Selma Lagerlöf
Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgänsen - Erster Teil
Selma Lagerlöf

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XXIV. Der Eisbruch

Donnerstag, 28. April.

Am nächsten Tag war schönes Wetter und heller Sonnenschein. Es wehte freilich ein starker Westwind, aber darüber konnte man sich nur freuen, denn er trocknete die Wege, die von dem heftigen Regen des vorhergehenden Tages ganz aufgeweicht waren.

Früh am Morgen kamen die beiden Kinder aus Smaaland, das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads die Landstraße gegangen, die von Sörmland nach Närke hineinführt. Der Weg ging an dem südlichen Ufer des Hjelmar entlang, und die Kinder betrachteten das Eis, das noch den größten Teil des Sees bedeckte. Die Morgensonne warf ihren hellen Schein auf das Eis, und es sah gar nicht so dunkel und unheimlich aus, wie sonst das Frühlingseis, sondern es schien weiß und verlockend. So weit sie darüber hin sehen konnten, lag es fest und trocken da. Das Regenwasser war schon in die Löcher und Spalten hineingelaufen oder auch von dem Eis selbst aufgesogen. Sie sahen nichts als die herrliche Eisfläche.

Das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads waren auf der Wanderung gen Norden begriffen, und sie mußten unwillkürlich denken, wie viele Schritte ihnen erspart werden würden, wenn sie quer über den großen See gehen könnten, statt rund um ihn herumzuwandern. Sie wußten wohl, daß Frühlingseis heimtückisch ist, aber dies sah ja so vollkommen sicher aus. Sie konnten sehen, daß es drinnen am Lande mehrere Zoll dick war. Und sie sahen auch einen Weg, den sie verfolgen konnten, und das gegenüberliegende Ufer erschien so nah, daß sie in einer Stunde hinüber gelangen mußten.

»Komm, laß es uns versuchen!« sagte der kleine Mads. »Wenn wir nur achtgeben, daß wir nicht in eine Wake hineinplumpsen, so wird es schon gehen.«

Und damit begaben sie sich auf den See hinaus. Das Eis war nicht allzu glatt, es ging sich sehr angenehm darauf. Es stand freilich mehr Wasser darauf, als sie vom Wege aus hatten sehen können, und hier und da waren Blasen im Eis, wo das Wasser auf und nieder quoll. Vor den Stellen mußte man sich in acht nehmen, aber das war ja eine Kleinigkeit mitten am Tage in dem hellen Sonnenschein.

Es ging schnell und leicht vorwärts, und die Kinder sprachen von nichts weiter, als wie klug sie gewesen waren, übers Eis zu gehen, statt die aufgeweichte Landstraße zu verfolgen.

Als sie eine Strecke gegangen waren, kamen sie in die Nähe von Vinö. Da sah eine alte Frau sie von ihrem Fenster aus. Sie trat in die Tür hinaus, winkte ihnen und rief etwas, das sie nicht hören konnten. Sie verstanden sehr wohl, daß sie sie warnte, ihre Wanderung fortzusetzen. Aber sie, die selbst draußen auf dem Eis waren, konnten ja sehen, daß keine Gefahr vorlag. Es würde ja dumm sein, an Land zu gehen, wenn alles so vorzüglich ging.

Sie wanderten also an der Vinö vorüber und hatten nun eine meilenweite Eisfläche vor sich. Hier draußen war stellenweise so viel Wasser auf dem Eis, daß die Kinder große Umwege machen mußten. Aber das fanden sie nur ergötzlich. Sie wetteiferten, ausfindig zu machen, wo das Eis am besten war. Sie waren weder müde noch hungrig. Sie hatten den ganzen Tag vor sich, und sie lachten nur, wenn sie auf neue Hindernisse stießen.

Von Zeit zu Zeit sahen sie nach dem gegenüberliegenden Ufer hinüber. Es schien noch so weit weg, obwohl sie schon eine gute Stunde gegangen waren. Sie waren ein wenig erstaunt, daß der See so breit war. »Es ist, als wenn das Ufer vor uns wegliefe,« sagte der kleine Mads.

Hier draußen war kein Schutz gegen den Westwind. Er wurde mit jedem Augenblick heftiger und hüllte sie so fest in ihre Kleider, daß es ihnen schwer wurde, sich zu bewegen. Der starke Wind war die erste wirkliche Unannehmlichkeit, die ihnen auf der Wanderung begegnet war.

Es wunderte sie, daß der Wind so merkwürdig stark dröhnte, als habe er den Lärm aus einer großen Mühle oder einer Fabrik mitgenommen. Aber so etwas gab es ja doch nicht da draußen auf der Eisfläche.

Sie waren westlich um die große Insel Valen herumgegangen, und nun meinten sie, merken zu können, daß sie sich dem nördlichen Ufer näherten. Gleichzeitig aber wurde der Wind heftiger, und das gewaltige Bullern, das ihn begleitete, nahm so stark zu, daß sie anfingen, unruhig zu werden.

Auf einmal kam ihnen der Gedanke, daß der Lärm, den sie hörten, von Wellen kommen könne, die schäumend und brausend gegen eine Küste schlugen, aber das war ja unmöglich, da der See noch mit Eis bedeckt war.

Trotzdem blieben sie stehen und sahen sich um. Ganz draußen, nach Westen zu, bei Björnö und Göcksholmsland gewahrten sie eine weiße Mauer, die quer über den See ging. Erst glaubten sie, es sei ein Schneerand, der an einem Wege entlang laufe, aber sie begriffen bald, daß es Schaum von Wellen war, die gegen das Eis schlugen.

Als sie das sahen, gaben sie sich die Hände und fingen an zu rennen, ohne ein Wort zu sagen. Der See war nach Westen zu offen, und sie glaubten sehen zu können, daß der Schaumrand schnell nach Osten zu vorrückte. Sie wußten nicht, ob das Eis im Begriff war, überall aufzubrechen, oder was geschehen könne. Aber sie fühlten, daß sie nun in Gefahr waren.

Plötzlich schien es ihnen, als höbe sich das Eis gerade an der Stelle, wo sie liefen, als höbe es sich und sinke wieder, als habe jemand von unten dagegen gestoßen. Dann hörten sie einen dumpfen Knall im Eis, und gleich bildeten sich nach allen Seiten Risse darin. Die Kinder konnten sehen, wie sie durch die Eiskruste liefen.

Nun wurde es einen Augenblick still auf dem Eis, dann aber spürten sie wieder dasselbe Heben und Senken. Nun begannen die Risse, sich zu Spalten zu erweitern, durch die man das Wasser hervorquellen sah. Gleich darauf wurden die Spalte zu Rinnen, und die Eiskruste teilte sich in große Schollen.

»Aase,« sagte der kleine Mads. »Ich glaube, dies ist Eisbruch!«

»Ja, das ist es, kleiner Mads,« sagte Aase. »Aber wir können das Ufer noch erreichen. Laufe, so schnell du kannst.«

In der Tat hatten der Wind und die Wellen noch genug damit zu tun, das Eis von dem See zu entfernen. Die schwerste Arbeit war freilich getan, wenn erst die Eiskruste zerbrochen war, aber alle die Stücke sollten wieder geteilt und gegeneinander geworfen und zertrümmert und zerrieben und aufgelöst werden. Es war noch eine Menge hartes, festes Eis vorhanden, das große, ganze Schollen bildete.

Die größte Gefahr für die Kinder aber war, daß sie keinen Überblick über das Eis hatten. Sie vermochten nicht zu sehen, wo die Spalte so breit waren, daß sie nicht darüber hingelangen konnten. Sie wußten nicht, wo sie die großer Eisschollen finden sollten, die sie tragen konnten. Daher wankten sie aufs Geratewohl hin und her. Sie kamen weiter auf den See hinaus, statt sich dem Ufer zu nähern. Sie wußten nicht aus noch ein da draußen auf dem berstenden Eis, und sie waren so bange, daß sie schließlich stehen blieben und weinten.

Da kam eine Schar wilder Gänse in gestrecktem Flug über ihren Köpfen daher. Sie schrien laut und stark, und das Sonderbare war, daß die Kinder deutlich die Worte hörten: »Ihr müßt nach rechts gehen, nach rechts, nach rechts!«

Sie setzten sofort ihre Wanderung fort, den Rat befolgend. Aber es währte nicht lange, da standen sie wieder zögernd vor einem breiten Spalt.

Wieder hörten sie die Gänse über ihren Köpfen schreien, und aus ihrem Gegacker konnten sie einige Worte unterscheiden: »Bleibt, wo ihr seid! Bleibt, wo ihr seid! Bleibt, wo ihr seid!«

Die Kinder sprachen kein Wort miteinander über das, was sie hörten, aber sie gehorchten und standen still. Nach einer Weile glitten die Eisschollen zusammen, und sie konnten über den Spalt gelangen. Dann gaben sie sich wieder die Hände und liefen weiter.

Sie ängstigten sich nicht nur vor der Gefahr, sondern auch vor der Hilfe, die ihnen zuteil wurde.

Bald standen sie wieder still und besannen sich, aber sofort hörten sie eine Stimme von oben aus der Luft: »Geradeaus! Geradeaus! Geradeaus!« sagte die Stimme.

So ging es ungefähr eine halbe Stunde weiter, da aber hatten sie die lange Lungarsodde erreicht und konnten das Eis verlassen und an Land waten. Es war deutlich zu sehen, wie bange sie gewesen waren, denn als sie an Land gekommen waren, blieben sie nicht einmal stehen, um sich den See anzusehen, auf dem die Wellen jetzt immer gewaltsamer mit den Eisblöcken herumtummelten, sondern sie eilten nur weiter. Aber als sie eine Strecke auf die Landzunge hinaufgekommen waren, stand Aase plötzlich still. »Warte mal, kleiner Mads,« sagte sie, »ich habe etwas vergessen.

Und sie ging wieder hinab an den See. Dort begann sie in ihrem Beutel zu wühlen und zog schließlich einen kleinen Holzschuh heraus. Den stellte sie auf einen Stein, wo man ihn ganz deutlich sehen konnte, und dann kehrte sie zu Mads zurück, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Kaum aber hatte sie dem See den Rücken gekehrt, als eine große, weiße Gans wie ein Blitz aus der Luft herunterschoß, den Holzschuh ergatterte und mit derselben Eile wieder in die Luft hinaufschoß.


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