Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Donnerstag, den 24. März.
Gerade in jenen Tagen trug sich in Schonen eine Begebenheit zu, die sehr viel beredet wurde, ja sogar in die Zeitung kam. Von vielen wurde sie freilich für Erdichtung gehalten, weil sie nicht imstande waren, sie zu erklären.
In einem Nußholz am Ufer des Bombsees war nämlich ein Eichhörnchenweibchen gefangen und nach einem Bauernhof in der Nähe gebracht. Alle im Bauernhöfe, jung wie alt, freuten sich über das schöne kleine Tier mit dem großen Schwanz, den klugen, neugierigen Augen und den niedlichen, kleinen Beinchen. Sie dachten, sie wollten sich den ganzen Sommer an seinen flinken Bewegungen, seiner drolligen Art, Nüsse zu knacken und seinem munteren Spiel ergötzen. Sie setzten sofort einen alten Eichhörnchenkäfig in Ordnung; der bestand aus einem kleinen, grünangemalten Haus und einem Stahldrahtrad. Das kleine Haus, das sowohl eine Tür als auch Fenster hatte, sollte das Eichhörnchen als Eß- und Schlafzimmer haben; deswegen machten sie ein Bett aus welkem Laub für das Tierchen zurecht und setzten eine Schale mit Milch und einige Nüsse dahinein. Aber das Stahldrahtrad sollte es als Spielstube haben, in der es laufen und klettern und die es herumdrehen konnte.
Die Leute meinten, daß sie es sehr schön für das Eichhörnchen eingerichtet hätten und wunderten sich, daß es nicht gedeihen wollte. Es saß im Gegenteil niedergeschlagen und unwirsch in einer Ecke seiner Stube, und von Zeit zu Zeit stieß es einen lauten Klageschrei aus. Es rührte das Essen nicht an und drehte das Rad nicht ein einziges Mal herum. »Es ist gewiß bange,« sagten die Leute auf dem Bauernhof. »Morgen, wenn es sich erst heimischer fühlt, wird es schon essen und spielen.«
Nun traf es sich so, daß die Frauen im Bauernhof Anstalten zu einem Festschmaus trafen, und gerade an dem Tage, als das Eichhörnchen gefangen wurde, fand großes Backen statt. Und entweder hatten sie Unglück mit dem Teig gehabt, so daß er nicht aufgehen wollte, oder auch sie waren langsam bei der Arbeit gewesen, denn sie waren noch lange nach Hereinbruch der Dunkelheit damit beschäftigt.
Es herrschte natürlich großer Eifer und Geschäftigkeit in der Küche, und niemand ließ sich Zeit, daran zu denken, wie es dem Eichhörnchen ergehen mochte. In dem Hause war aber eine alte Frau, die war zu alt, um noch an dem Backen teilzunehmen. Das begriff sie selbst sehr wohl, aber sie mochte doch nicht gern so außerhalb des Ganzen stehen. Sie war betrübt, und deswegen ging sie nicht zu Bett, sondern setzte sich an das Fenster in der Stube und sah hinaus. In der Küche hatten sie der Hitze halber die Tür aufgemacht, so daß der klare Lichtschein auf den Hof hinausströmte. Es war ein Hofplatz mit Gebäuden nach allen Seiten, und es wurde so hell dort, daß die alte Frau die Risse und Löcher im Kalkputz an der Mauer gegenüber erkennen konnte. Sie sah auch den Eichhörnchenkäfig, der gerade an der Stelle hing, auf die der Lichtschein am allerstärksten fiel, und sie beobachtete, wie das Eichhörnchen die ganze Nacht aus seiner Stube in das Rad hinein und aus dem Rad wieder in die Stube sprang, ohne auch nur einen Augenblick zu ruhen. Sie fand, daß das Tier von einer wunderlichen Rastlosigkeit befallen sei, aber sie glaubte natürlich, daß der grelle Lichtschein es wach halte.
Zwischen dem Kuhstall und dem Pferdestall befand sich auf dem Hofe eine große Einfahrt, und die lag so, daß sie ebenfalls beleuchtet wurde. Und als die Nacht bereits ein wenig vorgeschritten war, sah die alte Frau einen kleinen Knirps, der nicht größer war als eine Handbreit, aber Holzschuhe und Lederhosen trug wie ein Arbeitsmann, leise und vorsichtig aus der Einfahrt auf den Hof schleichen. Die alte Frau begriff sofort, daß es der Kobold sei, und sie wurde nicht im geringsten bange. Sie hatte immer gehört, daß er sich dort auf dem Hofe aufhielt, obgleich sie ihn noch nie gesehen hatte, und ein Kobold hatte ja Glück im Gefolge, wo er sich zeigte.
Sobald der Kobold auf den gepflasterten Hof gekommen war, lief er geradeswegs auf den Eichhörnchenkäfig zu, und da der so hoch hing, daß er ihn nicht erreichen konnte, holte er sich eine Stange aus dem Gerätschaftsschuppen, stellte sie an den Käfig und kletterte daran in die Höhe, wie ein Seemann ein Tau entert. Als er an den Käfig hinaufkam, rüttelte er an der Tür des kleinen grünen Hauses, als wolle er sie öffnen, aber die alte Frau war ganz ruhig, denn sie wußte, daß die Kinder ein Hängeschloß vor die Tür gehängt hatten, aus Furcht, daß die Nachbarjungen versuchen könnten, das Eichhörnchen zu stehlen. Die alte Frau sah, daß, als der Kobold die Tür nicht aufbekommen konnte, das Eichhörnchen in das Stahldrahtrad hinausging. Dort hielt es eine lange Beratung mit dem Kobold ab. Und als der Kobold alles gehört hatte, was das gefangene Tierchen zu erzählen hatte, rutschte er an der Stange herunter und lief zum Tore hinaus.
Die alte Frau dachte, sie würde in dieser Nacht nichts mehr von dem Kobold sehen, aber sie blieb trotzdem am Fenster sitzen. Als eine kleine Weile vergangen war, kam er zurück. Er lief so schnell, daß sie kaum sehen konnte, wie seine Füße den Erdboden berührten, und er eilte auf den Käfig zu. Die alte Frau mit ihren weitsichtigen Augen konnte ihn deutlich sehen, und sie konnte auch sehen, daß er etwas in den Händen trug, aber was es war, konnte sie nicht begreifen. Das, was er in der linken Hand hatte, legte er auf das Steinpflaster, aber das, was er in der rechten hatte, nahm er mit nach dem Käfig hinauf. Hier stieß er mit seinem Holzschuh gegen das kleine Fenster, so daß die Scheibe zerbrach, und dann steckte er das, was er in der Hand hatte, durch das Loch dem Eichhörnchen zu. Darauf ließ er sich wieder hinabgleiten, nahm das, was er an die Erde gelegt hatte, und kletterte auch damit nach dem Käfig hinauf. Und als das getan war, eilte er wieder so hastig von dannen, daß die alte Frau ihm kaum mit den Augen folgen konnte.
Nun aber war an dem Mütterchen die Reihe, nicht mehr still in der Stube sitzen zu können. Ganz leise ging sie auf den Hof hinaus und stellte sich in den Schatten der Pumpe, um auf den Kobold zu warten. Und da war noch eine, die ihn entdeckt hatte und neugierig geworden war, nämlich die Hauskatze. Die kam leise geschlichen und stellte sich an der Mauer auf, gerade ein paar Schritte außerhalb des hellsten Lichtstreifs.
Sie standen beide da und warteten eine ganze Ewigkeit in der kalten Märznacht, und die alte Frau dachte schon daran, wieder hineinzugehen, als sie etwas auf dem Steinpflaster klappern hörte und den kleinen Knirps noch einmal dahergetrabt kommen sah. Ebenso wie vorhin trug er etwas in jeder Hand, und das, was er trug, piepste und zappelte. Und nun ging dem Mütterchen ein Licht auf. Sie begriff, daß der Kobold im Nutzholz gewesen war und die jungen Eichhörnchen geholt hatte, und daß er sie zu der Mutter bracht, damit sie nicht verhungern sollten.
Das Mütterchen stand ganz still, um nicht zu stören, und es schien auch nicht, als wenn der Kobold sie bemerkt hatte. Er wollte gerade das eine Junge an die Erde legen, um mit dem andern nach dem Käfig hinaufzuklettern, als er die grünen Augen der Katze dicht neben sich sah. Ganz ratlos blieb er stehen, ein Junges in jeder Hand.
Er wandte sich um, sah nach allen Seiten aus und gewahrte nun das Mütterchen. Da bedachte er sich nicht lange, sondern ging hin und reichte ihr eins der jungen Eichhörnchen hin.
Und das Mütterchen wollte sich seines Vertrauens nicht unwürdig zeigen, sie beugte sich hinab und nahm das Eichhörnchen entgegen und stand da und hielt es, bis der Kobold mit dem andern nach dem Käfig hinaufgeklettert war und nun kam, um das zu holen, das er ihr anvertraut hatte.
Am nächsten Morgen, als sich die Leute im Bauernhofe um den Morgenimbiß sammelten, konnte die alte Frau ja nicht an sich halten, sie mußte erzählen, was sie in der Nacht gesehen hatte. Und sie lachten natürlich alle zusammen und sagten, das habe sie geträumt. So früh im Jahre gebe es noch gar keine jungen Eichhörnchen.
Sie aber war ihrer Sache sicher und bat sie, im Eichhörnchenkäfig nachzusehen, und das taten sie. Und da lagen auf dem Laubbett in der Stube vier kleine halbnackte und halbblinde Junge, die mindestens ein paar Tage alt waren.
Als der Hausvater die Jungen sah, sagte er: »Es mag nun hiermit sein wie es will, das aber ist gewiß, wir haben uns hier auf dem Hofe so benommen, daß wir uns vor Tieren und Menschen schämen müssen.« Und dann nahm er das Eichhörnchen und alle die Jungen aus dem Käfig heraus und legte sie dem Mütterchen in die Schürze: »Geh du nun mit ihnen in das Nußholz hinaus,« sagte er, »und gib ihnen ihre Freiheit wieder!«
Über diese Begebenheit wurde soviel geredet, und sie kam sogar in die Zeitung. Aber die meisten wollten nicht daran glauben, weil sie sich nicht erklären konnten, wie so etwas geschehen könne.
Sonntag, den 26. März.
Ein paar Tage später trug sich ein ebenso sonderbares Ereignis zu. Eine Schar wilder Gänse kamen eines Morgens und ließen sich auf einem Felde drüben in dem östlichen Schonen, nicht weit von dem großen Gut Vittskövle nieder. In der Schar befanden sich dreizehn Gänse von der gewöhnlichen grauen Farbe und ein weißer Gänserich, der einen kleinen Knirps auf dem Rücken trug. Der hatte eine gelbe Lederhose, und eine grüne Weste an und auf dem Kopfe eine weiße Zipfelmütze.
Sie waren nun ziemlich nahe an der Ostsee, und auf dem Felde, wo sich die Gänse niedergelassen hatten, war der Boden sandig, wie er es an der Küste zu sein pflegt. In der Gegend war allem Anschein nach früher Flugsand gewesen, denn an mehreren Stellen standen große Tannenanpflanzungen, offenbar um den Sand zu halten.
Als die wilden Gänse eine Weile gegrast hatten, kamen ein paar Kinder in der Ackerfurche entlang. Die Gans, die Wache hielt, schwang sich schnell mit klatschendem Flügelschlag in die Luft empor, damit die ganze Schar hören könne, daß Gefahr im Anzuge sei. Alle wilden Gänse flogen auf, aber der weiße Gänserich blieb ganz ruhig grasend auf dem Felde. Als er die andern fliegen sah, hob er den Kopf empor und rief ihnen nach: »Ihr braucht wirklich vor denen da nicht zu entfliehen. Es sind ja nur ein paar Kinder!«
Der kleine Knirps, den der weiße Gänserich auf dem Rücken gehabt hatte, saß auf einem Erdhügel am Waldesrande und zerzupfte einen Tannenapfel, um die Samenkörner herauszubekommen. Die Kinder waren so dicht in seiner Nähe, daß er nicht über das Feld hinüber zu dem weißen Gänserich zu laufen wagte. Er versteckte sich schnell unter einem großen, welken Distelblatt und stieß dabei einen warnenden Ruf aus.
Der Gänserich aber hatte offenbar beschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Er graste ruhig weiter auf dem Felde und achtete nicht einmal darauf, wohin die Kinder gingen.
Die bogen indessen vom Wege ab, gingen über das Feld und näherten sich dem Gänserich. Als der endlich aufsah, waren sie ganz in seiner Nähe, und nun erschrak er so und war so verwirrt, daß er ganz sein Fliegen vergaß und zu laufen anfing, um ihnen zu entkommen. Die Kinder folgten hinterdrein, jagten ihn in einen Graben und fingen ihn. Das größere von den beiden steckte ihn unter den Arm und ging mit ihm davon.
Als der Knirps, der unter dem Distelblatt saß, das sah, fuhr er in die Höhe, als wolle er den Kindern den Gänserich entreißen. Aber dann fiel ihm ein, wie klein und machtlos er war, und er warf sich statt dessen auf den Erdhügel nieder und schlug mit geballten Fäusten in die Erde hinein, ganz außer sich.
Der Gänserich schrie aus Leibeskräften um Hilfe: »Däumling, komm und hilf mir! Däumling, komm und hilf mir!« Aber da mußte der Junge doch mitten in all seinem Kummer lachen. »Ja, ich bin wohl der Rechte, jemand zu helfen!« sagte er.
Die Kinder hatten einen großen Vorsprung, aber dem Jungen wurde es nicht schwer, sie im Auge zu behalten, bis er an eine Vertiefung im Boden gelangte, wo ein Bach dahergebraust kam. Der war weder breit noch tief, aber er war trotzdem gezwungen, am Ufer entlang zu laufen, bis er eine Stelle fand, wo er hinüberspringen konnte.
Als er aus der kleinen Schlucht herauskam, waren die Kinder verschwunden. Aber er konnte ihre Spuren auf einem schmalen Steig sehen, der in den Wald führte, und er fuhr fort, sie zu verfolgen.
Bald kam er jedoch an einen Fahrweg, und hier mußten die Kinder sich getrennt haben, denn da waren Spuren nach zwei Richtungen hin. Nun war der Knirps nahe daran, den Mut zu verlieren.
Im selben Augenblick aber sah er auf einem Heidehügel eine kleine weiße Daune. Er verstand nun, daß der Gänserich die am Wegesrande hatte fallen lassen, um ihm zu zeigen, nach welcher Seite er gebracht war, und er setzte deswegen seinen Weg fort. Und dann folgte er den Kindern durch den ganzen Wald. Von dem Gänserich sah er nichts, aber überall, wo er unsicher in bezug auf den Weg sein konnte, lag eine kleine, weiße Daune und zeigte ihn zurecht.
Der Knirps folgte getreulich den Daunen. Sie führten ihn zum Walde hinaus, über ein paar Felder, einen Weg entlang und schließlich eine Allee hinauf bis an ein Schloß. Am Ende der Allee konnte man einen Schimmer von Giebeln und Türmen und roten Steinen sehen, die mit hellen Streifen und Ornamenten geschmückt waren. Als der Knirps sah, daß da ein Schloß lag, konnte er sich wohl denken, was aus dem Gänserich geworden war. »Die Kinder sind gewiß mit dem Gänserich nach dem Schloß gegangen und haben ihn verkauft, und dann wird er wohl schon geschlachtet sein,« sagte er zu sich selbst. Aber er wollte sich nicht beruhigen, ehe er richtigen Bescheid hatte, und lief noch eifriger weiter. Er begegnete niemand in der Allee, und das war ja gut. Denn alle, die von seiner Art sind, pflegen sich davor zu fürchten, von Menschen gesehen zu werden.
Das Schloß, zu dem er kam, war ein prächtiges, altes Gebäude. Es bestand aus vier Flügeln mit einem Burghof in der Mitte. An der Ostseite befand sich eine tiefe Torwölbung, die auf den Burghof führte. Soweit lief der Knirps, ohne sich zu bedenken, als er aber dahin gekommen war, blieb er stehen. Er wagte nicht, sich weiter zu begeben, sondern stand still und dachte darüber nach, was er nun tun sollte.
Er stand noch mit dem Finger an der Nase da, als er Schritte hinter sich hörte, und als er sich umwandte, sah er eine ganze Schar Menschen die Allee hinaufkommen. Schnell schlüpfte er hinter eine Wassertonne, die zufällig dicht neben dem Tor stand, und verbarg sich dort.
Was ihn so erschreckt hatte, waren ungefähr zwei Dutzend junger Leute von einer Hochschule; sie befanden sich in Begleitung eines Lehrers auf einer Fußwanderung, und als sie das Tor erreicht hatten, hieß er sie dort warten, während er hineinging und fragte, ob sie die alte Burg Vittskövle besehen könnten.
Die Neuangekommenen waren erhitzt und müde, als wenn sie weit gegangen wären. Einer von ihnen war so durstig, daß er an die Wassertonne trat und sich hinabbeugte, um zu trinken. Er hatte eine Botanisiertrommel auf dem Rücken und meinte offenbar, daß sie ihm hinderlich sei, denn er warf sie ab. Dadurch tat sich der Deckel auf, und man konnte sehen, daß einige Frühlingsblumen darin lagen.
Die Botanisiertrommel fiel dem Knirps gerade vor die Füße, und er fand, daß dies eine vorzügliche Gelegenheit sei, ins Schloß hinein zu gelangen und zu entdecken, wo der Gänserich geblieben war. Schnell schlüpfte er in die Botanisiertrommel und versteckte sich, so gut er konnte, unter Anemonen und Huflattich.
Kaum war es ihm gelungen, sich zu verbergen, als der junge Mann die Botanisierkapsel aufnahm, sie sich auf den Rücken hängte und den Deckel zuklappte.
Der Lehrer kam jetzt zurück und sagte, sie hätten die Erlaubnis erhalten, das Schloß zu besichtigen. Vorerst führte er sie jedoch nur auf den Burghof. Dort blieb er stehen und erzählte ihnen von dem alten Gebäude.
Schließlich ging die ganze Gesellschaft in das Schloß, aber wenn der Knirps gehofft hatte, daß er Gelegenheit haben würde, aus der Botanisiertrommel herauszuschlüpfen, so sah er sich getäuscht, denn der Schüler behielt die Botanisiertrommel auf dem Rücken, und der Knirps mußte alle Stuben mit durchwandern.
Es war eine langweilige Wanderung. Jeden Augenblick blieb der Lehrer stehen, um zu erklären und zu erzählen. Er beeilte sich wahrlich nicht. Aber er wußte ja auch nicht, daß ein armes kleines Wurm in einer Botanisierkapsel verborgen lag und sich nur danach sehnte, daß er aufhören sollte.
Schließlich ging der Lehrer wieder in den Burghof hinaus und blieb abermals stehen und sprach zu den Schülern.
Aber die Rede brauchte der Knirps nicht mit anzuhören, denn der Schüler, der ihn trug, war wieder durstig geworden und schlich in die Küche hinaus, um einen Trunk Wasser zu erbitten. Als sie da hinein kamen, fiel dem Knirps ein, daß der Gänserich hier gewiß sein mußte. Er fing an, sich zu rühren, und dabei drückte er unversehens zu stark gegen den Deckel, so daß der aufsprang. Aber die Deckel von Botanisiertrommeln springen ja immer auf, und der Schüler dachte nicht weiter daran, und drückte ihn nur wieder zu; die Köchin fragte jedoch, ob er eine Schlange darin habe. »Nein, ich habe nur einige Pflanzen,« antwortete der Schüler. »Aber es rührte sich doch etwas darin,« behauptete die Köchin. Der Schüler öffnete den Deckel ganz weit, um ihr zu zeigen, daß sie irre. »Da können Sie selbst sehen, daß ...«
Aber weiter kam er nicht, denn nun wagte der Knirps nicht länger, in der Botanisiertrommel zu bleiben, mit einem Satz war er an der Erde und stürzte zur Küche hinaus. Die Mägde hatten kaum gesehen, was es war, das da lief, aber sie rannten hinterdrein.
Der Lehrer stand noch da und redete, als er durch laute Rufe unterbrochen wurde: »Fangt ihn! Fangt ihn!« riefen alle, die aus der Küche kamen, und die sämtlichen jungen Leute jagten hinter dem Knirps drein, der schneller lief als eine Maus. Sie versuchten, ihn zu fangen, indem sie von der andern Seite in das Tor hineinliefen, aber es war nicht so leicht, jemand zu erwischen, der so klein war, und er gelangte glücklich ins Freie hinaus.
Der Knirps wagte nicht, die offene Allee hinabzulaufen, sondern bog nach einer andern Seite ab. Er stürzte durch den Garten in den Hinterhof. Die ganze Zeit jagten sie unter Lachen und Rufen hinter ihm drein. Der arme Kleine rannte, so schnell er konnte, aber es sah trotzdem so aus, als wenn sie ihn einholen würden.
Gerade als er an einer kleinen Tagelöhnerwohnung vorüber kam, hörte er eine Gans gackern und sah eine kleine weiße Daune auf der Treppe liegen. Da war er, da war der Gänserich! Er war auf falscher Spur gewesen. Er dachte nicht mehr an Mägde und Knechte, die hinter ihm selber dreinjagten, sondern krabbelte die Treppe hinauf und lief auf den Flur. Weiter konnte er nicht kommen, denn die Tür war geschlossen. Er konnte den Gänserich da drinnen schreien und jammern hören, aber es war ihm nicht möglich, die Tür aufzubekommen. Die wilde Jagd, die hinter ihm her war, kam immer näher, und da drinnen in der Stube schrie der Gänserich immer jammervoller. In dieser höchsten Not faßte der Knirps schließlich Mut und donnerte aus Leibeskräften gegen die Tür.
Ein Kind kam und öffnete, und der Knirps sah sich in der Stube um. Mitten darin saß eine Frau, die den Gänserich festhielt, um ihm die Schwungfedern abzuschneiden. Ihre Kinder hatten den Gänserich gefunden, und sie wollte ihm kein Leides tun.
Sie wollte ihn nur zu ihren eigenen Gänsen hinauslassen, sobald sie ihm die Flügel gestutzt hatte, damit er nicht davonfliegen konnte. Aber es konnte dem Gänserich ja kein größeres Unglück widerfahren, und er schrie und jammerte aus Leibeskräften.
Ein Glück war es, daß die Frau nicht früher angefangen hatte zu schneiden. Jetzt waren nur zwei Federn vor der Schere gefallen, als die Tür aufging und der kleine Knirps auf der Schwelle stand. Aber so einen hatte die Frau noch nie im Leben gesehen. Sie konnte sich nichts anderes denken, als daß es der Koboldenvater in eigener Person sei, und vor Schrecken ließ sie die Schere fallen, schlug die Hände zusammen und vergaß, den Gänserich festzuhalten.
Sobald der sich frei fühlte, lief er nach der Tür. Er ließ sich keine Zeit, still zu stehen, packte aber in der Eile den Knirps beim Hemdbund und nahm ihn mit. Und auf der Treppe breitete er die Flügel aus und hub sich in die Luft empor. Gleichzeitig machte er eine flotte Bewegung mit dem Halse und setzte den Knirps auf seinen glatten Rücken hinauf.
So ging es mit ihnen dahin, in die Luft hinauf, und ganz Vittskövle stand da und starrte ihnen nach.
Den ganzen Tag, während die Gänse mit dem Fuchs spielten, lag der Junge in einem leeren Eichhörnchennest und schlief. Als er gegen Abend erwachte, war er sehr bekümmert: »Jetzt werde ich bald nach Hause geschickt, und dann läßt es sich ja nicht vermeiden, daß ich mich vor Vater und Mutter sehen lassen muß,« dachte er.
Aber als er die wilden Gänse fand, die auf dem Vombsee lagen und schwammen, sagte keine von ihnen ein Wort davon, daß er fort solle. »Sie finden am Ende, daß der Weiße zu müde ist, um heute abend mit mir nach Hause zu fliegen,« dachte der Junge.
Am nächsten Morgen erwachten die Gänse beim ersten Tagesgrauen, lange vor Sonnenaufgang. Jetzt war der Junge fest überzeugt, daß die Heimreise vor sich gehen müsse, aber sonderbarerweise erhielten der weiße Gänserich und er Erlaubnis, die wilden Gänse auf ihrem Morgenausflug zu begleiten. Der Junge konnte gar nicht begreifen, was der Grund zu dem Aufschub war, aber dann fiel ihm ein, daß die wilden Gänse den Gänserich wohl nicht auf eine weite Reise schicken wollten, ehe er sich ordentlich satt gegessen hatte. Was nun der Grund auch sein mochte, er freute sich über jede Stunde, die verging, ehe er gezwungen war, seine Eltern wiederzusehen.
Die wilden Gänse flogen über das Schloß Övedkloster, das in einem herrlichen Park östlich vom See lag und sich prächtig ausnahm mit seinem schönen, gepflasterten Burghof, umgeben von niedrigen Mauern und Pavillons und seinem feinen, altmodischen Garten mit beschnittenen Hecken, geschlossenen Alleen, Teichen, Springbrunnen, schönen Bäumen und geradlinigen Rasenflächen, die mit bunten Frühlingsblumen eingefaßt waren.
Als die wilden Gänse in der frühen Morgenstunde über das Schloß flogen, war noch kein Mensch auf den Beinen. Nachdem sie sich hierüber sorgfältig vergewissert hatten, ließen sie sich über das Hundehaus herniederschweben und riefen: »Was ist das für eine kleine Hütte? Was ist das für eine kleine Hütte?«
Augenblicklich kam der Kettenhund aus seinem Haus, wütend und zornig, und bellte in die Luft hinauf.
»Nennt ihr das eine Hütte, ihr Landstreicher? Seht ihr denn nicht, daß es ein hohes Schloß aus Steinen ist? Seht ihr denn nicht, was für schöne Mauern es hat, seht ihr nicht, wie viele Fenster es hat, und große Tore und eine prachtvolle Terrasse? Wau, wau, wau! Also das nennt ihr eine Hütte? Seht ihr nicht den Hof? Seht ihr nicht den Garten, seht ihr nicht die Treibhäuser, seht ihr nicht die Marmorsäulen? Nennt ihr das eine Hütte? Pflegen die Hütten einen Park zu haben, in dem Buchenwälder sind und Nußhaine und Waldwiesen und Eichenhaine und Tannenschonungen und ein Tiergarten voll von Rehen, wau, wau, wau? Nennt ihr das eine Hütte? Habt ihr jemals Hütten gesehen, die so viele Wirtschaftsgebäude rings umher haben, daß es aussieht wie ein ganzes Dorf? Kennt ihr viele Hütten, die eine eigene Kirche haben und einen Pfarrhof, und die über Rittergüter und Bauernhöfe und Pachterhöfe und Häuslereien gebieten? Wau, wau, wau! Nennt ihr das eine Hütte? Zu dieser Hütte gehört das größte Gut in Schonen, ihr Lumpengesindel. Da, wo ihr in den Wolken hängt, könnt ihr kein Fleckchen Erde sehen, das nicht unter dieser Hütte steht. Wau, wau, wau!«
Dies alles rief der Hund in einem Atemzug, und die Gänse flogen über dem Schloß hin und her und hörten ihm zu, bis er gezwungen war, Atem zu schöpfen. Dann aber schrien sie: »Warum ereiferst du dich so? Wir fragten ja gar nicht nach dem Schloß, wir fragten nur nach deinem Hundehaus.«
Als der Junge diese Späße hörte, lachte er anfänglich, dann aber ergriff ihn ein Gedanke, der ihn plötzlich ernsthaft machte: »Denk doch, wieviel Kurzweiliges würdest du zu hören bekommen, wenn du mit den Gänsen durch das ganze Land fliegen dürftest, bis hinauf nach Lappland,« sagte er zu sich selbst. »Wenn du doch in das Unglück geraten bist, so wäre eine solche Reise das beste, was dir widerfahren könnte.«
Die wilden Gänse flogen auf eins der großen Felder östlich von dem Schloß, um Graswurzeln zu fressen, und damit beschäftigten sie sich stundenlang. Währenddessen ging der Junge in den großen Park hinein, der an das Feld stieß und guckte in die Büsche hinauf, um zu sehen, ob da nicht ein paar Nüsse vom Herbst her hängengeblieben sein sollten. Aber wie er da so im Park umherging, kehrte immer wieder derselbe Gedanke zu ihm zurück. Er malte sich aus, wie lustig es sein würde, wenn er mit den wilden Gänsen fliegen könnte. Hungern und frieren würde er wohl manch liebes Mal, aber dafür brauchte er dann ja auch nicht zu arbeiten und zu lernen.
Als er dort ging, kam die alte, graue Führergans auf ihn zu und fragte, ob er genug zu essen gefunden habe. Nein, sagte er, er hätte nichts gefunden. Da suchte sie ihm zu helfen. Nüsse konnte sie auch nicht finden, aber sie entdeckte ein paar Hagebutten, die an einem wilden Rosenbusch hingen. Der Junge verzehrte sie mit gutem Appetit, konnte aber nicht umhin, zu denken, was seine Mutter sagen würde, wenn sie wüßte, daß er jetzt von rohem Fisch und von alten überjährigen Hagebutten lebte.
Als sich die wilden Gänse endlich satt gegessen hatten, zogen sie wieder an den See hinab und belustigten sich bis gegen Mittag mit Spielen. Sie forderten den weißen Gänserich auf allen möglichen Sportgebieten zum Wettstreit auf. Sie schwammen um die Wette, liefen um die Wette und flogen um die Wette mit ihm. Der große Zahme tat sein Bestes, wurde aber stets von den flinken wilden Gänsen geschlagen.
Der Junge saß während der ganzen Zeit auf dem Rücken des Gänserichs und ermunterte ihn und amüsierte sich ebensogut wie die andern. Das war ein Schreien und ein Gackern und ein Lachen, und es war wirklich unbegreiflich, daß die Leute im Schloß es nicht hörten.
Als die wilden Gänse des Spielens überdrüssig waren, flogen sie auf das Eis hinaus, um ein paar Stunden zu ruhen. Den Nachmittag verbrachten sie ungefähr auf dieselbe Weise wie den Vormittag. Zuerst ein paar Stunden Grasen, dann Baden und Spielen im Wasser am Rande des Eises bis Sonnenuntergang, worauf sie sich gleich zum Schlafen hinsetzten.
»Das wäre gerade so ein Leben, wie es mir passen würde,« dachte der Junge, als er unter den Flügel der Gans kroch. »Aber morgen werde ich gewiß nach Hause geschickt.«
Ehe er einschlief, lag er da und dachte darüber nach, daß, wenn er Erlaubnis erhielt, mit den Wildgänsen zu reisen, er um die Schelte hinwegkam, weil er so faul war. Dann konnte er sich den ganzen Tag umhertreiben und hatte keine andern Sorgen, als, wie er sich etwas zu essen beschaffte. Aber er hatte für den Augenblick ja nur so wenig nötig, damit würde er schon fertig werden.
Und dann malte er sich alles aus, was er zu sehen bekommen würde, und die vielen Abenteuer, die er erleben sollte. Ja, das war etwas anderes, als all die Arbeit und Mühe daheim. »Dürfte ich nur die wilden Gänse auf ihrer Reise begleiten, so wollte ich mich nicht darum quälen, daß ich verhext bin,« dachte der Junge.
Das einzige, wovor er sich fürchtete, war, daß er nach Hause geschickt werden würde, aber auch am Mittwoch sagten die Gänse nichts davon, daß er reisen solle. Dieser Tag verging in gleicher Weise wie der Dienstag, und das Leben in der Wildnis gefiel dem Jungen immer besser. Er meinte, er habe den einsamen Park von Övedkloster, der so groß war wie ein Wald, ganz für sich allein, und er sehnte sich nicht zurück nach dem engen Haus und den kleinen Feldern daheim.
Am Mittwoch glaubte er, daß die wilden Gänse die Absicht hatten, ihn bei sich zu behalten, aber am Donnerstag gab er die Hoffnung wieder auf.
Der Donnerstag begann in derselben Weise wie die andern Tage. Die Gänse weideten auf den großen Feldern, und der Junge suchte sich Nahrung im Park. Als er dort eine Weile gewesen war, kam Akka zu ihm hin und fragte, ob er etwas Eßbares gefunden habe. Nein, er hatte nichts gefunden, und da suchte sie ihm eine welke Kümmelpflanze, die alle ihre kleinen Früchte noch unversehrt bei sich trug.
Nachdem der Junge gegessen hatte, sagte Akka, sie fände, er laufe zu kühn im Park herum. Ob er wohl wisse, vor wie vielen Feinden er sich in acht nehmen müsse, er, der so klein sei. Nein, das wußte er nicht, und dann begann Akka, sie ihm aufzuzählen.
Wenn er in den Wald ging, sagte sie, müsse er sich vor dem Fuchs und dem Marder in acht nehmen, wenn er an den See hinabkam, müsse er an die Ottern denken, saß er auf dem Steinwall, dürfe er das Wiesel nicht vergessen, das durch die kleinsten Löcher schlüpfen könne, und wenn er sich in einem Haufen welker Blätter zur Ruhe legen wollte, müsse er erst nachsehen, ob nicht die Natter ihren Winterschlaf in demselben Blätterhaufen halte. Sobald er auf das offene Feld hinauskam, müsse er auf Habicht und Bussard, auf Adler und Falken achten, die alle oben in den Wolken schwebten. Im Nußholz könne er von dem Sperber gefangen werden; Elstern und Krähen gab es überall, und denen sollte er nicht zu sehr trauen, und sobald die Dämmerung hereinbrach, müsse er die Ohren gut aufmachen und nach den großen Eulen horchen, die mit so lautlosem Flügelschlag geflogen kommen, daß sie ihm ganz nahe kommen konnten, ehe er sie bemerkte.
Als der Junge hörte, daß es so viele gab, die ihm nach dem Leben trachteten, konnte er wohl einsehen, daß er es ganz unmöglich behalten durfte. Er fürchtete sich nicht so schrecklich davor, zu sterben, aber er hatte keine Lust, aufgefressen zu werden, und deswegen fragte er Akka, was er tun könne, um sich gegen die Raubmörder zu schützen.
Akka antwortete sogleich, der Junge müsse sehen, gut Freund zu werden mit dem kleinen Tiervolk in Feld und Wald, mit dem Eichhörnchenvolk und dem Hasenvolk, mit Finken und Meisen und Spechten und Lerchen. Hätte er die zu Freunden, so konnten sie ihn vor Gefahren warnen, ihm Schlupfwinkel verschaffen und bei drohender Gefahr konnten sie sich zusammenrotten und ihn verteidigen.
Aber als der Junge späterhin am Tage den Rat befolgen wollte und sich an Sirle, das Eichhörnchen, wandte, um seine Hilfe zu erbitten, stellte es sich heraus, daß das Eichhörnchen ihm nicht helfen wollte. »Nein, weiß Gott, du hast nichts Gutes von mir oder den andern kleinen Tieren zu erwarten,« sagte Sirle. »Meinst du, wir wissen nicht, daß du der Gänsejunge Niels bist, der im vorigen Jahr Schwalbennester herunterholte, Stareneier zerschlug, junge Krähen in die Mergelgrube warf, Drosseln und Dohlen fing und Eichkätzchen in ein Bauer steckte. Du mußt dir selbst helfen, so gut du kannst, und du mußt dich freuen, daß wir uns nicht gegen dich zusammenrotten und dich zu deinesgleichen nach Hause jagen!«
Diese Antwort war gerade von der Art, wie sie der Junge, als er noch der Gänsejunge Niels gewesen, nie ungestraft gelassen hätte, aber nun war er bange, daß auch die wilden Gänse erfahren könnten, wie schlimm er gewesen war. Er hatte sich davor gefürchtet, nicht bei den wilden Gänsen bleiben zu dürfen, daß er es gar nicht gewagt hätte, dumme Streiche zu machen, nachdem er in ihre Gesellschaft geraten war. Er konnte ja freilich nicht viel Schaden anrichten, so klein, wie er war, aber er hätte ja doch viele Vogelnester zerstören und viele Eier zerschlagen können, wenn er Lust dazu gehabt hätte. Aber nun war er so brav gewesen, er hatte nicht eine einzige Feder aus einem Gänseflügel gezupft, hatte keinem eine unhöfliche Antwort gegeben, und jeden Morgen, wenn er Akka guten Tag sagte, hatte er die Mütze abgenommen und einen Diener gemacht.
Den ganzen Donnerstag dachte er darüber nach, daß ihn die wilden Gänse sicher wegen seiner Boshaftigkeit nicht mit nach Lappland hinaufnehmen wollten. Und als er am Abend hörte, daß Sirle, Eichhörnchens Frau, geraubt war und seine Kinder dem Hungertode nahe waren, beschloß er, ihnen zu helfen, und wie gut ihm das gelang, ist bereits erzählt worden.
Als der Junge am Freitag in den Park hineinkam, hörte er in einem jeden Gebüsch die Buchfinken davon singen, wie Sirle, Eichhörnchens Frau, von bösen Räubern ihren neugeborenen Jungen entführt war, und wie sich der Gänsejunge Niels unter die Menschen gewagt und ihr die kleinen Eichhörnchenkinder gebracht hatte.
»Wer ist nun im Park von Övedkloster so angesehen,« sangen die Buchfinken, »wie Däumling, er, vor dem alle so bange waren, damals, als er noch der Gänsejunge Niels war? Das Eichhörnchen will ihm Nüsse geben, die Hasen wollen mit ihm spielen, die Rehe wollen ihn auf den Rücken nehmen und mit ihm davonlaufen, wenn Reineke Fuchs sich naht, die Meisen wollen ihn vor dem Sperber warnen, und die Finken und Lerchen wollen von seiner Heldentat singen!«
Der Junge war ganz sicher, daß sowohl Akka als auch die wilden Gänse dies alles hörten, aber trotzdem verging der ganze Freitag, ohne daß sie sagten, er könne bei ihnen bleiben.
Bis zum Sonnabend weideten die Gänse auf den Feldern um Öved herum, ungestört durch Reineke Fuchs. Aber am Sonnabendmorgen, als sie auf den Acker hinauskamen, lag er auf der Lauer und folgte ihnen von einem Felde zum andern, so daß sie keine Ruhe zum Fressen finden konnten. Als es Akka klar wurde, daß er nicht die Absicht hatte, sie in Frieden zu lassen, faßte sie schnell ihren Entschluß, schwang sich in die Luft empor und flog mit der ganzen Schar mehrere Meilen weit. Erst in der Nähe von Vittskövle ließ sie sich nieder.
Aber hier bei Vittskövle ereignete es sich, wie bereits erzählt ist, daß der weiße Gänserich gestohlen wurde. Hätte nicht der Junge alle seine Kräfte eingesetzt, um ihm zu helfen, so wäre er nie wieder zum Vorschein gekommen.
Als der Junge am Sonnabendabend mit dem Gänserich wieder an den Bombsee zurückkam, fand er, daß er ein gutes Tagewerk getan hatte, und war sehr neugierig, was Akka und die wilden Gänse sagen würden. Und die wilden Gänse kargten keineswegs mit Lob, aber das, was zu hören er sich sehnte, sagten sie nicht.
Dann wurde es wieder Sonntag. Eine ganze Woche war vergangen, seit der Junge verhext wurde, und er war noch immer ebenso klein.
Aber er schien sich die Sache nicht zu Herzen zu nehmen. Am Sonntagnachmittag saß er tief drinnen in einem großen Weidenbusch unten am See und blies auf einer Rohrflöte. Rings um ihn herum saßen so viele Meisen und Buchfinken und Stare, wie der Busch nur fassen konnte, und zwitscherten Lieder, die er nachzuspielen bemüht war. Aber der Junge war nicht sonderlich bewandert in der Kunst und blies so falsch, daß sich allen den kleinen Singemeistern die Federn sträubten, und sie schrien und schlugen verzweifelt mit den Flügeln. Der Junge lachte so herzlich über ihren Eifer, daß er die Flöte fallen ließ.
Er fing wieder von vorne an, es ging aber so schlecht, daß die kleinen Vögel jammerten: »Heute spielst du noch schlechter als sonst, Däumling. Du bläst keinen richtigen Ton. Wo hast du nur deine Gedanken, Däumling?«
»Die sind anderswo,« sagte der Junge, und so war es auch. Er saß da und dachte daran, wie lange er wohl noch Erlaubnis erhielt, bei den wilden Gänsen zu bleiben, – ob er am Ende noch am heutigen Tage nach Hause geschickt werden würde.
Plötzlich warf der Junge die Flöte hin und sprang von dem Busch herunter. Er hatte Akka und alle Gänse in einer langen Reihe auf sich zukommen sehen. Sie gingen so ungewöhnlich langsam und feierlich, daß der Junge sofort dachte, jetzt würde er wohl erfahren, was sie mit ihm zu tun gedächten.
Als sie endlich still standen, sagte Akka: »Du kannst allen möglichen Grund haben, dich über mich zu wundern, Däumling, weil ich dir nicht gedankt habe, als du mich von Reineke Fuchs errettetest. Aber ich gehöre zu denen, die lieber durch die Tat als mit Worten danken. Und nun, glaube ich, ist es mir gelungen, dir einen großen Dienst zu leisten, Däumling! Ich habe zu dem Kobold geschickt, der dich verhext hat. Anfangs wollte er nichts davon hören, dir zu helfen, aber ich habe ihm einen Boten nach dem andern geschickt und ihn wissen lassen, wie gut du dich bei uns aufgeführt hast. Er läßt dich jetzt grüßen und dir sagen, daß du, sobald du nach Hause zurückkehrst, wieder ein Mensch werden wirst.«
Aber so sehr sich der Junge gefreut hatte, als die wilde Gans zu reden anhub, so betrübt war er, als sie geendet hatte. Er sagte kein Wort, sondern wandte sich ab und weinte.
»Was in aller Welt ist denn das?« sagte Akka. »Es scheint ja, als hättest du dir mehr gewünscht, als ich dir eben angeboten habe.«
Aber der Junge dachte an sorgenfreie Tage und muntere Kurzweil, an Abenteuer und Freiheit und Reisen hoch oben über der Erde; das alles sollte ihm jetzt entgehen! Er weinte geradezu vor Kummer. »Ich mache mir nichts daraus, Mensch zu werden.« sagte er. »Ich will mit euch hinauf nach Lappland.« – »Jetzt will ich dir etwas sagen,« entgegnete Akka: »Der Kobold ist leicht beleidigt, und ich fürchte, wenn du sein Anerbieten jetzt nicht annimmst, wird es dir nicht leicht werden, ein zweites Mal Zutritt zu ihm zu erlangen.«
Es war sonderbar mit dem Jungen – sein ganzes Leben lang hatte er sich niemals etwas aus jemand gemacht. Er hatte sich nichts aus Vater und Mutter gemacht, nichts aus seinem Lehrer, nichts aus seinen Schulkameraden, nichts aus den Jungen auf den Nachbarhöfen. Und alles, wozu sie ihn veranlassen wollten, sei es Spiel oder Arbeit, hatte er langweilig gefunden. Deswegen entbehrte er jetzt niemand, sehnte sich nach niemand.
Die einzigen, mit denen er sich jemals hatte vertragen können, waren das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads, ein paar Kinder, die Gänse auf dem Felde hüteten, so wie er. Aber auch sie hatte er nicht von Herzen lieb. Nein, eigentlich gar nicht.
»Ich will kein Mensch sein!« heulte der Junge. »Ich will mit euch nach Lappland. Darum bin ich eine ganze Woche artig gewesen.« – »Ich will dir nicht verweigern, mit uns zu kommen, so weit du willst,« sagte Akka. »Bedenke aber doch erst, ob du nicht lieber wieder nach Hause zurückkehren willst! Es könnte doch ein Tag kommen, an dem du es bereuen würdest.«
»Nein,« sagte der Junge, »da ist nichts zu bereuen. Ich habe mich nie so wohl gefühlt wie bei euch.«
»Ja, dann mag es so sein, wie du willst,« sagte Akka.
»Hab' Dank!« entgegnete der Junge und fühlte sich so glücklich, daß er vor Freuden weinen mußte, so wie er vorhin vor Kummer geweint hatte.