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Mittwoch, den 30. März.
Es war der erste Regentag auf der Reise. Während der ganzen Zeit, die sich die wilden Gänse in der Gegend des Bombsees aufgehalten, hatten sie gutes Wetter gehabt, aber an demselben Tage, als sie die Reise gen Norden antraten, fing es an zu regnen, und der Junge mußte mehrere Stunden ganz durchnäßt und zähneklappernd vor Kälte auf dem Gänserücken sitzen. Am Morgen, als sie von dannen zogen, war es still und klar. Die wilden Gänse flogen hoch oben in der Luft, gleichmäßig und ohne Hast, in strenger Ordnung, mit Akka an der Spitze, und die übrigen in zwei schrägen Reihen hinter ihr drein. Sie ließen sich keine Zeit, die Tiere auf dem Felde zu necken, da sie aber nicht imstande waren, sich ganz ruhig zu verhalten, sangen sie die ganze Zeit im Takt mit den Flügelschlägen ihren gewöhnlichen Lockruf: »Wo bist du? Hier bin ich. Wo bist du? Hier bin ich.«
Sie riefen alle gleich eifrig, und sie hielten nur hin und wieder inne, um den weißen Gänserich auf die Wegezeichen aufmerksam zu machen, nach denen sie ihren Kurs nahmen. Auf dieser Reise bestanden die Zeichen aus den kahlen Hügeln des Linderoder Abhanges, dem Schloß Ovesholm, dem Kristianstädter Kirchturm, der Königsburg Backaskog auf der schmalen Landzunge zwischen dem Omannasee und dem Ivösee und aus dem steilen Abhang des Ryßberges.
Es war eine einförmige Reise, und als die Regenwolken sich zusammenzogen, schien es dem Jungen geradezu, als sei dies eine Abwechslung. In alten Zeiten, als er die Regenwolken nur von unten gesehen hatte, fand er, daß sie grau und langweilig waren, aber es war etwas ganz anderes, oben zwischen ihnen zu sein. Jetzt konnte er deutlich sehen, daß die Wolken mächtige Frachtwagen waren, die mit wolkenhohen Fudern am Himmel entlang fuhren: einige von ihnen waren mit großen grauen Säcken beladen, andere mit Tonnen, die so groß waren, daß sie einen ganzen See fassen konnten, und wieder andere mit großen Kübeln und Flaschen, die zu einer gewaltigen Höhe aufgestapelt waren. Und als so viele Wagen dahergefahren waren, daß sie den ganzen Himmelsraum füllten, war es, als gäbe einer ein Zeichen, denn auf einmal fing es an, aus Kübeln, Tonnen, Flaschen und Säcken Wasser auf die Erde hinab zu strömen.
In demselben Augenblick, als die ersten Frühlingsschauer auf die Erde niederschlugen, stimmten alle Vögel in Hainen und Buschwerken ein solches Freudengeschrei an, daß die ganze Luft davon widerhallte, so daß der Junge zusammenzuckte. »Jetzt bekommen wir Regen, der Regen bringt uns den Frühling, der Frühling bringt uns Blumen und grüne Blätter, und Blumen bringen uns Larven und Insekten, Larven und Insekten bringen uns Essen, und gutes Essen ist das beste, was es gibt,« sangen die kleinen Vögel.
Auch die wilden Gänse freuten sich über den Regen, der kam, um die Pflanzen aus ihrem Schlaf zu erwecken und Löcher in die Eisdecke auf den Seen zu schlagen. Sie konnten nicht auf die Dauer so ernsthaft sein wie bisher, sondern ließen lustige Rufe über die Gegend unter ihnen erschallen.
Als sie über die großen Kartoffelfelder flogen, von denen es so viele in der Umgegend von Kristianstad gibt, und die noch kahl und schwarz dalagen, riefen sie: »Wacht auf und schafft Nutzen! Jetzt kommt jemand, der euch weckt! Jetzt habt ihr lange genug gefaulenzt.«
Wenn sie Leute sahen, die sich beeilten, ins Haus zu kommen, tadelten sie sie und sagten: »Weshalb habt ihr es so eilig? Seht ihr denn nicht, daß es Feinbrot und Spießkuchen regnet, Feinbrot und Spießkuchen!«
Da war eine große, dichte Wolke, die sich schnell nach Norden zu bewegte und dicht hinter den Gänsen her segelte. Fast glaubten sie, daß sie die Wolke mit sich zögen, und da sie gerade jetzt große Gärten unter sich gewahrten, riefen sie ganz stolz: »Hier kommen wir mit Anemonen, hier kommen wir mit Rosen, hier kommen wir mit Apfelblüten und Kirschenknospen, hier kommen wir mit Erbsen und Bohnen, hier kommen wir mit Rüben und Kohl. Nehme es entgegen, wer da will! Nehme es entgegen, wer da will!«
Nach dieser Melodie ging es, während die ersten Schauer fielen, als alle noch froh über den Regen waren. Aber als er den ganzen Nachmittag anhielt, wurden die Gänse ungeduldig und riefen den durstigen Wäldern um den Ivösee zu: »habt ihr noch nicht bald genug? Habt ihr noch nicht bald genug?«
Der Himmel wurde mehr und mehr grau überzogen, und die Sonne verkroch sich so gut, daß niemand begreifen konnte, wo sie geblieben war. Der Regen fiel dichter, peitschte hart gegen die Flügel und bahnte sich einen Weg zwischen den tranigen Außenfedern hindurch, bis ganz auf den Leib hinein. Die Erde war von einem Regennebel verhüllt; Seen, Berge und Wälder flossen zusammen in einem undeutlichen Wirrwarr, und man konnte die Wegezeichen nicht erkennen. Der Flug wurde langsamer und langsamer, die munteren Rufe verstummten, und der Junge fühlte die Kälte immer bitterer.
Aber er hielt trotzdem den Mut aufrecht, so lange er durch die Luft dahinritt. Und am Nachmittage, als sich die Gänse unter einer kleinen verkrüppelten Fichte mitten in einem großen Moor niedergelassen hatten, wo alles naß und alles kalt war, wo einige von den Erderhöhungen mit Schnee bedeckt waren und andere kahl aus einer Lache halbgeschmolzenen Eiswassers aufragten, da fühlte er sich auch keineswegs verzagt, sondern lief in fröhlicher Laune umher und suchte nach Moosbeeren und gefrorenen Kronsbeeren.
Aber dann kam der Abend, und die Dunkelheit senkte sich so dicht herab, daß nicht einmal Augen wie die des Jungen sie durchdringen konnten und die Einöde wurde so sonderbar häßlich und unheimlich. Der Junge lag unter den Flügel des Gänserichs eingebettet, aber er konnte nicht schlafen, kalt und naß, wie er war. Und er hörte so ein Pusseln und Rascheln und schleichende Schritte und drohende Stimmen, ihm wurde so bange, er wußte nicht, was er anfangen sollte. Er mußte dahin, wo Feuer und Licht war, wenn er nicht vor Angst umkommen sollte.
»Ob ich mich für diese eine Nacht zu den Menschen hinwagen soll?« dachte der Junge. »Wenn ich nur ein wenig beim Feuer sitzen und etwas zu essen bekommen könnte. Ich könnte ja vor Sonnenaufgang zu den wilden Gänsen zurückkehren.«
Er kroch unter dem Flügel hervor und ließ sich auf die Erde niedergleiten. Er weckte weder den Gänserich noch eine der anderen Gänse, sondern schlich still und unbemerkt über das Moor.
Er ahnte nicht, wo in aller Welt er war, ob in Schonen, in Smaaland oder in Bleking. Aber kurz bevor sie in das Moor heruntergeflogen waren, hatte er einen Schimmer von einem Dorf gesehen, und dahin wandte er nun seine Schritte. Es währte auch nicht lange, bis er einen Weg entdeckte, und bald befand er sich auf der Dorfstraße, die lang und mit Bäumen bepflanzt war, und zu deren beiden Seiten Häuser lagen.
Der Junge war in eins der großen Kirchdörfer gekommen, deren es oben im Lande so viele gibt, während man unten in der Ebene keine davon antrifft.
Die Häuser waren aus Holz und sehr zierlich gebaut. Die meisten hatten Giebel und Frontespize mit einem Rande aus geschnitzten Holzleisten, und Glasveranden mit einer bunten Fensterscheibe hier und da. Sie waren mit heller Ölfarbe gestrichen, Türen und Fensterpfosten schimmerten grün und blau, ja, sogar rot. Während der Junge so dahinging und die Häuser betrachtete, konnte er draußen auf dem Wege hören, wie die Leute, die in den warmen Stuben saßen, schwatzten und lachten. Die Worte konnte er nicht unterscheiden, aber er fand, es war schön, Menschenstimmen zu hören: »Ich möchte wohl wissen, was sie sagen würden, wenn ich anklopfte und um Einlaß bäte,« dachte er.
Das hatte er ja tun wollen, aber jetzt, wo er die erhellten Fenster sah, war die Angst vor der Dunkelheit überwunden. Dahingegen empfand er von neuem die Scheu, die ihn immer in der Nähe der Menschen befiel. »Ich will mich ein wenig mehr im Dorf umsehen,« dachte er, »ehe ich jemand um Einlaß bitte.«
An einem der Häuser war ein Balkon. Und gerade als der Junge vorüberging, wurden die Balkontüren geöffnet und gelber Lichtschimmer drang durch feine, leichte Gardinen. Und dann trat eine hübsche junge Frau auf den Balkon hinaus und lehnte sich über das Geländer: »Es regnet, jetzt bekommen wir Frühling,« sagte sie. Als der Junge sie sah, wurde ihm so sonderbar beklommen ums Herz. Er war nahe daran, zu weinen. Zum erstenmal überkam ihn ein unheimliches Gefühl, weil er sich von den Menschen ausgeschlossen hatte.
Bald darauf kam er an einem Kaufmannsgeschäft vorüber. Draußen vor dem Laden stand eine rote Säemaschine. Er blieb stehen und betrachtete sie, und kroch schließlich auf den Kutschersitz, auf den er sich niedersetzte. Als er dahinauf gekommen war, schnalzte er mit der Zunge und tat so, als säße er dort und führe. Er dachte daran, wie amüsant es sein würde, auf so einer feinen Maschine über ein Feld zu fahren. Einen Augenblick hatte er vergessen, wie er nun war, aber dann fiel es ihm wieder ein, und er sprang schnell von der Maschine herunter. Er wurde immer unruhiger. Da war doch gar mancherlei, worauf derjenige verzichten mußte, der immer unter den Tieren leben wollte. Die Menschen waren sowohl eigentümlich als auch tüchtig.
Er kam an der Post vorüber, und da dachte er an alle die Zeitungen, die jeden Tag mit Neuigkeiten aus allen Ecken der Welt anlangten. Er sah die Apotheke und die Doktorwohnung, und er dachte daran, wie groß die Macht der Menschen war, daß sie Krankheit und Tod bekämpfen konnten. Er kam an die Kirche und dachte daran, daß sie von Menschen erbaut sei, damit sie dort Reden hören konnten über eine Welt außer der, in der sie lebten, und über Gott und Auferstehung und das ewige Leben. Und je länger er dort ging, um so lieber wurden ihm die Menschen.
Kinder sind nun einmal so, daß sie nicht weiter denken als von der Nase bis zum Mund. Was gerade vor ihren Augen liegt, wollen sie sogleich haben, ohne sich daran zu kehren, was es ihnen kosten kann. Niels Holgersen hatte keinen Verstand davon gehabt, was er verlor, als er es vorzog, Kobold zu bleiben, jetzt überkam ihn jedoch eine furchtbare Angst, daß er vielleicht nie wieder seine wahre Gestalt erlangen würde.
Wie in aller Welt sollte er es anfangen, wieder Mensch zu werden? Das hätte er wirklich gern gewußt.
Er kletterte auf eine Treppe hinauf und setzte sich hin, um mitten in dem strömenden Regen nachzudenken. Dort saß er eine Stunde, zwei Stunden, und er sann und dachte, so daß er Runzeln auf der Stirn davon bekam. Aber er wurde deswegen nicht klüger. Es war, als wenn die Gedanken ihm nur rund im Kopf herumliefen. Je länger er dasaß, um so unmöglicher erschien es ihm, eine Lösung zu finden.
»Dies hier ist gewiß zu schwer für jemand, der so wenig gelernt hat wie ich,« dachte er schließlich. »Ich muß am Ende doch wohl zu den Menschen zurückgehen. Ich werde wohl den Pfarrer und den Doktor und den Schullehrer und andere gelehrte Leute fragen müssen, die wissen, was gegen so etwas hilft.«
So beschloß er denn, dies sogleich zu tun, und er erhob sich und schüttelte sich, denn er war so naß wie eine ertrunkene Maus.
Im selben Augenblick sah er eine große Eule daherfliegen und sich auf einen der Bäume setzen, die an der Straße entlang standen. Gleich darauf begann eine Horneule, die unter dem Dachfirst saß, sich zu rühren und zu rufen: »Quiwitt, quiwitt! Bist du wieder da, Sumpfeule? Wie ist es dir denn im Ausland ergangen?«
»Hab' Dank, Horneule! Mir ist es gut gegangen,« sagte die Sumpfeule, »Hat sich hier in der Heimat etwas Besonderes zugetragen, seit ich fort war?«
»Nicht hier in Bleking, Sumpfeule, aber in Schonen geschah es, daß ein Junge von einem Kobold verhext wurde und so klein gemacht worden ist wie ein Eichhörnchen, und dann ist er mit einer zahmen Gans nach Lappland gereist.«
»Das ist doch eine merkwürdige Nachricht, eine merkwürdige Nachricht. Kann er denn nie wieder ein Mensch werden, Horneule? Kann er nie wieder ein Mensch werden?«
»Das ist ein Geheimnis, Sumpfeule, aber ich will es dir trotzdem anvertrauen. Der Kobold hat gesagt, wenn der Junge gut acht gibt auf den zahmen Gänserich, so daß der wohlbehalten wieder heimgelangt, so ...«
»Was weiter, Horneule? Was weiter? Was weiter?«
»Fliege mit nach dem Kirchturm hinauf, Sumpfeule, dann will ich es dir alles erzählen! Ich fürchte, es könnte mitten auf der Straße jemand sein, der lauscht.«
Damit flogen die Eulen von dannen, der Junge aber warf seine Mütze hoch in die Luft hinauf. »Wenn ich nur gut acht auf den Gänserich gebe, so komme ich wohlbehalten wieder nach Hause, dann werde ich wieder ein Mensch. Hurra! Hurra! Dann werde ich wieder ein Mensch!«
Er rief ganz laut Hurra, und es war merkwürdig, daß sie ihn nicht drinnen in den Häusern hörten. Aber das taten sie nicht, und er eilte, so schnell seine Füße ihn nur tragen wollten, wieder zu den wilden Gänsen in das nasse Moor hinaus.