Selma Lagerlöf
Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgänsen - Erster Teil
Selma Lagerlöf

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XXII. Der wunderschöne Garten

Sonntag, 24. April.

Am nächsten Tage flogen die wilden Gänse nordwärts über Sörmland. Der Junge saß da und sah auf die Gegend herab und dachte bei sich, sie gleiche keiner der Gegenden, die er bisher gesehen hatte. Da waren keine großen Ebenen wie in Schonen und Ostgotland und keine großen, zusammenhängenden Wälder wie in Smaaland, aber da war eine Mischung von allem möglichen. »Hier haben sie einen großen See und einen großen Elf und einen großen Wald und einen großen Berg genommen und es alles kurz und klein gehackt und dann zusammengemischt und bunt durcheinander auf der Erde ausgebreitet,« dachte der Junge, denn er sah nichts weiter als kleine Täler und kleine Seen und kleine Berge und kleine Wälder. Nichts durfte sich so recht ausbreiten. Sobald eine Ebene im Begriff war, groß zu wachsen, kam ein Hügel und stellte sich ihr in den Weg, und wenn sich der Hügel zu einem Gipfel erheben wollte, so begann die Ebene von neuem. Sobald ein See so groß wurde, daß es nach etwas aussah, wurde er zu einem Bach eingegrenzt, und auch der Bach durfte nicht lange laufen, ehe er sich zu einem See erweiterte. Die Wildgänse flogen so nahe an der Küste entlang, daß der Junge über das Meer hinaussehen konnte, und er hatte bemerkt, daß es auch dem Meer nicht gestattet war, seine große Fläche auszubreiten, sondern daß es von einer Menge von Inseln unterbrochen wurde, und die Inseln wurden auch nicht groß, ehe das Meer wieder in seine Rechte eintrat. Es war ein beständiges Wechseln. Nadelwald wechselte mit Laubholz, Felder mit Mooren und Herrenhöfe mit Häuslerwohnungen.

Es waren gar keine Menschen draußen auf den Feldern bei der Arbeit, statt dessen gingen sie auf Wegen und Stegen. Die kamen aus den kleinen Waldhäuschen am Abhang des Kolmårds heraus, in schwarzen Kleidern, mit Gesangbuch und Taschentuch in der Hand. »Es ist wohl Sonntag heute,« dachte der Junge und saß da und sah auf die Kirchgänger hinab. An einer Stelle sah er ein Brautpaar, das mit großem Gefolge zur Kirche fuhr, und an einer anderen Stelle kam ein Leichenzug langsam den Weg entlang gefahren. Er sah große herrschaftliche Kutschen und kleine Bauernkarren, und er sah Boote draußen auf dem See, alle auf dem Wege zur Kirche.

Der Junge flog über die Björkviker Kirche und über Bettna und Blacksta und Vådsbro und darauf auf Sköldinge und Floda zu. Überall hörte er die Glocken läuten. Es klang wirklich wunderschön oben in der Luft. Es war, als sei die ganze klare Luft zu Klängen und Tönen geworden.

»Eins ist wenigstens sicher,« sagte der Junge, »daß überall hier im Lande, wohin ich komme, stets Kirchen mit läutenden Glocken sein werden.« Und es überkam ihn ein Gefühl der Geborgenheit bei dem Gedanken, denn obwohl er nun in einer andern Welt lebte, war es doch, als könne er sich nicht ganz verirren, so lange die tiefen Stimmen der Kirchenglocken ihn zurückzurufen vermochten.

Sie waren eine gute Strecke über Sörmland landeinwärts geflogen, als der Junge einen dunklen Fleck gewahrte, der sich unter ihnen auf der Erde bewegte. Zuerst glaubte er, es sei ein Hund, und er hätte wohl nicht weiter darauf geachtet, wenn er nicht bemerkt hätte, daß er sich bemühte, denselben Kurs zu halten wie sie. Er stürzte dahin über das offene Land und durch die kleinen Wälder, sprang über Gräben, setzte über Hecken und ließ sich durch nichts zurückhalten.

»Es scheint fast, als wenn Reineke Fuchs wieder sein Spiel treibt,« sagte der Junge, »aber wir werden ihm schon entkommen.«

Gleich darauf steigerten die Wildgänse ihren Flug zu der stärksten Schnelligkeit, zu der sie überhaupt imstande waren, und hielten damit an, solange der Fuchs sichtbar war. Als er sie nicht mehr sehen konnte, machten sie Kehrt und flogen in einem großen Bogen gen Westen und Süden, fast, als sei es ihre Absicht, wieder nach Ostgotland zurückzufliegen. »Es ist doch wohl Reineke gewesen!« dachte der Junge, »da Akka so abbiegt und einen anderen Weg einschlägt.«

Am Abend dieses Tages flogen die Wildgänse über einem alten sörmländischen Gut, das Store Djulö heißt. Das große, weiße Schloß lag da, mit einem Park aus Laubbäumen hinter sich und dem Store Djulösee mit seinen vorspringenden Landzungen und hügeligen Ufern vor sich. Es sah altmodisch und traulich aus, und dem Jungen wurde ganz schwer ums Herz, als sie über den Hof flogen und er daran dachte, wie es sein würde, nach beendeter Tagesreise auf so einen Hof zu kommen, statt in einem seichten Moor oder auf einer kalten Eisfläche abgesetzt zu werden.

Aber davon konnte natürlich keine Rede sein. Die Wildgänse ließen sich dahingegen ein Stück nördlich von dem Schloß auf einer Waldwiese nieder, die so von Wasser überschwemmt war, daß nur hier und da einige Grasbüschel hervorragten. Es war dies so ungefähr das elendste Nachtlager, das der Junge auf der ganzen Reise gehabt hatte.

Er blieb auf dem Rücken der Gans sitzen und wußte nicht recht, wie er sich einrichten sollte. Dann begann er von einem Grasbüschel auf den anderen zu hüpfen, in langen Sprüngen, bis er festen Grund unter den Füßen hatte, und dann lief er schnell nach der Seite, wo das alte Schloß lag.

Nun traf es sich so, daß in einem Hause, das zu Store Djulö gehörte, gerade an diesem Abend einige Menschen um den Feuerherd beisammen saßen und plauderten. Sie hatten über die Predigt gesprochen und über die Frühjahrsbestellung und das Wetter, und als der Unterhaltungsstoff auszugehen drohte, baten sie eine alte Frau, die Mutter des Häuslers, ihnen Gespenstergeschichten zu erzählen.

Nun ist es eine bekannte Sache, daß es nirgends in Schweden einen solchen Reichtum an Schlössern und an Gespenstergeschichten gibt wie in Sörmland. Die Alte hatte in ihrer Jugend auf vielen großen Gütern gedient, und sie wußte Bescheid von so mancherlei wunderlichen Dingen, daß sie bis an den lichten Morgen hätte erzählen können. Sie erzählte so gut und so glaubwürdig, daß ihre Zuhörer nahe daran waren, es alles zu glauben. Sie zuckten förmlich zusammen, als die Alte ein paarmal in ihrer Erzählung inne hielt und fragte, ob sie nichts pußeln hörten. »Könnt ihr denn nicht hören, daß hier etwas herumschleicht?« sagte sie. Aber die anderen konnten nichts hören.

Als die alte Frau Geschichten aus Eriksberg und Vibyholm und Julita und Lagmansö und aus vielen anderen Häusern erzählt hatte, fragte einer, ob sich nie etwas dergleichen auf Stör Djulö zugetragen habe. »Ja, davon ist auch allerlei zu erzählen,« sagte die Alte. Und da wollten sie dann alle die Sagen hören, die sich auf ihrem eigenen Schloß abgespielt hatten.

Und so erzählte denn die Alte, daß einstmals ein Schloß nördlich von Stör Djulö auf einem Hügel gelegen haben solle, wo jetzt nichts weiter war als Wald, und zu dem Schloß gehörte ein wunderschöner Garten. Da geschah es einmal, daß einer, der Herr Karl hieß, und der zu jenen Zeiten über ganz Sörmland regierte, nach dem Schloß kam. Und als er gegessen und getrunken hatte, ging er in den Garten hinaus und stand lange da und sah über den Store Djulösee mit seinen schönen Ufern hin. Und wie er so dastand und sich über das freute, was er sah, und bei sich dachte, ein schöneres Land als Sörmland gebe es doch nicht auf der Welt, hörte er jemand hinter sich tief seufzen. Da wandte er sich um und sah einen alten Tagelöhner, der über seinen Spaten gebeugt stand. »Bist du es, der so tief seufzt?« fragte Herr Karl. »Was hast du nur zu seufzen?« – »Ich soll wohl seufzen, daß ich hier Tag aus, Tag ein arbeiten muß,« antwortete der Tagelöhner. Aber Herr Karl hatte einen heftigen Sinn und konnte es nicht leiden, wenn Leute klagten. »Hast du keinen weiteren Grund zur Klage?« rief er. »Ich sage dir, ich würde zufrieden sein, wenn ich mein Leben lang in Sörmlands Erde graben könnte.« – »Möge es Euer Gnaden gehen, wie Ihr wünschet!« entgegnete der Tagelöhner.

Später aber sagte man, Herr Karl habe, als er tot war, wegen dieser Worte keine Ruhe in seinem Grabe gefunden, sondern er sei jede Nacht nach Store Djulö gekommen und habe in seinem Garten gegraben. »Ja, jetzt ist da ja weder ein Schloß noch ein Garten mehr; da, wo das einstmals gelegen, ist nur ein ganz gewöhnlicher Waldhügel. Aber es kann wohl geschehen, daß wer in einer dunklen Nacht durch den Wald geht, den Garten erblickt.«

Hier hielt die Alte inne und sah aufmerksam nach einer dunklen Ecke hinüber. »Rührte sich da nicht eben etwas?« fragte sie.

»Bewahre, Mutter, erzählt Ihr nur weiter!« sagte die Schwiegertochter. »Ich sah gestern, daß die Mäuse da in der Ecke ein großes Loch genagt haben, aber ich hatte soviel anderes zu tun, daß ich vergaß, es zuzustopfen. Erzählt Ihr uns nur, ob jemand den Garten gesehen hat.«

»Ja,« sagte die Alte, »ihr müßt wissen, daß mein eigener Vater ihn einmal gesehen hat. In einer Sommernacht kam er durch den Wald gegangen, und plötzlich sah er neben sich eine hohe Gartenmauer, und über der Mauer konnte er die herrlichsten Bäume erkennen; die waren so voller Blüten und Früchte, daß die Zweige tief über die Mauer herabhingen. Mein Vater ging ganz still näher heran und konnte nicht begreifen, woher der Garten gekommen war. Da tat sich plötzlich ein Tor in der Mauer auf, und ein Gärtner kam heraus und fragte meinen Vater, ob er seinen Garten nicht sehen wollte. Der Mann hatte einen Spaten in der Hand und er trug eine große Schürze so wie andere Gärtner, und Vater wollte gerade mit ihm gehen, als er einen Blick auf sein Gesicht warf. Im selben Augenblick erkannte mein Vater die spitze Stirnlocke und den Spitzbart. Es war leibhaftig Herr Karl, so wie mein Vater ihn auf Bildern abgebildet gesehen hatte, die in all den Schlössern hingen, wo Vater ...«

Hier wurde die Geschichte von neuem unterbrochen. Jetzt war es ein Scheit Holz, das sprühte, so daß Funken und glühende Kohlen auf den Fußboden flogen. Einen Augenblick wurde es hell in all den dunklen Ecken der Stube, und die Alte glaubte, einen Schimmer von einem Wicht gesehen zu haben, der neben dem Mauseloch saß und der Geschichte lauschte, sich jetzt aber beeilte davonzukommen.

Die Schwiegertochter holte Besen und Aufnehmer, fegte die glühenden Kohlen zusammen und setzte sich wieder hin. »Erzählt doch weiter, Mutter!« sagte sie. Aber die Alte wollte nicht. »Jetzt mag es genug sein für heute abend,« sagte sie, und ihre Stimme klang so sonderbar. Die anderen fuhren fort, sie zu bitten, aber die Schwiegertochter sah, daß die Alte blaß geworden war, und daß ihre Hände zitterten. »Nein, jetzt ist Mutter müde und muß zu Bett,« sagte sie.

Bald darauf kam der Junge wieder in den Wald zu den Wildgänsen zurück. Er nagte an einer Mohrrübe, die er vor dem Keller aufgelesen hatte und fand, daß er eine herrliche Abendmahlzeit bekommen hatte. Er war so froh, daß er mehrere Stunden in der warmen Stube hatte sitzen können. »Hätte ich jetzt nur ein gutes Nachtquartier,« dachte er.

Da fiel ihm ein, daß er nichts Besseres tun könne, als sein Nachtlager in einer buschigen Tanne zu suchen, die am Wege stand. Er schwang sich in den Baum hinauf und flocht ein paar Zweige zusammen, so daß er ein Bett hatte, in dem er liegen konnte.

Da lag er eine Weile und dachte an all das, was er in dem Bauerhäuschen gehört hatte, und vor allem von diesem Herrn Karl, der, wie man sagte, hier im Djulöer Walde spuken sollte. Schlief aber bald ein, und hätte sicher bis an den hellen Morgen geschlafen, wenn er nicht davon erwacht wäre, daß eine kreischende eiserne Pforte gerade unter ihm geöffnet wurde.

Der Junge ist sofort wach, reibt den Schlaf aus den Augen und sieht sich um. Ganz in seiner Nähe ist eine Mauer, so hoch wie ein Mann, und über der Mauer sieht man Bäume, die fast unter der Last ihrer Früchte brechen.

Anfänglich findet er, daß dies sehr sonderbar ist. Als er sich schlafen legte, waren da keine Obstbäume. Aber sobald er sich besonnen hat, weiß er, was für ein Garten es ist.

Das Sonderbarste von allem aber ist vielleicht, daß er gar nicht bange wird, sondern im Gegenteil eine unbezwingliche Lust empfindet, in den Garten hineinzugehen. Oben in der Tanne, wo er liegt, ist es dunkel und kalt, aber drinnen im Garten ist es hell, und es deucht ihm, als könne er Früchte und Rosen in dem starken Sonnenschein glühen sehen. Es würde gut tun, sich von der Sonne bescheinen zu lassen nach all der Kälte und dem Wind und den Regen, worunter er hat leiden müssen.

Es scheint auch nichts im Wege zu sein, daß er in den Garten kommen kann. Dicht neben der Tanne, wo der Junge liegt, ist ein Tor in der hohen Mauer, und ein alter Gärtner hat gerade die großen, eisernen Türen geöffnet. Nun steht er im Tor und sieht unverwandt in den Wald hinein, als erwarte er jemand.

Sofort ist der Junge vom Baum herunter. Er geht, die Mütze in der Hand, auf den Gärtner zu, verbeugt sich und fragt, ob es erlaubt ist, den Garten zu besehen.

»Bitte schön,« antwortet der Gärtner. »Tritt nur ein!«

Dann zieht er die Türen zu und verschließt sie mit einem schweren Schlüssel, den er in seinen Gürtel steckt. Währenddessen steht der Junge da und sieht ihn an. Er hat ein steifes, unbewegliches Gesicht mit einem großen Knebelbart, Spitzbart und Adlernase. Hätte er nicht eine blaue Gärtnerschürze umgehabt und einen schweren Spaten in der Hand gehalten, so würde ihn der Junge für einen alten Soldaten gehalten haben.

Der Gärtner geht mit so langen Schritten in den Garten hinein, daß der Junge laufen muß, um mitzukommen. Sie gehen auf einem schmalen Steig, und der Junge tritt versehentlich in das Gras. Sofort erhält er einen Verweis, das Gras nicht niederzutreten, und dann läuft er hinter seinem Führer her.

Der Junge hat eine Empfindung, als halte sich der Gärtner eigentlich für zu fein, seinen Garten so einem Wechselbalg, wie er es ist, zu zeigen, und er wagt nicht, ihn nach etwas zu fragen, sondern läuft nur hinterdrein. Von Zeit zu Zeit wirft ihm der Gärtner ein Wort zu. Gleich hinter der Mauer befindet sich eine Hecke, und als sie da hindurchgehen, sagt er, die nenne er den Kolmård. »Ja, groß genug ist sie, um dem Namen zu entsprechen,« sagt der Junge. Aber der Gärtner macht sich nicht das geringste daraus, zu hören, was er sagt.

Dann kommen sie aus dem Buschwerk heraus, und der Junge kann ein großes Stück des Gartens übersehen. Er entdeckt gleich, daß er nicht gerade groß ist, nicht viel mehr als ein paar Tonnen Land. Die hohe Mauer beschützt ihn nach Süden und Westen zu, nach Norden und Osten aber ist er von Wasser umgeben, so daß keine Umfriedigung nötig ist.

Der Gärtner steht still, um eine Ranke aufzubinden, und währenddessen hat der Junge Zeit, sich umzusehen. Er hat nicht viele Gärten in seinem Leben gesehen, aber ein Gefühl sagt ihm, daß dieser verschieden von allen anderen ist. Er muß auf irgendeine altmodische Weise angelegt sein, denn eine solche wimmelnde Masse von kleinen Hügeln und kleinen Blumenbeeten und kleinen Hecken und kleinen Rasenflächen und kleinen Lusthäusern sieht man heutzutage nirgends. Und auch nicht so ein Gewimmel von kleinen Teichen und gewundenen Kanälen, wie man sie hier auf allen Seiten erblickt.

Überall stehen die prächtigsten Bäume und die lieblichsten Blumen, und das Wasser in den kleinen Kanälen ist dunkelgrün und klar, so daß sich alles darin spiegelt. Und der Junge findet, daß das Ganze wie ein Paradies ist. Er schlägt die Hände zusammen und ruft aus: »Nie im Leben hab' ich etwas so Hübsches gesehen! Was für ein Garten ist dies doch nur?«

Das ruft er ganz laut, und der Gärtner wendet sich sofort nach ihm um und sagt mit seiner barschen Stimme: »Dieser Garten heißt Sörmland. Wer bist denn du, daß du das nicht einmal weißt? Er hat immer für einen der besten Gärten im Lande gegolten.«

Dem Jungen wird ja ein wenig sonderlich zumute bei der Antwort, aber er hat so viel damit zu tun, sich gründlich umzusehen, daß er gar keine Zeit hat, darüber nachzudenken, was das bedeutet. So schön es ist mit allen den vielen Blumen und den Bächen, die sich dazwischen hindurchschlängeln, so ist da doch noch etwas Ergötzlicheres, nämlich alle die kleinen Lusthäuser und Puppenhäuser, mit denen der Garten angefüllt ist. Sie liegen überall, am meisten aber am Ufer der kleinen Teiche und Kanäle. Es sind keine richtigen Häuser. Sie sind so klein, als seien sie für Leute gebaut, die nicht größer sind als er, aber sie sind alle außerordentlich fein und niedlich. Da sind alle möglichen Arten: einige sehen aus wie Schlösser mit Türmen und Flügeln, andere wie Kirchen, und wieder andere wie Mühlen oder Bauerhäuser.

Sie sind so allerliebst, daß der Junge am liebsten stehen geblieben wäre, um sich jedes einzelne genauer anzusehen, aber er wagt nichts weiter zu tun, als dem Gärtner auf den Fersen zu folgen. Bald aber kommen sie an ein Gutshaus, das größer und schöner ist als irgend eins der anderen, an denen sie vorbeigekommen sind. Es ist dreistöckig mit einem Portal und vorspringenden Flügeln. Es liegt auf einem Hügel mitten zwischen Blumenanlagen, und der Weg dahin führt über einen Kanal nach dem anderen auf kleinen, zierlichen Brücken.

Der Junge wagt nicht vom Wege abzuweichen, aber als er an diesem allen vorübergehen muß, seufzt er so tief, daß der strenge Mann es hört und stehen bleibt. »Dies Haus da nenne ich Eriksberg,« sagt er. »Willst du da hinein, so magst du es meinetwegen gern tun, hüte dich aber vor der Pintorpa-Frau!«

Das läßt sich Niels nicht zweimal sagen. Er läuft die Allee hinab, über die kleinen Brücken, durch den Blumengarten hinauf und in das Tor hinein. Das Ganze scheint für so einen wie er zugeschnitten zu sein. Die Treppenstufen haben die passende Höhe, und er kann jedes Schloß erreichen. Nie hätte er sich aber träumen lassen, daß er so viel Schönes zu sehen bekäme. Die Fußböden sind aus Eichenholz und schimmern, gebohnert und blank. Die Decken sind gegipst und voll von gemalten Bildern. An den Wänden hängt ein Gemälde neben dem anderen. Die Möbel sind mit Seide überzogen, und das Holzwerk daran ist vergoldet. Er sieht Zimmer, dessen Wände ganz mit Büchern bedeckt sind, und er sieht Zimmer, in denen Tische und Schränke mit Kostbarkeiten angefüllt sind.

Wie sehr er sich auch beeilt, hat er doch noch nicht die Hälfte des Hauses besehen, als der Gärtner ihn ruft, und als er wieder hinauskommt, steht der Alte da und kaut vor Ungeduld auf seinem Knebelbart.

»Nun, wie ging es?« fragt der Gärtner. »Hast du die Pintorpa-Frau gesehen?«

Aber der Junge hat kein lebendes Wesen gesehen, und als er das sagt, verzerrt sich das Gesicht des Gärtners. »Hat die Pintorpa-Frau Ruhe gefunden und ich nicht?« sagt er, und der Junge hat nie eine Vorstellung davon gehabt, daß so viel Verzweiflung in einer Menschenstimme beben kann.

Dann geht der Gärtner wieder mit langen Schritten voran, und der Junge läuft hinterdrein und bemüht sich, soviel wie möglich von allen den merkwürdigen Dingen zu sehen. Sie gehen um einen Teich herum, der ein wenig größer ist als die anderen. Lange, weiße Pavillons, die Herrenhäusern gleichen, gucken überall aus dem Buschwerk und den Blumengruppen hervor. Der Gärtner bleibt nicht stehen, sondern wirft dem Jungen in der Eile von Zeit zu Zeit ein Wort hin. »Den Teich nenne ich Yngaran. Hier siehst du Danbyholm. Hier ist Hagbyberga. Hier ist Hovsta. Hier ist Återö.«

Bald darauf gelangt der Gärtner mit ein paar mächtigen Schritten an einen neuen, kleinen Teich, den er Båven rennt, da aber hört er den Jungen einen Schrei der Verwunderung ausstoßen, und nun bleibt er stehen. Der Junge steht vor einer kleinen Brücke, die zu einem Schloß führt, das in dem Teich liegt.

»Wenn du Lust hast, kannst du gern nach Vibyholm hinüberlaufen und dich dort umsehen,« sagt er. »Nimm dich aber vor der Weißen Dame in acht!«

Und der Knabe ist auf und davon, ehe der Gärtner noch ausgeredet hat. Dadrinnen sind so viele Porträts an den Wänden, daß es ihm scheint wie ein Bilderbuch. Es ist hier so ergötzlich, daß er gern die ganze Nacht dageblieben wäre, aber es währt nicht lange, da hört er den Gärtner rufen. »Komm jetzt! Komm jetzt!« ruft er. »Meinst du, ich hätte nichts weiter zu tun, als hier zu stehen und auf so einen Knirps wie dich zu warten!«

Als der Junge über die Brücke gelaufen kommt, ruft er ihm entgegen: »Nun, wie ist es dir ergangen? Hast du etwas von der weißen Dame gesehen?«

Der Junge hat kein lebendes Wesen gesehen, und das sagt er. Da haut der Alte den Spaten so gewaltsam gegen einen Stein, daß der Spaten zerspringt, und mit einer Stimme, die tief unten aus der fürchterlichsten Verzweiflung kommt, sagt er: »Hat die weiße Dame auf Vibyholm Ruhe gefunden und ich nicht?«

Bisher haben sie sich an den südlichen Teil des Gartens gehalten, aber nun geht der Gärtner nach dem westlichen Teil hinüber. Der ist anders angelegt. Da sind große, ebene Rasenflächen, die mit Erdbeerbeeten, Kohlgärten und Fruchtbüschen abwechseln. Hier sind auch viele von den kleinen Lusthäusern, aber die meisten sind rot angestrichen; sie gleichen Bauernhöfen und sind von Hopfengärten und Kirschenbäumen umgeben.

Hier bleibt der Gärtner nicht stehen, um den Jungen irgendwo hineinzulassen. Er sagt nur flüchtig: »Diese Gegend nenne ich Vingåker.«

Gleich darauf steht er vor einem kleinen Gebäude still, das viel einfacher ist als alle die anderen und am meisten Ähnlichkeit mit einer Schmiede hat. »Das ist eine große Werkstatt,« sagt er. »Die nenne ich Eskilstuna. Wenn du Lust hast, kannst du gerne hineingehen und dich da umsehen.«

Der Junge geht hinein und sieht eine unglaubliche Menge Räder, die sich rund herum drehen, Hämmer, die schmieden, und Drehscheiben, die kreischen. Da ist so viel zu sehen, daß er gern die ganze Nacht da drinnen hier hätte bleiben können, wenn ihn der Gärtner nicht gerufen hätte.

Darauf gingen sie am See entlang an der nördlichen Seite des Gartens. Das Ufer schlängelte sich hinaus und hinein: Landzunge und Bucht, Landzunge und Bucht längs des ganzen Gartens. Vor den Landzungen liegen kleine Inseln, die durch schmale Sunde vom Lande getrennt sind. Die kleinen Inseln gehören auch mit zum Garten. Sie sind ebenso sorgfältig bepflanzt, wie all das andere.

Der Junge geht an einem schönen Gehöft nach dem anderen vorüber, aber er bleibt nicht stehen, als bis er an eine prächtige rote Kirche kommt. Die sieht sehr stattlich aus, wie sie da auf einer Landzunge, von schwer beladenen Obstbäumen überschattet, liegt. Der Gärtner will wie gewöhnlich vorübergehen, aber der Junge faßt Mut und bittet um Erlaubnis, hineingehen zu dürfen. »Nun ja, dann geh' nur hinein!« sagt er, »nimm dich aber vor Bischof Rogge in acht! Es ist nicht unmöglich, daß er noch heutigen Tages hier in Strängnäs sein Wesen treibt.«

So läuft denn der Junge in die Kirche hinein und besieht alte Grabmäler und schöne Altarbilder. Vor allem aber bewundert er einen Reiter in goldener Rüstung, den er in einer Kapelle neben dem Waffenhause entdeckt. Hier ist auch so viel zu sehen, daß er gern die ganze Nacht dageblieben wäre, aber er muß wieder fort, um den Gärtner nicht warten zu lassen.

Als er wieder herauskommt, sieht er den Gärtner stehen und einer Eule zusehen, die oben in der Luft hinter einem Rotschwänzchen her jagt. Der Alte pfeift dem Rotschwänzchen, das seinem Ruf folgt und sich auf seine Schulter setzt, und als die Eule in ihrem Jagdeifer ihm nachfliegt, jagt er sie mit dem Spaten fort. »Er ist gewiß gar nicht so schlimm, wie er aussieht,« denkt der Junge, als er sieht, wie der Gärtner den armen Singvogel beschützt.

Sobald er aber den Jungen erblickt, wendet er sich nach ihm um und fragt, ob er Bischof Rogge gesehen hat. Und als der Junge nein antwortet, sagt er mit dem größten Gram: »Hat Bischof Rogge Ruhe gefunden und ich nicht?«

Bald darauf kommen sie in das größeste von den vielen Puppenhäusern. Es ist eine rundgemauerte Burg mit drei festen, runden Türmen, die durch lange Flügel verbunden sind.

»Wenn du Lust hast, kannst du gern hineingehen und dich umsehen!« sagt der Gärtner. »Das ist Gripsholm, und hier mußt du dich in acht nehmen, daß du nicht König Erik begegnest.«

Der Junge geht durch eine tiefe Torwölbung und kommt auf einen großen, dreieckigen Hof, der von kleinen Häusern umgeben ist. Sie sind nicht gerade ansehnlich, und der Junge macht sich nichts daraus, dahinein zu gehen. Er springt nur ein paarmal Bock über zwei lange Kanonen, die da stehen, und läuft dann weiter. Durch eine zweite tiefe Torwölbung gelangt er auf einen Burghof, der von prächtigen Gebäuden umgeben ist und dahinein geht er. Er kommt in große, altmodische Zimmer mit Querbalken an der Decke; alle Wände sind mit hohen, dunklen Gemälden bedeckt, auf denen ernste Damen und Herren in wunderlichen, steifen Trachten abgebildet sind.

In dem Stockwerk darüber sind die Zimmer heller und freundlicher. Jetzt kann er erst merken, daß er in einem königlichen Schloß ist, denn an den Wänden sieht er nichts als strahlende Porträts von Königen und Königinnen. Im obersten Stockwerk aber ist ein großer Boden, und um den herum liegen viele verschiedene Zimmer. Es sind helle Räume mit hübschen, weißen Möbeln, und da ist ein kleines Theater und dicht daneben ein richtiges Gefängnis: ein Raum mit kahlen steinernen Wänden und vergitterten Fenstern und einem Fußboden, der von den schweren Schritten der Gefangenen abgenutzt ist.

Da ist so viel zu sehen, daß der Junge gern viele Tage dageblieben wäre, aber der Gärtner ruft nach ihm, und er wagt nicht, ungehorsam zu sein.

»Hast du König Erik gesehen?« fragt der Alte, als der Junge wieder herauskommt. Aber der Junge hat nichts gesehen, und da sagt der Gärtner so wie vorhin, aber in noch tieferer Verzweiflung: »Hat König Erik Ruhe gefunden und ich nicht?«

Dann gehen sie in den östlichen Teil des Gartens. Sie kommen an einem Badehaus vorüber, das der Gärtner Södertelje nennt, und an einem alten Schloß, das er Hörningsholm nennt. Hier ist übrigens nicht so viel zu sehen. Es wimmelt hier von Felsen und Klippen, die immer öder und kahler werden, je weiter hinaus sie liegen.

Jetzt biegen sie nach Süden ab, und der Junge erkennt die Hecke, die Kolmård heißt, und er kann sehen, daß sie sich dem Ausgang nähern.

Er freut sich, daß er das alles gesehen hat, und als er in der Nähe der großen Gitterpforte angelangt ist, will er dem Gärtner gern danken. Aber der Alte hört gar nicht auf das, was er sagt, sondern geht geradeswegs auf die Pforte zu. Da wendet er sich nach dem Jungen um und reicht ihm seinen Spaten. »Halte mir den, während ich die Pforte aufschließe.«

Aber dem Jungen tut es leid, daß er dem barschen, alten Mann so viel Mühe gemacht hat und er will ihm weitere Ungelegenheit ersparen. »Ihr braucht die schwere Pforte meinetwegen gar nicht aufzuschließen,« sagt er, und im selben Augenblick schlüpft er zwischen den eisernen Stangen hindurch. Das ist die leichteste Sache von der Welt für ihn.

Er tut das in der allerbesten Absicht, und er ist sehr verwundert, als er den Gärtner hinter seinem Rücken einen Zornesruf ausstoßen hört und steht, wie er mit den Füßen stampft und an dem eisernen Gitter rüttelt.

»Was ist das? Was ist das?« fragt der Junge. »Ich wollte Euch ja nur die Mühe ersparen. Warum seid Ihr so böse?«

»Sollte ich nicht böse sein!« erwidert der Alte. »Es bedürfte nichts weiter, als daß du den Spaten nahmst, dann hättest du hier umhergehen und den Garten pflegen müssen, und ich wäre abgelöst gewesen. Jetzt weiß ich nicht, wie lange ich hier noch umhergehen muß.«

Und dabei rüttelt er an dem Gitter und sieht entsetzlich zornig aus, aber der Knabe kann nicht anders, er muß ihn bemitleiden, und er versucht, ihn zu trösten.

»Ihr müßt nicht so betrübt darüber sein, Herr Karl von Södermanland,« sagte er, »denn niemand würde Euren Garten so gut pflegen, wie Ihr es tut.«

Als der Junge das sagt, wird der alte Gärtner ganz still und stumm, und es ist dem Jungen, als gehe ein Leuchten über seine harten Züge. Aber er kann es nicht deutlich sehen, denn im selben Augenblick verblaßt die ganze Gestalt und schwindet wie ein Nebel. Und nicht er allein, sondern der ganze Garten verblaßt und verschwindet mit Blumen und Früchten und Sonnenschein, und da, wo er eben noch gelegen, ist nichts weiter zu sehen als der wilde Wald.


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