Ich – ich komme später.«
Sie sah ihn ängstlich an.
»Ich habe zwei Tröster – Gott und die Arbeit. Gehen Sie, geliebte Freundin!«
Er wandte sich schnell um und schlug einen Nebenweg ein.