Selma Lagerlöf
In Dalarne
Selma Lagerlöf

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Hellgums Brief

Eine alte Frau kommt aus einer kleinen Hütte im Walde. Obwohl es ein Alltag, ist sie doch feierlich gekleidet, als wolle sie in die Kirche gehen. Sie zieht den Schlüssel aus dem Schloß und legt ihn an den gewohnten Platz unter die Türschwelle.

Als die Alte ein paar Schritte gegangen ist, wendet sie sich um und sieht sich nach ihrer Hütte um, die klein und armselig unter den mächtigen, schneebelasteten Tannen daliegt.

Mit liebevollen Augen sieht sie auf das armselige Haus zurück. »Manch einen glücklichen Tag habe ich hier verlebt,« sagt sie feierlich zu sich selbst. »Ja, ja, der Herr gibt und der Herr nimmt!«

Dann wandert sie den Waldpfad entlang. Sie ist sehr alt und gebrechlich, aber sie gehört zu denen, die sich aufrecht und gerade halten, wie sehr das Alter sie auch zu beugen versucht.

Sie hat ein schönes Gesicht und weiches, weißes Haar. Sie sieht so freundlich aus, daß es ganz wunderlich ist, sie mit einer Stimme reden zu hören, die scharf und feierlich und langsam klingt.

Sie hat einen langen Weg vor sich, denn sie will zu einer Versammlung der Hellgumianer auf den Ingmarshof hinauf. Die Alte, Eva Gunnarstochter, gehört zu denen, die sich am allereifrigsten Hellgums Lehre angeschlossen haben.

»Ach,« denkt sie, während sie den Waldpfad entlangwandert, »es war eine herrliche Zeit, als alles im Werden war, als mehr als der halbe Kirchsprengel sich Hellgum anschloß, und wer konnte denken, daß so viele abfallen würden, daß wir nach fünf Jahren nicht viel mehr als zwanzig Menschen sein würden, wenn man die Kinder nicht mitrechnet.«

Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit, wo sie, die viele Jahre lang einsam und verlassen in ihrer kleinen Hütte gesessen hatte, auf einmal eine Menge Brüder und Schwestern gewonnen hatte, die in ihrer Einsamkeit zu ihr kamen, die nie, wenn der Schnee dicht und dick herabgefallen war, vergaßen, den Weg zu ihrer Hütte hinauf frei zu schaufeln, und ihren kleinen Holzschuppen mit trockenem, kleingespaltenem Brennholz zu füllen, ohne daß sie etwas davon wußte. Sie dachte an die Zeit, wo Karin Ingmarstochter und ihre Schwestern und noch viele andere von den großen Leuten in der Gemeinde kamen und ein Liebesmahl in ihrer kleinen, armen Hütte abhielten.

»Ach, daß so viele die Zeit ihrer Heimsuchung versäumt hatten,« dachte sie. »Jetzt kommt die Strafe über uns. Im nächsten Sommer müssen wir alle vergehen, weil so wenige dem Ruf gefolgt sind, und weil die, die ihm gehorcht haben, nicht beständig im Glauben geblieben sind.«

Die Alte fängt an, über den Inhalt von Hellgums Briefen nachzugrübeln, von diesen Schriften, die die Hellgumianer wie die Schriften der Apostel betrachteten, und in ihren Versammlungen vorlasen, so wie man in anderen Gemeinden aus der Bibel vorliest.

»Es gab eine Zeit, wo er war wie Milch und Honig,« sagte sie. »Er riet uns, Geduld mit den Unbekehrten zu haben und Milde gegen Abtrünnige zu üben. Er lehrte die Reichen, an den Gerechten wie an den Ungerechten Werke der Barmherzigkeit zu tun. Aber jetzt in dieser letzten Zeit ist er gewesen wie Wermut und Galle. Er schreibt von nichts weiter als von Heimsuchungen und Strafgerichten.«

Jetzt war die Alte zum Walde hinausgekommen und sie stand da und sah über den Kirchsprengel hinab.

Es war ein schöner Februartag, der Schnee breitete seine weiße Reinheit über die ganze Gegend, alles Pflanzenleben war in Winterschlaf gesunken und kein Windhauch rührte sich.

Aber die alte Frau dachte, während sie so ging, daran, daß dies ganze Land, das jetzt seinen ruhigen Winterschlaf schlief, bald erwachen würde, um von kochenden Schwefelströmen verbrannt zu werden; sie sah das alles in Flammen gehüllt, wie es jetzt in Schnee eingehüllt war.

»Er hat es nicht mit klaren Worten gesagt,« dachte die alte Eva, »aber er schreibt immer von einer großen Heimsuchung. Ach ja, ach ja, wer kann sich darüber wundern, wenn dieser Kirchsprengel heimgesucht wird wie Sodom und zerstört wird wie Babylon?«

Während Eva Gunnarstochter durch das Dorf dahinwanderte, sah sie nicht ein einziges Haus, das sie nicht im Geiste erblickte, wie es unter dem kommenden Erdbeben erzittern, schwanken und umstürzen würde, als sei es aus Sand gebaut. Und wenn sie Menschen begegnete, dachte sie daran, wie die Ungeheuer der Hölle sie jagen und verschlingen würden.

»Sieh, da geht nun Schulmeisters Gertrud,« dachte sie, als sie auf dem Wege einem schönen, jungen Mädchen begegnete. »Ihre Augen leuchten und strahlen wie Sonnenblitze auf dem Schnee. Sie ist so froh, weil sie im Herbst Hochzeit mit dem jungen Ingmar Ingmarsson machen wird. Sie hat, wie ich sehe, ein Bündel Garn unter dem Arm; sie wird wohl den Bettumhang und die Bettücher für ihr eigenes Heim weben. Aber ehe das Gewebe fertig ist, wird das Verderben über uns kommen.«

Es waren finstere Blicke, die die alte Frau um sich warf, als sie durch das Kirchdorf wanderte, das gewachsen war und sich zu einer nie geahnten Größe und zu überraschendem Ansehen entwickelt hatte. Aber alle diese weißen und gelben Höfe mit Holzverkleidungen und hohen Fenstern mußten doch einstürzen ebenso wie ihre eigene, armselige Hütte, in der die Fenster nur wie Gucklöcher waren, und wo das Moos zwischen den Balken steckte.

Mitten im Dorf blieb sie stehen und stieß ihren Stock hart auf den Boden, und ein heftiger Zorn überkam sie. »Ja, ja,« rief sie mit so lauter Stimme, daß alle, die sich auf dem Wege befanden, stehen blieben und sich umwandten. »Ja, ja, in allen diesen Häusern wohnen Menschen, die Christi Evangelium verworfen haben und dem Evangelium des Teufels anhangen. Warum hörten sie nicht den Ruf, warum wandten sie sich nicht ab von ihren Sünden? Darum müssen wir alle vergehen, Gottes Hand trifft hart. Gottes Hand trifft den Gerechten und den Ungerechten mit demselben Strafgericht!«

Als die Alte den Elf überschritten hatte, wurde sie von einigen anderen Hellgumianern eingeholt. Es waren der alte Korporal Fält und Kolaas Gunnar mit seiner Frau, Brita Ingmarstochter. Nach und nach kamen auch Hök Matts Eriksson und sein Sohn Gabriel und des Gemeindevorstehers Gunhild.

Es war ein ebenso schöner wie erfreulicher Anblick, als alle diese Männer und Frauen in den bunten Trachten der Gegend über den weißen Schnee dahinwanderten. Aber Eva Gunnarstochter erschienen sie nur wie Gefangene, die zum Schafott geführt wurden, wie Tiere, die zur Schlachtbank getrieben werden.

Alle Hellgumianer sahen sehr niedergeschlagen aus. Sie gingen und sahen zu Boden, wie von einer schweren Last bitteren Mißmutes niedergedrückt. Sie hatten alle erwartet, daß das Reich der Seligkeit sich gleich über der Erde verbreiten würde, daß sie den Tag erleben sollten, wo das neue Jerusalem aus den Wolken des Himmels herabgeschwebt kam. Als sie nun so wenige geworden waren und sich selbst eingestehen mußten, daß ihre Hoffnungen getäuscht waren, da war es, als sei etwas in ihnen zerrissen. Sie gingen langsam und mit schwebenden Schritten, sie seufzten oft und hatten einander nichts zu sagen; denn dies war eine ernste Sache für sie gewesen. Sie hatten ihr Leben dafür eingesetzt, und nun hatten sie es verloren.

»Warum sind sie so betrübt?« dachte die alte Frau. »Sie glauben ja doch nicht einmal das schlimmste, sie wollen Hellgums Meinung nicht verstehen. Ich habe ihnen diese Worte ausgelegt, aber sie wollen nicht hören, was ich sage. Ach, die auf der Ebene unter dem offenen Himmel wohnen, lernen ja niemals, sich zu ängstigen und sich zu sorgen. Sie haben nicht denselben Verstand wie die, die einsam in der Finsternis des Waldes sitzen.«

Sie merkte, daß die Hellgumianer bekümmert waren, weil Halvor sie an einem Werktag zusammengerufen hatte. Sie fürchteten, daß er ihnen einen neuen Abfall zu verkündigen habe. Unruhig sahen sie einander an und musterten sich gegenseitig mit mißtrauischen Blicken, die zu fragen schienen: »Wie lange bleibst du beständig im Glauben, wie lange du?«

»War es nicht besser, dem Ganzen ein Ende zu machen, die Gemeinde gleich jetzt aufzulösen,« dachte sie, »so wie es besser ist, einen schnellen Tod zu sterben, als langsam dahinzusiechen.«

»Ach, ihre Gemeinde, dies Evangelium des Friedens, dies selige Leben in Einigkeit und Brüderschaft, das sie so innig liebte: daß dies nun dem Untergang geweiht sein sollte!«

Während diese betrübten Menschen ihre Wanderung fortsetzten, wanderte die Sonne so mächtig und herrlich wie immer ihre Bahn an dem hohen, blauen Himmel dahin. Aus dem Schnee stieg eine frische Kühle auf, die Mut und Munterkeit erweckte. Und von den grünbekleideten Hügeln senkte sich eine beruhigende Stille und ein tiefer Friede auf die Gegend herab.

Endlich waren sie oben auf dem Ingmarshof angelangt und traten in die gute Stube.

In der guten Stube auf dem Ingmarshof hing hoch oben unter der Decke ein altes Gemälde, das vor über hundert Jahren von einem Dorfkünstler gemalt war. Es stellte eine große Stadt, von hohen Mauern umgeben, dar. Über der Mauer sah man die Dächer und Giebel von vielen Häusern aufragen. Einige von diesen Häusern waren rote Bauernhäuser mit grünen Rasendächern, andere hatten weiße Wände und Schieferdächer wie Herrenhöfe, und wieder andere hatten zart kupfergedeckte Türme wie die Christinakirche in Falun.

Vor der Stadt spazierten Herren in Kniebeinkleidern und Schuhen, Stöcke mit goldenen Knöpfen in der Hand, und aus dem Tor der Stadt heraus kam eine Kutsche voller Damen mit gepudertem Haar und Schäferhüten gefahren. Unterhalb der Mauer wuchsen Bäume, mit dichtem, dunkelgrünem Laub, und durch das hohe, wogende Gras auf den Feldern rieselten kleine, schimmernde Bäche.

Unter dem Bilde stand mit großen, verschnörkelten Buchstaben: Dieses ist Gottes heilige Stadt, Jerusalem!

Das alte Gemälde hing so hoch oben unter der Decke, daß es nur selten jemand betrachtete. Die meisten, die auf dem Ingmarshof waren, wußten kaum, daß es da war.

Aber heute hing ein Kranz von grünen Preißelbeerzweigen um das Bild, so, daß es den Eintretenden gleich in die Augen fiel. Eva Gunnarstochter bemerkte es sofort, und sie dachte: »Ja, seht! Jetzt wissen sie hier auf dem Ingmarshof, daß wir umkommen müssen; darum wollen sie, daß wir das himmlische Jerusalem vor Augen haben sollen!«

Karin und Halvor kamen ihnen entgegen, so finster und schattenhaft wie alle die anderen. »Ja, nun wissen sie, daß das Ende nahe ist,« dachte sie.

Eva Gunnarstochter, die die Älteste war, erhielt ihren Platz ganz am obersten Tischende, und auf dem Tisch vor ihr lag ein geöffneter Brief mit amerikanischen Briefmarken.

»Ja, es ist wieder ein Brief von unserem lieben Bruder Hellgum gekommen,« sagte Halvor. »Darum habe ich unsere Brüder und Schwestern zusammengerufen.«

»Halvor meint also, daß es eine wichtige Botschaft ist,« sagte Kolaas Gunnar.

»Ja,« sagte Halvor, »wir erfahren jetzt, was Hellgum mit dem meinte, was er das letztemal von der großen Prüfung schrieb, die uns bevorstehe.« – »Ich denke mir, niemand wird sich vor dem fürchten, was wir um des Herrn willen leiden sollen,« sagte Kolaas Gunnar.

Mehrere von den Hellgumianern waren noch nicht gekommen, und daher wurde die Wartezeit ziemlich lange. Die alte Eva Gunnarstochter saß da und starrte mit ihren weitsichtigen Augen Hellgums Brief an. Sie dachte an den Brief mit den sieben Siegeln in der Offenbarung Johannes. Sie stellte sich vor, daß, wenn eine Menschenhand den Brief berührte, der Engel der Zerstörung vom Himmel herabfliegen würde.

Sie erhob den Blick zu dem Jerusalembilde: »Ja,« murmelte sie. »Ja, wahrlich werde ich in die Stadt kommen, die Tore von Gold hat und deren Mauern aus lauterem Glas sind.« Und sie begann vor sich hin zu murmeln: »Und die Grundmauern der Stadt waren geschmückt mit allerhand kostbaren Steinen. Der erste Grund war ein Jaspis, der andere ein Saphir, der dritte ein Chalzedonier, der vierte ein Smaragd, der fünfte ein Sardonich, der sechste ein Sardis, der siebente ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topasier, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst.« Die Alte war so tief in das liebe Buch der Offenbarung versunken, daß sie auffuhr, als habe sie geschlafen, als Halvor an den Tisch trat, wo der Brief lag. – »Jetzt wollen wir anfangen, ein Lied zu singen!« sagte Halvor. »Ich denke, wir singen Nr. 244.«

Und die Hellgumianer erhoben sich und sangen stehend:

»Jerusalem, du hohe,
Du schöne, goldne Stadt,
Du Heimat, die mein Herze
Stets sehr erquicket hat!
«

Eva Gunnarstochter seufzte erleichtert auf, als der schwere Augenblick hinausgeschoben wurde.

»Ach, ach, daß die alte Frau so bange sein muß zu sterben,« dachte sie ganz beschämt.

Als der Gesang beendet war, nahm Halvor den Brief und faltete ihn auseinander.

Im selben Augenblick kam der Geist über Eva Gunnarstochter, so daß sie sich erhob und ein langes Gebet zu sprechen begann, indem sie um Gnade flehte, daß alle die Botschaft, die der Brief ihnen verkünden würde, auf die rechte Weise aufzufassen vermöchten.

Halvor stand still, den Brief in der Hand, und wartete, bis sie fertig war.

Dann begann er in demselben Ton, als lese er eine Predigt, vorzulesen:

»Liebe Brüder und Schwestern, Gottes Friede zuvor!

Bisher hatte ich geglaubt, daß ich und Ihr, die Ihr meine Lehre angenommen habt, allein in der Welt dastündet mit diesen unserem Glauben. Aber Gott sei gelobt! Jetzt haben wir hier in Chicago Gleichgesinnte und Brüder gefunden, die nach denselben Vorschriften denken und leben.

Ihr müßt nämlich wissen, daß hier in der Stadt Chicago zu Anfang der achtziger Jahre ein Mann namens Edward Gordon wohnte. Er und seine Frau waren gottesfürchtige Menschen und trauerten über all die Not, die es auf Erden gab, und baten Gott um Gnade, beitragen zu dürfen, sie zu lindern.

Da geschah es, daß Edward Gordons Frau eine lange Reise über das Meer machen mußte, und sie litt Schiffbruch und ward in die Wellen hinausgeworfen. Aber als sie sich in der äußersten Not befand, siehe, da redete Gottes Stimme zu ihr. Gottes Stimme befahl ihr, daß sie die Menschen lehren sollte, in Frieden und Einigkeit zu leben und all den Streit nachzulassen.

Und die Frau wurde aus dem Meer und aus der Lebensgefahr errettet und kehrte wieder heim zu ihrem Mann und verkündete Gottes Botschaft. Da sagte er: Dies ist ein großes Gebot, das der Herr, unser Gott, uns gegeben hat, daß wir in Einigkeit leben sollen, und wir wollen es erfüllen. So groß ist dieses Gebot, daß es nur eine einzige Stätte auf dem Umkreis der Erde findet, die würdig ist, es zu empfangen. Laßt uns daher unsere Freunde versammeln und mit ihnen nach Jerusalem ziehen, und das heilige Gebot Gottes von dem Berge Zions verkünden.

Darauf zogen Edward Gordon und seine Frau zusammen mit dreißig andern, die Gottes rechtem, heiligem Gebot folgen wollten, nach Jerusalem.

Dort lebten sie alle einträchtiglich in demselben Haus zusammen. Sie teilten all ihr Hab und Gut miteinander, dienten einander und wachten einer über das Leben des andern.

Und sie nahmen die Kinder der Armen zu sich und pflegten die Kranken der Armen. Sie halfen den Altersschwachen und standen mit ihrer Hilfe allen denen bei, die dessen bedurften, ohne Lohn oder Gaben dafür zu fordern.

Aber sie predigten nicht in Kirchen oder auf den Märkten, denn sie sagten, unser Leben soll für uns reden.

Aber die Leute, die von dem Leben hörten, das sie führten, sagten von ihnen: Diese Menschen müssen Toren sein oder Wahnsinnige.

Und die, die am lautesten gegen sie schrien, waren die Christen, die nach Palästina gezogen waren, um Juden und Mohammedaner durch Predigt und Lehre zu bekehren. Sie sagten: Wer sind diese, daß sie nicht predigen wollen? Sicher sind sie hierher gekommen, um ein schlechtes Leben zu führen und der Fleischeslust und Sinnenlust unter den Heiden zu frönen.

Und sie erhoben ein Geschrei wider sie, das über das Meer bis in ihr Heimatsland schallte.

Aber unter denen, die nach Jerusalem gezogen waren, war auch eine, die eine Witwe war. Sie lebte dort mit zwei halberwachsenen Kindern, und sie war sehr reich. Sie hatte einen Bruder in der Heimat hinterlassen, und zu dem fingen die Leute an zu sagen: Wie kannst Du es zugeben, daß Deine Schwester und Deine Kinder unter diesen leben, die einen schlechten Lebenswandel führen? Sie sind nichts weiter als Tagediebe, die von ihrem Reichtum leben. Und der Bruder ließ seine Schwester vor das Gericht laden, um sie zu zwingen, wenigstens ihre Kinder in Amerika erziehen zu lassen.

Und um dieser Gerichtsverhandlung willen reisten die Witwe und ihre Kinder und Edward Gordon und seine Frau heim nach Chicago. Sie hatten aber damals schon vierzehn Jahre in Jerusalem gewohnt.

Als sie aus dem fernen Lande zurückkamen, ward in allen Blättern über sie geschrieben, und einige nannten sie wahnsinnig, und einige nannten sie Betrüger.«

Als Halvor dies alles vorgelesen hatte, machte er eine Pause und wiederholte dann die ganze Erzählung mit seinen eigenen Worten, damit alle sie verstehen konnten.

Und dann fuhr er fort: »Aber seht, nun gibt es in Chigaco ein Haus, das Ihr kennt, und dies Haus ist von Menschen bewohnt, die sich bemühen, Gott in Gerechtigkeit zu dienen, und die alles miteinander teilen, und die der eine über das Leben des andern wachen.

Wir, die wir in diesem Hause wohnen, lasen in einer Zeitung von diesen Wahnsinnigen, die aus Jerusalem heimgekehrt waren, und wir sahen einander an und sagten: Diese Menschen haben unseren Glauben. Sie haben sich zusammengeschlossen, um ein rechtschaffenes Leben zu führen. Wir wollen sie sehen, die unseren Glauben teilen. Und wir schrieben an sie, daß sie kommen und uns besuchen sollten. Und die, die von Jerusalem heimgekehrt waren, folgten den Rufen, und wir verglichen unseren Glauben mit dem ihren und sagten: Seht, wir denken und glauben dasselbe. Es ist Gottes Gnade, daß wir uns gefunden haben.

Sie erzählten uns von der Herrlichkeit der Stadt Gottes, der Stadt, die schimmernd auf ihrem weißen Berge liegt und wir priesen sie glücklich, daß sie auf den Wegen wandeln durften, die Jesu Fuß betreten hatte.

Da sagte einer von den unsrigen: Warum sollten wir nicht mit Euch nach Jerusalem zurückgehen?

Sie antworteten: Ihr sollt nicht mit uns dort hingehen, denn die heilige Stadt Gottes ist voller Streit und Uneinigkeit, voller Not und Krankheit, voller Verderben und Armut.

Und gleich rief ein anderer von den unsern: Vielleicht hat Euch Gott zu uns geführt, damit wir Euch dahin folgen und gegen dies alles kämpfen sollen.

Da hörten wir alle zusammen Gottes Stimme durch unsere Herzen brausen: Ja, ja, das ist mein Wille!

Wir fragten sie, ob sie uns nicht in ihre Gemeinde aufnehmen wollten, obwohl wir arm und ungelehrt wären. Und sie antworteten, daß sie das wollten.

Da beschlossen wir, daß wir Brüder und Schwestern werden und alles teilen wollten, und wir nahmen ihren Glauben an und sie den unsrigen, und die ganze Zeit war der Geist über uns, und es war eine große Freude. Und wir sagten: Jetzt sehen wir, daß Gott uns liebt, sintemal er uns nach demselben Lande sendet, wohin er einmal seinen Sohn gesandt hat. Wir wissen, daß unsere Lehre die wahre ist, sintemal es Gottes Wille ist, daß sie von seinem heiligen Berg Zion verkündet werden soll.

Aber da sagte einer von denen, die uns hörten: Und unsere Brüder daheim in Schweden? Und wir sagten zu den Jerusalemfahrern: Seht, wir sind noch mehr als Ihr hier seid. Wir haben Brüder und Schwestern daheim in Schweden wohnen. Und sie sind schwer geprüft worden, und haben großen Abfall erlitten, und sie führen einen harten Kampf um die Sache der Gerechtigkeit, weil sie unter Sündern leben müssen.

Da antworteten die Jerusalemfahrer: Lasset Eure Brüder und Schwestern in Schweden zu uns nach Jerusalem kommen und teil an der heiligen Arbeit nehmen.

Und wir waren zuerst erfreut über den Gedanken, daß Ihr uns nachfolgen und teilnehmen solltet an der Gemeinschaft und der Freude in Jerusalem. Aber gleich darauf erfüllte uns eine Betrübnis, und wir sagten: Unsere Brüder werden niemals ihre großen Höfe und guten Äcker und ihre gewohnte Arbeit verlassen.

Aber die Jerusalemfahrer antworteten: Wir haben ihnen keine Äcker und großen Höfe zu bieten, aber wir können ihnen die Wege zeigen, die von Jesu Füßen betreten sind, so daß auch sie sie betreten können.

Noch waren wir in Zweifel, und wir sagten: Sicher werden unsere Brüder und Schwestern nimmermehr in ein fremdes Land ziehen, wo niemand ihre Sprache versteht.

Die Jerusalemfahrer antworteten: Sie sollen lernen zu verstehen, was die Steine des heiligen Landes zu ihnen von unserem Erlöser reden.

Wir sagten: Niemals werden sie ihr Eigentum an Fremde verteilen und arm werden wie Bettler. Sie werden ihre Macht und ihr Ansehen nicht aufgeben, denn sie sind die vornehmsten Männer und Frauen in ihrer Heimatsgemeinde.

Die Jerusalemfahrer antworteten: Wir haben ihnen keine Macht und keine Güter zu bieten, aber wir können ihnen anbieten, die Leiden ihres Erlösers Jesu Christi zu teilen.

Als dies gesagt wurde, erfüllte uns wieder eine große Freude, und wir dachten, daß Ihr kommen würdet.

Aber nun sage ich Euch, lieben Brüder und Schwestern, redet nicht miteinander, wenn Ihr dieses gelesen habt, sondern seid still und lauscht! Und was Gottes Stimme Euch alsdann befiehlt, das tut!«

Halvor faltete den Brief zusammen und sagte: »Nun wollen wir tun, was Hellgum uns schreibt, und wir wollen still sein und lauschen.«

Es entstand ein langes Schweigen in der guten Stube auf dem Ingmarshof.

Die alte Eva Gunnarstochter saß stumm da wie die übrigen und wartete darauf, daß Gottes Stimme zu ihr reden solle. Sie verstand es nun alles auf ihre eigene Weise: »Ja, ja,« dachte sie, »es ist Hellgums Meinung, daß wir nach Jerusalem ziehen sollen, um dem großen Verderben zu entgehen. Der Herr will uns aus der Schwefelflut erretten und uns vor dem Feuerregen bewahren. Und die Gerechten unter uns werden Gottes Stimme hören, die ihnen erlaubt, zu entfliehen.« Auch nicht einen Augenblick dachte die alte Frau daran, daß es für jemand von ihnen ein Opfer sein könne, von Haus und Heimat wegzuziehen, wenn es sich um so etwas handelte. Es fiel ihr gar nicht ein, daß jemand mit sich selbst in Zweifel sein könne, ob er die grünen Wälder seiner Heimat, den lächelnden Elf und die fruchtbaren Felder vergessen solle. Mehrere von den anderen dachten mit Grauen daran, daß sie ihre Lebensweise verändern, das Heim ihrer Väter, Eltern, Verwandten und Freunde vergessen sollten – sie aber nicht. Dies bedeutete ja, daß Gott sie erretten wollte, so wie er in alten Zeiten Noah und Loth gerettet hatte. Sie wurden ja zu einem Leben von überirdischer Herrlichkeit in die heilige Stadt Gottes gerufen. Es war ihr, als habe Hellgum an sie geschrieben, daß sie noch bei lebendigem Leibe in den Himmel aufgenommen werden sollte.

Alle saßen mit geschlossenen Augen da, ganz in sich selbst vertieft. Mehrere litten so stark in ihrem Innern, daß der kalte Schweiß auf ihre Stirn trat. »Ja, es ist sicherlich die Prüfung, die uns Hellgum prophezeit hat,« seufzten sie.

Die Sonne neigte sich zum Untergang und sandte grelle Strahlen in die Stube. Blutrot legte sich der Sonnenschein auf die vielen blassen Gesichter.

Endlich erhob sich Ljung Björns Frau, Märta Ingmarstochter, von der Bank und sank auf die Knie nieder. Und ihr folgte einer nach dem andern, bis sie alle knieten.

Auf einmal atmeten mehrere von ihnen tief auf, und ein Lächeln erhellte ihre Gesichter.

»Halvor,« sagte Karin Ingmarstochter mit bebendem Wundern in ihrer Stimme: »Ich höre Gottes Stimme, die mich ruft!«

Des Gemeindevorstehers Gunhild erhob die Hände in Verzückung, während die Tränen über ihr Gesicht herabströmten. »Auch ich will reisen,« sagte sie, »Gottes Stimme ruft mich.«

Darauf sagten Krister Larsson und seine Frau fast wie aus einem Munde: »Es ruft in mein Ohr hinein, daß ich hinziehen soll. Ich höre, daß mich Gottes Stimme ruft!«

Der Ruf ertönte dem einen und dem andern, und im selben Augenblick verließ sie alle Angst und Sorge. Es war eine große, große Freude, die über sie alle kam. Sie dachten nicht mehr an ihre Höfe oder ihre Anverwandten. Sie dachten nur daran, daß ihre Gemeinde von neuem aufblühen würde, sie dachten daran, welche Herrlichkeit es war, berufen zu sein, in Gottes eigener Stadt zu wohnen.

Der Ruf war den meisten erklungen, aber noch war er nicht zu Tims Halvorsson gedrungen, und er rang hart im Gebet, und er ward innerlich bekümmert und dachte: »Gott will mich nicht rufen, wie er die anderen gerufen hat. Ihr seht, daß ich meine Äcker und Wiesen mehr liebe als sein Wort. Ich bin nicht würdig!«

Karin Ingmarstochter trat an Halvor heran und legte ihre Hand an seine Stirn. »Du mußt still sein, Halvor, und in der Stille auf Gottes Stimme lauschen.«

Halvor faltete seine harten Hände so krampfhaft, daß die Gelenke krachten. »Vielleicht hält mich Gott nicht für würdig, mitzuziehen,« sagte er. – »Ja, Halvor, natürlich sollst du mitziehen, aber du mußt still sein.«

Sie fiel neben ihm auf die Knie und legte ihren Arm um ihn. »Lausche nun in der Stille, Halvor, und ohne Furcht.«

Wenige Augenblicke darauf wich die Spannung aus seinen Zügen. »Ich höre – ich höre etwas in weiter Ferne,« sagte er zu seiner Frau. – »Sei jetzt ganz still, Halvor.« Sie schmiegte sich fester und fester an ihn, so wie sie es noch nie in Gegenwart Fremder getan hatte. – »Ach,« sagte er und schlug die Hände zusammen: »Jetzt habe ich es gehört. Es redete so laut zu mir, daß es mir vor den Ohren dröhnte: Du sollst in meine heilige Stadt Jerusalem ziehen! Habt ihr es alle auch so gehört?« – »Ja, ja,« rief sie, »so haben wir es alle gehört.«

Aber nun begann die alte Eva Gunnarstochter zu jammern. »Ich habe nichts gehört. Ich darf nicht mit euch ziehen. Ich bin Lots Weib, das auf der Flucht zurückgelassen wurde. Ich muß stehen bleiben, in eine Salzsäule verwandelt.«

Sie weinte in großer Angst und Bekümmernis, und die Hellgumianer scharten sich um sie, um zu beten. Aber sie hörte noch immer nichts, und ihr Kummer wurde immer größer. »Ich kann nichts, nichts hören,« sagte sie, »aber ihr müßt mich mitnehmen. Ihr dürft mich nicht zurücklassen, ihr dürft mich nicht im Schwefelregen umkommen lassen!«

»Du mußt warten, Eva,« sagten die Hellgumianer. »Der Ruf kann auch dir noch erklingen. Er wird sicherlich in dieser Nacht oder morgen zu dir kommen.«

»Ihr antwortet mir nicht,« sagte die Alte. »Ihr antwortet mir nicht auf das, wonach ich euch frage. Ihr wollt mich vielleicht nicht mitnehmen, falls der Ruf mir nicht ertönt?«

»Er wird ertönen, er wird ertönen!« riefen die Hellgumianer.

»Ihr antwortet mir nicht!« rief die Alte mit verzweifelter Stimme aus.

»Liebe Eva,« sagten die Hellgumianer, »wir können dich nicht mitnehmen, wenn Gott dich nicht ruft. Fürchte dich aber nicht. Der Ruf wird sicherlich auch dir ertönen.«

Da erhob sich die alte Frau hastig aus ihrer knienden Stellung, richtete den alten Rücken gerade und stieß ihren Stock hart auf den Fußboden.

»Ich sehe, daß ihr von mir fortziehen und mich zugrunde gehen lassen wollt,« sagte sie. »Ja, ja, ja! Ihr wollt von mir fortziehen und mich zugrunde gehen lassen!«

Sie war entsetzlich böse geworden, und man sah Eva Gunnarstochter noch einmal so, wie sie in ihrer Jugend gewesen war, stark, heftig und feurig.

»Nie wieder will ich etwas von euch wissen,« rief sie. »Ich will nicht von euch erlöst werden. Wehe über euch! Ihr wollt Frau und Kinder und Vater und Mutter verlassen, um euch selbst zu retten. Pfui! Ihr seid verrückt, daß ihr eure guten Höfe verlaßt. Ihr seid verführt und verirrt und lauft falschen Propheten nach. Auf euch soll Feuer und Schwefel herabregnen, ihr sollt zugrunde gehen! Wir aber, die wir daheim bleiben, wir werden leben!«



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