Selma Lagerlöf
Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgänsen - Erster Teil
Selma Lagerlöf

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XXVI. Im Bergwerkdistrikt

Donnerstag, 28. April.

Die wilden Gänse hatten eine beschwerliche Reise. Es war ihre Absicht gewesen, gleich nordwärts über Westmanland zu fliegen, sobald sie ihr Frühstück auf den Feldern von Fellingbro verzehrt hatten, aber der Westwind nahm an Stärke zu und verschlug sie statt dessen nach Osten, ganz hinauf an die Grenze von Uppland.

Sie flogen hoch oben, und der Wind jagte sie in gewaltiger Fahrt vor sich her. Der Junge saß da und guckte hinab, um sich einen Begriff davon zu machen, wie es in Westmanland aussah, aber er konnte nichts recht unterscheiden. Er sah wohl, daß es hier in dem östlichen Teil der Landschaft flach und niedrig war, aber er konnte nicht begreifen, was für Furchen und Striche es waren, die von Norden nach Süden quer über die Ebene liefen. Es sah höchst sonderbar aus, denn alle Streifen liefen fast ganz gerade und mit gleich großem Zwischenraum.

»Dies Land ist ganz so gestreift wie die Schürze meiner Mutter,« sagte der Junge. »Ich möchte wohl wissen, was für Streifen das sind, die quer über das Ganze hinlaufen.«

»Bäche und Bergrücken, Wege und Eisenbahnen,« antworteten die Wildgänse. »Bäche und Bergrücken, Wege und Eisenbahnen.«

Und es verhielt sich wirklich so, denn als die Gänse gen Osten getrieben wurden, flogen sie zuerst über den Hedeström, der zwischen zwei Bergrücken dahinläuft und eine Eisenbahn an der Seite hat. Und dann kamen sie an den Kolbäckaa, der eine Eisenbahn an der einen Seite hat und an der anderen einen Bergrücken mit einer Landstraße. Darauf stießen sie auf den Svartaa; an dem laufen auch Bergrücken und Landwege entlang, dann auf den Lilleaa mit dem Badelundaas und schließlich auf den Sagaa, der an seinem rechten Ufer sowohl Landstraße als auch Eisenbahn hat.

»Nie habe ich so viele Wege gesehen, die alle von der einen Seite kommen,« dachte der Junge. »Da müssen viele Waren sein, die von Norden her hier durch das Land geführt werden sollen.«

Doch fand er, daß das sonderbar war, denn er glaubte, daß es nördlich von Westmanland gleichsam mit Schweden aus sei. Was noch vom Lande übrig war, könne wohl kaum etwas anderes sein als Wald und Wildnis, dachte er.

Als der Wind die Wildgänse ganz bis an den Sagaa hinübergetrieben hatte, wurde es Akka offenbar klar, daß sie ganz anders wohin gekommen waren, als sie beabsichtigt hatte, denn hier machte sie mit ihrer Schar kehrt und begann, sich in starkem, widrigem Wind nach Westen zurückzukämpfen, Sie flogen also noch einmal über die gestreifte Ebene und setzten dann den Weg nach dem westlichen Teil der Landschaft fort, der aus waldreichem Hügelland bestand.

Solange der Junge über der Ebene flog, saß er über den Hals der Gans gebeugt da und sah hinab, als aber die Ebene aufhörte und er sah, daß große Waldgegenden vor ihm lagen, richtete er sich auf und dachte, jetzt wolle er seine Augen ausruhen, denn dort, wo die Erde von Wald bedeckt war, lohnte es sich selten, Ausguck zu halten.

Als sie eine Weile über waldbedeckte Bergrücken und kleine Seen dahingeflogen waren, hörte der Junge unten auf der Erde etwas, das gleichsam winselte und klagte.

Da war er ja gezwungen, sich vornüber zu beugen und hinabzusehen. Die Wildgänse flogen jetzt nicht gerade schnell, da sie gegen den Wind ankämpften, so konnte er denn das Land unter sich ganz deutlich sehen. Das erste, was er entdeckte, war ein großes Loch, das gerade in die Erde hineinging. Über dem Loch war ein Hebewerk aus dicken Balken errichtet, und das Hebewerk holte gerade in diesem Augenblick unter Kreischen und Winseln eine Tonne herauf, die mit Steinen angefüllt war. Ringsumher lagen große Steinhaufen, eine Dampfmaschine stand in einem Schuppen und schnob, Frauen und Kinder saßen in einem Rundkreis an der Erde und suchten Steine aus, auf einer schmalen Pferdebahn rollten einige mit grauen Steinblöcken beladene Wagen dahin, und am Waldessaum lagen kleine Arbeiterwohnungen.

Der Junge konnte nicht begreifen, was das alles war, und er rief aus vollem Halse hinab: »Was für ein Ort ist das, wo sie so viele Feldsteine aus der Erde herausholen?«

»Hör' doch nur einer den Dummkopf! Hör' doch nur einer den Dummkopf!« zwitscherten die Spatzen, die an dem Ort beheimatet waren und gut Bescheid wußten. »Er kennt keinen Unterschied zwischen Feldsteinen und Eisenerz!«

Da begriff der Junge, daß das, was er sah, eine Grube war. Er war ein wenig enttäuscht, denn er hatte gedacht, eine Grube müsse auf einem hohen Berg liegen, diese aber lag auf der flachen Erde zwischen zwei Bergrücken.

Bald ließen sie sie hinter sich, und der Junge saß wieder da und starrte geradeaus, denn die tannenbewaldeten Bergrücken und die Birkenhaine, die unter ihm lagen, meinte er schon so häufig gesehen zu haben. Da merkte er, daß eine starke Wärme von der Erde zu ihm hinaufschlug, und sogleich mußte er hinabgucken, um zu sehen, woher sie kam.

Unter ihm lagen große Haufen aus Kohle und Erz, und mitten dazwischen stand ein hohes, achteckiges, rotgestrichenes Gebäude, das ein helles Flammenbündel zum Himmel emporsandte.

Anfänglich glaubte der Junge, daß es eine Feuersbrunst sei, da aber sah er, daß die Leute da unten ganz ruhig umhergingen, ohne sich auch nur das geringste um das Feuer zu kümmern, und nun konnte er nicht begreifen, wie das zusammenhing.

»Was für ein Ort ist dies, wo sich niemand darum kümmert, daß ein Haus in hellen Flammen steht?« rief der Junge hinab.

»So ein Feigling! hat Angst vor dem Feuer!« zwitscherten die Buchfinken, die am Waldessaum wohnten und von allem, was sich in der Nachbarschaft zutrug, genau Bescheid wußten. »Er weiß nicht, wie das Eisen aus dem Erz herausgeschmolzen wird. Er kennt nicht den Unterschied zwischen dem Feuer aus einem Schmelzofen und einer Feuersbrunst!«

Bald ließen sie den Schmelzofen hinter sich, und wieder saß der Junge da und sah gerade vor sich hin, denn er glaubte, daß in dieser Waldgegend nicht viel zu sehen sei. Aber sie waren noch nicht weit geflogen, als er unten von der Erde einen fürchterlichen Lärm und Spektakel aufsteigen hörte.

Als er hinabsah, erblickte er erst einen kleinen Bach, der mit starkem Gefälle eine Bergwand hinabstürzte. Neben dem Wasserfall lag ein großes Gebäude mit schwarzem Dach und hohem Schornstein, der einen dicken, mit Funken vermischten Rauch entsandte. Vor dem Gebäude lagen Eisenklumpen und Eisenstangen und ganze Berge von Kohlen. Die Erde war in weitem Umkreis schwarz, und nach allen Seiten gingen schwarze Wege. Aus dem Gebäude ertönte ein unbeschreiblicher Lärm. Es bullerte und prustete. Es klang, als wenn jemand mit starken Schlägen versuchte, sich gegen ein fauchendes, wildes Tier zu verteidigen. Aber das Sonderbare war, daß niemand sich darum kümmerte, was da vor sich ging. Eine Strecke weiter lagen Arbeiterwohnungen unter grünen Bäumen, und noch ein wenig weiter ragte ein großes, weißes Herrenhaus auf. Aber vor den Arbeiterwohnungen spielten die Kinder ganz ruhig, und in der Allee, die zu dem Herrenhaus hinaufführte, gingen Leute in höchster Gemütsruhe.

»Was für ein Ort ist dies, wo sich niemand darum kümmert, daß die da im Hause einander totschlagen?« rief der Junge auf die Erde hinab.

»Hak, ak, ak! Weiß der aber gut Bescheid! Hak, ak, ak!« schnatterte eine Elster. »Da wird niemand in Stücke zerrissen. Es ist das Eisen, das siedet und sprüht, wenn es unter den Hammer gelegt wird.«

Bald ließen sie das Eisenwerk hinter sich, und der Junge saß wieder da und sah geradeaus, denn er dachte, hier in der Waldgegend könne nicht viel zu sehen sein.

Als sie eine Weile geflogen waren, hörte er eine Glocke läuten, und er mußte noch einmal hinabgucken, um zu sehen, woher der Ton kam.

Da sah er unter sich einen Bauerhof, wie er nie etwas Ähnliches gesehen hatte. Das Wohnhaus war ein langes, rotgestrichenes, einstöckiges Gebäude, und es war nicht so übermäßig groß, aber was ihn in Erstaunen versetzte, das waren alle die großen, gutgebauten Wirtschaftsgebäude, die es umgaben. Der Junge wußte ungefähr, wie viele Wirtschaftsgebäude zu einem Hofe gehören, aber hier hatten sie offenbar das Doppelte oder Dreidoppelte von allem. So einen Überfluß von Gebäuden hatte er sich nicht träumen lassen. Und er konnte auch nicht begreifen, was darin aufgehoben werden sollte, denn da waren fast gar keine Felder in der Nähe des Hofes. Er sah einige kleine Felder drinnen im Walde, aber teils waren sie so klein, daß er sie kaum Felder nennen würde, teils war schon auf einem jeden eine Scheune, um aufzunehmen, was da geerntet werden konnte.

Auf dem Stalldach hing die Essenglocke unter einer Kapuze, und die hatte geläutet. Der Hausherr ging mit seinen Knechten in die Küche, und der Junge sah, daß er viele und gutgewachsene Leute hatte.

»Was für Leute sind das, die solche große Gehöfte mitten in den Wald bauen, wo gar keine Felder sind?« rief der Junge auf die Erde hinab.

Der Hahn stolzierte auf dem Misthaufen und blieb ihm die Antwort nicht schuldig.

»Alter Bergmannshof. Alter Bergmannshof,« krähte er. »Die Felder liegen unter der Erde! die Felder liegen unter der Erde!«

Jetzt wurde es dem Jungen klar, daß es keine gewöhnliche Waldgegend war, über die man hinwegfliegen konnte, ohne sie zu beachten. Wälder und Berge waren da freilich überall, aber es lagen eine unglaubliche Menge von sonderbaren Orten darin versteckt.

Da waren Grubenfelder, wo die Hebebäume kurz davor waren umzufallen, und wo die Erde von Grubenlöchern durchbohrt war, und da waren Grubenfelder, wo noch immer gearbeitet wurde, wo man die dumpfen Sprengschüsse bis zu den Wildgänsen hinauf hören konnte, und wo ganze Städte und Arbeiterwohnungen aus dem Waldessaum auftauchten. Da waren alte, verlassene Schmieden, wo der Junge durch das zusammengestürzte Dach auf mächtige, eisenbeschlagene Hammerschäfte und plump gemauerte Öfen hinabsehen konnte, und da waren große, neuangelegte Eisenwerke, wo gearbeitet und gehämmert wurde, daß die Erde erbebte. Da waren kleine Städte mitten in der Wildnis; sie lagen ganz still und sahen so aus, als wüßten sie nichts von dem Lärm ringsumher. Da gingen Drahtbahnen durch die Luft, an denen erzbeladene Körbe lautlos entlang glitten. In allen Gießbächen schnurrten Räder, elektrische Leitungen liefen durch den stummen Wald, und endlos lange Eisenbahnzüge kamen mit sechzig, siebzig Wagen dahergerollt, die bald mit Erz und Kohlen, bald mit Eisenstangen, Eisenplatten und Stahldraht beladen waren.

Als der Junge eine Weile still dagesessen und das alles betrachtet hatte, konnte er sich nicht länger ruhig verhalten. »Wie heißt doch nur dies Land, wo nichts weiter wächst als Eisen?« fragte er, obwohl er wußte, daß die Vögel unten auf der Erde sich über ihn lustig machen würden.

Da fuhr eine alte Eule, die in einer verlassenen Schmelzhütte saß und schlief, aus ihrem Schlaf auf. Sie streckte ihren runden Kopf aus und rief mit ihrer unheimlichen Stimme: »Uhu, uhu, uhu! Dies Land heißt Bergwerkdistrikt! Wüchse hier kein Eisen, so wohnte hier heutigentags niemand als Eulen und Bären.«

Ende des ersten Bandes.


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