Selma Lagerlöf
In Dalarne
Selma Lagerlöf

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Karin, Ingmars Tochter

Es war an einem Vormittag im Herbst. Die Schule hatte angefangen, aber es war gerade Vormittagspause. Der Schulmeister und Gertrud kamen in die Küche, sie setzten sich an den Tisch, und Mutter Stina gab ihnen Kaffee.

Ehe sie ihre Tassen geleert hatten, kam Besuch.

Es war Halvorsson, der kam, ein junger Bauer, der ein Kaufmannsgeschäft unten im Kirchdorf angefangen hatte. Er stammte von Timshof und wurde deshalb gewöhnlich Tims Halvor genannt. Er war ein großer, hübscher Mann, aber er sah niedergeschlagen aus. Mutter Stina bot auch ihm Kaffee an; er setzte sich an den Tisch und begann mit dem Schulmeister zu reden.

Die Hausfrau saß auf dem Gittersofa am Fenster und strickte; sie saß so, daß sie den Weg hinaufsehen konnte. Auf einmal wurde sie dunkelrot und beugte sich vor, um besser zu sehen. Aber sie bemühte sich gleich, so auszusehen wie sonst und sagte ganz leichthin: »Jetzt bekommen wir noch mehr Besuch.« Der Kaufmann konnte gleich hören, daß etwas Ungewöhnliches in ihrem Tone war, er stand auf und sah hinaus. Gertrud wandte sich auch um, sie sah eine große, ein wenig vornüber gebeugte Frau und einen halberwachsenen Jungen auf die Schule zukommen.

»Irre ich nicht, so ist es Karin Ingmarstochter,« sagte Mutter Stina. – »Jawohl, das ist Karin,« sagte der Kaufmann. Er sagte nichts weiter, sondern wandte sich vom Fenster ab und sah sich in der Stube um, als spähe er nach einem Ausgang. Aber nach einer Weile ging er ruhig wieder auf seinen Platz.

Die Sache war nämlich die, daß Tims Halvor im vergangenen Sommer, als der große Ingmar noch lebte, um Karin Ingmarstochter gefreit hatte. Die Freierei hatte sich sehr in die Länge gezogen; da waren viele Wenn und Aber gewesen. Die alte Familie da oben wußte nicht, ob er gut genug war. Nicht, daß das Geld im Wege gewesen wäre, denn Halvor war wohlhabend, aber sein Vater war dem Trunk ergeben gewesen, und sie fürchteten, daß sich dies vererben könne. Aber schließlich war doch bestimmt worden, daß er Karin haben sollte.

Der Hochzeitstag war festgesetzt, und das Aufgebot war beim Pfarrer bestellt. Aber ehe sie zum erstenmal aufgeboten waren, machten Karin und Halvor eine Reise nach Falun, um die Verlobungsringe und das Gesangbuch zu kaufen. Sie waren drei Tage fort, und als sie zurückkamen, sagte Karin zu dem Vater, daß sie sich nicht mit Halvor verheiraten könne. Das einzige, worüber sie sich zu beklagen hatte, war, daß sich Halvor einmal auf der Reise betrunken hatte. Karin war nun bange, daß er so werden könne wie sein Vater. Der große Ingmar sagte, er wolle sie nicht zwingen, und da war es denn mit der Verlobung vorbei.

Aber Halvor geriet ganz außer sich. »Das ist ja eine so große Schmach für mich,« sagte er zu Karin, »daß ich es nicht ertragen kann. Was müssen die Leute von mir denken, wenn du mich so verwirfst. Man kann nicht so gegen einen ehrenhaften Mann handeln.«

Aber Karin war nicht zu erweichen, und Halvor war seit jener Zeit niedergeschlagen und unglücklich gewesen; er konnte das Unrecht nicht vergessen, das ihm die Ingmarssöhne angetan hatten.

Und da kam nun Karin, und hier saß Halvor, und wie sollte das nun gehen?

Soviel war sicher: Von einer Versöhnung konnte keine Rede sein. Karin hatte sich schon im vergangenen Herbst mit Elias Elof Ersson verheiratet. Nachdem der große Ingmar im Frühling gestorben war, wohnten sie und ihr Mann auf dem Ingmarshofe und bewirtschafteten ihn. Der große Ingmar hatte fünf Töchter und einen Sohn hinterlassen. Aber der Sohn war noch so jung, daß er den Hof nicht übernehmen konnte.

Jetzt trat jedoch Karin in die Küche. Sie war erst einige zwanzig Jahre alt, aber sie hatte wohl niemals wirklich jung ausgesehen. An vielen anderen Orten würde man sie sehr häßlich gefunden haben; denn sie artete ihrer Familie nach, und hatte schwere Augenlider, rotes Haar und einen strengen Zug um den Mund. Aber die Schulmeistersleute hatten es gern, daß sie den alten Ingmarssöhnen so sehr glich.

Karin verzog keine Miene, als sie Tims Halvor erblickte, sondern ging langsam und ruhig von einem zum andern und sagte guten Tag. Als sie Halvor die Hand reichte, streckte er die seine aus, und sie berührten einander an den äußersten Fingerspitzen. Karin ging immer ein wenig vornübergebeugt; als sie Halvor gegenüberstand, sah es aus, als senke sie den Kopf noch mehr als sonst, aber Halvor stand höher und aufrechter da, als er zu tun pflegte.

»Nun, Karin, Ihr seid heute aus?« sagte Mutter Stina und setzte ihr den Propststuhl hin. – »Ja, das bin ich,« sagte sie. »Jetzt ist es nicht schwierig zu gehen, seit wir Frost bekommen haben.« – »Ja, es hat über Nacht scharf gefroren,« sagte der Schulmeister.

Aber dann wurde es ganz still in der Stube, niemand hatte mehr etwas zu sagen. Das Schweigen währte mehrere Minuten. Dann erhob sich Halvor, und die anderen zuckten zusammen, als seien sie aus dem Schlafe aufgefahren.

»Na, da muß ich jetzt wohl nach dem Laden zurück,« sagte Halvor. – »Ach, das eilt wohl nicht so,« sagte Mutter Stina. – »Ich jage doch wohl Halvor nicht fort?« sagte Karin. Ihre Stimme klang demütiger als sonst, als sie das sagte.

Tims Halvor richtete sich noch mehr auf, er ging mit einer harten, stolzen Miene umher, reichte allen die Hand und sagte Lebewohl.

Sobald er gegangen, war es, als sei ein Bann gebrochen, und der Schulmeister wußte gleich, was er sagen sollte. Er sah den Knaben an, den Karin mitgebracht hatte; den hatte bisher niemand beachtet. Es war ein kleiner Bursche, er konnte nicht viel älter sein als Gertrud. Er hatte ein helles und weiches Kindergesicht, aber es lag etwas Altmodisches über ihm, und es war nicht schwer zu sehen, welchem Geschlecht er angehörte.

»Mir deucht, Karin kommt mit einem Schuljungen,« sagte der Schulmeister. – »Es ist mein Bruder,« antwortete Karin, »er ist jetzt Ingmar Ingmarsson.« – »Er ist noch ein wenig klein für den Namen,« sagte Storm. – »Ja, Vater starb zu früh.« – »Das ist ein wahres Wort,« sagten der Schulmeister und seine Frau wie aus einem Munde.

»Er hat die Lateinschule in Falun besucht,« sagte Karin, »darum ist er früher noch nicht zum Herrn Schulmeister gekommen.« – »Läßt es sich denn nicht so einrichten, daß er jetzt zum Herbst auch wieder dahin kommt?« – Karin schlug die Augen nieder und seufzte, antwortete aber nicht. »Sie sagten, daß er Begabung zum Lernen hat,« sagte sie. – »Ja, ich fürchte nur, daß ich ihn nichts lehren kann. Er kann gewiß schon ebensoviel wie ich selbst.« – »Ach, der Herr Schulmeister kann doch so viel mehr als so ein Kleiner.«

Wieder trat eine Stille ein, bis sie von neuem begann: »Ich meine nicht nur, daß er in die Schule gehen soll, ich wollte den Herrn Schulmeister und Stina auch fragen, ob er hier wohnen dürfte?«

Der Schulmeister und seine Frau sahen sich ganz verwirrt an, und keines von beiden hatte eine Antwort bei der Hand. »Aber wir haben ja nur so wenig Platz,« sagte Storm. – »Ich dachte, ich könnte vielleicht mit Butter und Milch und Eiern bezahlen,« sagte Karin. – »Nun ja, was das anbetrifft . . .« – »Es ist ja eine große Gefälligkeit,« sagte die reiche Bäuerin.

Aber Mutter Stina begriff, daß Karin nicht um etwas so Sonderbares bitten würde, wenn sie ihrer Hilfe nicht dringend bedurfte. So entschied sich denn die Sache schnell.

»Karin soll wirklich nicht nötig haben, uns lange darum zu bitten,« sagte sie. »Wir wollen alles, was wir können, für die Ingmarssöhne tun.«

»Danke,« sagte Karin.

Mutter Stina und Karin sprachen lange darüber, wie es mit Ingmar eingerichtet werden sollte, aber Storm und Gertrud nahmen den Knaben mit in die Schule, und er setzte sich auf die Bank neben sie. Und den ganzen ersten Tag sagte er kein Wort.

Eine ganze Woche hielt sich Tims Halvor vom Schulhaus fern, als sei er bange, Karin dort wieder zu treffen. Aber eines Vormittags, als es in Strömen regnete, und keine Kunden zu erwarten waren, konnte er es nicht länger aushalten. Eine tiefe Schwermut hatte ihn befallen, es war ihm, als könne er nur gleich hingehen und sich aufhängen. »Ich tauge zu nichts mehr, niemand hat Achtung vor mir,« dachte er und quälte sich selbst, wie er es fortwährend getan hatte, seit Karin ihn abgewiesen hatte. Endlich beschloß er, zu Mutter Stina hinüberzugehen, um ein wenig mit einem freundlichen und fröhlichen Menschen zu plaudern.

So schloß er denn den leeren Laden ab, knöpfte den Mantel fest zu und gelangte durch Sturm und Regen und platschende Wasserlachen nach dem Schulhaus.

Halvor hatte nicht die Absicht gehabt, lange dazubleiben, aber er fühlte sich so wohl, daß er noch da saß, als die Glocke die Vormittagspause einläutete, und Storm mit den beiden Kindern kam, um Kaffee zu trinken.

Sie gingen alle drei auf ihn zu und sagten ihm guten Tag; er stand vor dem Schulmeister auf, aber als Ingmar ihm die Hand reichte, hatte er sich schon wieder gesetzt und sprach so eifrig mit Mutter Stina, daß er es nicht sah. Der Junge blieb einen Augenblick ganz still stehen, dann ging er an den Tisch und setzte sich. Er seufzte ein paarmal, ganz wie seine Schwester an dem Tage geseufzt hatte, als sie da war.

»Halvor ist gekommen, um uns seine neue Uhr zu zeigen,« sagte Mutter Stina, und Halvor zog eine neue silberne Uhr aus der Tasche und zeigte sie. Sie war sehr hübsch, ganz klein, mit einer vergoldeten Blume auf der Kapsel. Der Schulmeister öffnete die Uhr, dann ging er in die Schulstube, um ein kleines Vergrößerungsglas zu holen, das er fest in das Auge klemmte, und betrachtete das Werk. Er geriet in Entzücken und blieb lange stehen, um es zu betrachten und sich darüber zu freuen, wie allerliebst die Räder ineinandergriffen. Er sagte, er habe nie ein so gutes Stück Arbeit gesehen. Schließlich gab er Halvor die Uhr zurück, und der steckte sie in die Tasche, sah aber weder froh noch stolz aus, wie Leute sonst zu sein pflegen, wenn man etwas lobt, was sie sich angeschafft haben.

Ingmar schwieg, während er aß, wie das so seine Art zu sein pflegte, aber als er die Kaffeetasse geleert hatte, fragte er Storm, ob er sich auf Uhren verstehe. – »Ja,« sagte der Schulmeister, »du weißt wohl, daß es nichts gibt, worauf ich mich nicht verstehe.«

Ingmar zog dann eine Uhr heraus, die er in der Westentasche trug; es war ein großer, runder, silberner Zwieback, häßlich und plump anzusehen, namentlich jetzt, wo man eben Halvors Uhr gesehen hatte, und sie hing an einer Kette, die ebenfalls häßlich und plump war. Auf der Kapsel war nicht die geringste Verzierung, sondern nur eine große Beule. Die Uhr war überhaupt sehr mitgenommen. Über den Zeigern war kein Glas mehr, und die Emaille an dem Zifferblatt hatte auch Schaden gelitten.

»Sie steht,« sagte der Schulmeister und hielt sie ans Ohr. – »Ja,« sagte der Junge. »Ich wollte nur gern wissen, ob Herr Schulmeister glaubt, daß sie wieder instand gesetzt werden kann?« – Der Schulmeister nahm die Uhr, und man konnte es inwendig rasseln hören, als ob alle Räder los seien. – »Du hast wohl einen Nagel mit der Uhr eingeschlagen?« sagte er. »Dabei etwas zu machen, kann ich nicht übernehmen.« – »Glaubt Herr Schulmeister, daß Uhrmacher Erik etwas daran machen kann?« – »Nein, nicht mehr als ich. Es ist am besten, wenn du sie nach Falun schickst und ein neues Werk hineinsetzen läßt.« – »Ja, das habe ich auch gedacht,« sagte Ingmar und steckte die Uhr wieder ein.

»Was in aller Welt hast du nur damit gemacht?« fragte der Schulmeister. Der Junge saß einen Augenblick da und schluckte gleichsam etwas herunter. Es war, als stecke ihm das Weinen in der Kehle. »Es war Vaters Uhr,« sagte er. »Sie wurde so, wie sie jetzt ist, als der Balken Vater traf.« Alle wurden plötzlich ganz still und aufmerksam. Der Junge machte eine Anstrengung und fuhr fort:

»Wir hatten gerade Osterferien, so daß ich nach Hause gekommen war, damals, als das geschah, und ich war der erste, der zu Vater hinabkam, als er am Ufer lag. Vater hatte die Uhr in der Hand. ›Jetzt ist es mit mir vorbei, Ingmar,‹ sagte Vater und winkte mich zu sich hin, denn er konnte nicht laut sprechen. ›Ingmar,‹ sagte Vater, ›es tut mir leid, daß die Uhr entzwei ist, denn ich möchte, daß du sie jemand gibst, dem ich einmal unrecht getan habe, und daß du ihn von mir grüßen sollst.‹ Und dann sagte Vater, wer die Uhr haben sollte, und er sagte, ich sollte dafür sorgen, daß sie in Falun instand gesetzt würde, ehe ich sie dem gab, der sie haben sollte. Aber ich kam nie wieder nach Falun, und nun weiß ich nicht, was ich tun soll.«

Der Schulmeister dachte gleich darüber nach, ob er jemanden kenne, der bald nach Falun fahren würde, und der die Uhr mitnehmen könne, aber Mutter Stina unterbrach ihn fast im selben Augenblick. »Wer sollte denn die Uhr haben, Ingmar?« – »Ich weiß nicht, ob ich es sagen darf,« sagte der Junge. – »War es Tims Halvor, der da sitzt?« fragte sie. Ingmar zögerte mit der Antwort. »Ja, er war es,« sagte er leise. – »Dann gib du Halvor die Uhr, so wie sie ist,« sagte Mutter Stina, »das wird ihm am liebsten sein.« – Ingmar erhob sich gehorsam, zog die Uhr heraus und strich einmal mit dem Jackenärmel darüber hin, um sie so hübsch zu machen, wie sie nur werden konnte. Dann ging er mit langen Schritten durch das Zimmer. »Ich soll von Vater grüßen und dir das da geben,« sagte er und reichte ihm die Uhr.

Halvor hatte während der ganzen Zeit schweigend und finster dagesessen, aber als der Knabe jetzt zu ihm hinkam, hielt er die Hand vor die Augen, als ob er nicht sehen wolle. Ingmar stand ziemlich lange da und hielt ihm die Uhr hin. Schließlich sah der Junge zu der Hausfrau hinüber, als wolle er um ihre Hilfe bitten. »Selig sind die Friedfertigen,« sagte die dann. Tims Halvor machte eine Bewegung mit der einen Hand, als wolle er das Geschenk von sich weisen. Dann versuchte auch der Schulmeister, sich ins Mittel zu legen. »Ich meine, Sie können keine bessere Genugtuung verlangen, Halvor,« sagte er. »Ich habe immer gesagt, daß, wenn Ingmar Ingmarsson gelebt hätte, er Ihnen längst die Genugtuung gegeben hätte, die Sie verdienen.«

Sie sahen nun, daß Halvor, fast gegen seinen Willen, mit der Hand, die er nicht vor die Augen hielt, nach der Uhr griff, und sie an sich zog; sobald er sie in der Hand hielt, steckte er sie ganz unter den Rock und die Weste und verbarg sie. »Die Uhr soll ihm schon niemand nehmen,« sagte Storm und lachte, als er sah, wie fest Halvor Rock und Weste über die Uhr knöpfte. Halvor lachte auch, er erhob sich, richtete sich auf und tat einen tiefen Atemzug. Seine Wangen röteten sich, und er sah mit großen, klaren Augen um sich. – »Jetzt, glaube ich, fühlt Halvor, daß ihm ein neues Leben geschenkt ist,« sagte die Frau des Schulmeisters.

Aber Halvor schob nun die Hand unter den Rock und zog seine eigene Uhr heraus. Dann ging er durch die Stube auf Ingmar zu, der sich wieder an den Tisch gesetzt hatte. »Da ich jetzt die Uhr deines Vaters von dir angenommen habe, so sollst du diese von mir annehmen,« sagte er.

Damit legte er die Uhr auf den Tisch und ging seiner Wege, ohne jemand Lebewohl zu sagen.

Den ganzen Tag trieb er sich auf Wegen und Stegen umher. Es kamen ein paar Bauern vom Westhof, um Einkäufe bei ihm zu machen. Sie standen vom Mittag bis zum Abend vor dem Laden und warteten, aber es kam kein Halvor.

Elof Ersson vom Eliashof, der Karin Ingmarstochter geheiratet hatte, war der Sohn eines Geizhalses. Er hatte es schlecht bei seinem Vater gehabt. Als Kind hatte er sich kaum sattessen dürfen, und selbst als erwachsener junger Mann wurde er hart unter dem Daumen gehalten. Sein Vater trieb ihn beständig zur Arbeit an, er hatte nie Erlaubnis gehabt, auch nur zum Tanz zu gehen, und nicht einmal am Sonntag hatte er Ruhe vor der Arbeit gehabt. Und als Elias Elof sich endlich verheiratete, ward er dennoch nicht sein eigener Herr, sondern er mußte nach dem Ingmarshofe ziehen und unter dem Schwiegervater stehen. Und auf dem Ingmarshofe kannte man auch nichts weiter als Arbeit und Sparsamkeit. Aber solange Ingmar Ingmarsson lebte, schien es, als sei Elof Ersson wohl zufrieden, er mühte und plagte sich ab und verlangte nichts Besseres. Die Leute sagten, nun hätten die Ingmars einen Schwiegersohn nach ihrem Sinne bekommen; denn Elof Ersson wisse nicht, daß es etwas anderes in der Welt gäbe als Arbeit.

Aber sobald der große Ingmar tot war, fing der Schwiegersohn an zu trinken und ein wildes Leben zu führen. Er machte die Bekanntschaft all der lustigen Burschen in der Harde, lud sie zu sich auf den Ingmarshof oder trieb sich mit ihnen in Spielstuben oder Wirtschaften herum. Er hörte ganz auf zu arbeiten und betrank sich jeden Tag, und im Verlauf von wenigen Monaten wurde er ein elender Trunkenbold.

Als seine Frau, Karin Ingmanstochter, ihn zum erstenmal betrunken sah, wurde sie wie versteinert. »Das ist Gottes Strafe, weil ich Halvor unrecht getan habe,« dachte sie gleich.

Ihrem Manne gegenüber hatte sie nicht viele Vorwürfe oder Ermahnungen. Sie sah bald, daß er ein Baum war, dem die Axt schon an die Wurzel gelegt war, und daß sie nie weder Stütze noch Schatten von ihm haben würde.

Aber Karin Ingmarstochters Schwestern waren nicht so klug wie sie. Sie schämten sich des wilden Lebens und konnten sich nicht darein finden, daß man vom Ingmarshofe bis auf die Landstraße hinaus Lärmen und Singen hören sollte. Bald machten sie sich lustig über ihn, bald ermahnten sie ihn, und obwohl der Schwager eigentlich ein gutmütiger Mann war, wurde er doch zuweilen zornig. Und es gab viel Unfrieden im Hause.

Karin dachte jetzt nur daran, ihre Schwestern aus dem Hause zu schaffen, so daß sie diesem Elend, in dem sie selbst lebte, entrinnen könnten. Im Laufe des Sommers stattete sie die Hochzeit der beiden Ältesten aus, die beiden Jüngsten schickte sie nach Amerika, wo sie reiche Verwandte hatten.

Allen diesen Schwestern wurde ihr Erbteil, das sich auf zwanzigtausend Kronen belief, ausgezahlt. Karin hatte den Hof bekommen, aber es war bestimmt, daß der junge Ingmar ihn mit seinen zwanzigtausend Kronen einlösen sollte, sobald er mündig wurde, und dann sollten Karin und Elias Elof anderswo hinziehen.

Es war merkwürdig, daß Karin, die so verlegen und unsicher aussah, die Kraft hatte, so viele Vögel aus dem Nest hinauszusenden, ihnen Männer und Ausstattungen und Fahrkarten nach Amerika zu verschaffen. Sie mußte dies alles ganz allein besorgen. Von ihrem Manne hatte sie nicht die geringste Hilfe.

Aber die meisten Sorgen machte Karin der Bruder, er, der jetzt Ingmar Ingmarsson war. Er lehnte sich mehr gegen Karins Mann auf als irgendeins der anderen Geschwister. Und zwar nicht mit Worten, sondern mit Taten. Eines Tages schüttete er all den Branntwein aus, den Elof Ersson ins Haus geschafft hatte, und ein anderes Mal ertappte ihn der Schwager dabei, daß er Wasser in seine Getränke goß.

Als es Herbst wurde, hielt Karin darauf, daß Ingmar dies Jahr, wie schon früher, wieder nach der Lateinschule reisen sollte, aber der Mann, der sein Vormund war, widersetzte sich dem ganz bestimmt.

»Ingmar soll Bauer sein so wie ich und sein Vater und mein Vater,« sagte Elias. »Was hat er in der Lateinschule zu suchen? Zum Winter gehen er und ich in den Wald und setzen Kohlenmeiler, das ist die beste Gelehrsamkeit, die er erwerben kann. Als ich in seinem Alter war, lag ich den ganzen Winter hindurch in der Köhlerhütte.«

Karin konnte ihn nicht dazu bringen, seine Ansicht zu ändern, sondern mußte sich darein finden, daß Ingmar zu Hause blieb.

Elias Elof gab sich jetzt Mühe, Ingmar zu gewinnen. Namentlich nahm er ihn gern mit, wenn er ausfuhr. Der Junge tat es ungern; er wollte nicht mit zu den Trinkgelagen des Schwagers. Da schwur Elias Elof, daß er nicht weiter als bis zur Kirche oder bis zum Kaufmann mitfahren solle, hatte er Ingmar jedoch erst auf dem Wagen, so fuhr er in der Harde herum, hinab zu den Schmieden bei dem Bergsaanaer Sägewerk oder nach dem Gasthaus in Karmsund.

Karin freute sich, daß ihr Mann den Jungen mitnahm. Dann war sie beruhigt darüber, daß er nicht in einem Graben am Wege liegen blieb oder die Pferde zuschanden fuhr.

Aber einmal, als Elias Elof um acht Uhr des Morgens nach Hause kam, saß Ingmar neben ihm im Wagen und schlief. »Komm und hilf mir ihn hineintragen,« sagte Elias zu Karin. »Der arme Junge hat sich betrunken. Er kann nicht allein gehen.«

Karin war so entsetzt, daß sie förmlich zusammensank. Sie mußte sich einen Augenblick auf die Treppe setzen, ehe sie hingehen und ihm vom Wagen herabhelfen konnte. Als sie ihn nun aufhob, sah sie, daß er nicht schlief, sondern kalt und bewußtlos war wie eine Leiche. Karin nahm ihn auf ihren Arm, trug ihn in die kleine Stube, schloß sich mit ihm ein und versuchte, ihn wieder ins Leben zurückzurufen.

Nach einer Weile kam sie in die gute Stube hinaus, wo Elias saß und frühstückte. Karin trat dicht an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. – »Es ist gut, daß du noch einmal ordentlich zulangst,« sagte sie, »denn hast du meinen Bruder totgetrunken, dann kannst du bald eine geringere Kost bekommen als hier auf dem Ingmarshofe.« – »Wie du redest,« sagte der Mann, »so ein klein wenig Branntwein kann ihm doch wohl nicht schaden.« – »Aber es ist doch so, wie ich sage,« sagte Karin und sie krallte ihre harten mageren Finger in die Schultern des Mannes. »Stirbt er, so bekommst du deine zwanzig Jahre Zuchthaus, Elias.«

Als Karin wieder zu dem Knaben hineinkam, war er schon zum Bewußtsein gekommen, aber er war noch ganz verstört und konnte kein Glied rühren. Er litt sehr. «Glaubst du, daß ich sterbe, Karin?« sagte er. – »Nein, bewahre,« sagte sie und setzte sich neben ihn. – »Ich wußte nicht, was es war, das sie mir gaben,« sagte er. – »Gott sei Dank dafür,« sagte Karin ernsthaft. – »Wenn ich sterbe, so schreibe das an die Schwestern,« sagte der Junge, »ich wußte nicht, daß es Spiritus war.« – »Ja,« sagte Karin. – »Ich wußte es wirklich nicht, ich schwöre es dir.«

Ingmar lag den ganzen Tag in Fieberphantasien. »Wenn du es nur nicht Vater erzählst,« sagte er zu der Schwester. – »Nein, niemand erzählt es Vater,« sagte Karin. – »Aber wenn ich nun sterbe, bekommt Vater es ja doch zu wissen, und ich muß mit Schande vor Vater stehen.« – »Es war ja nicht deine Schuld,« sagte Karin. – »Vater meint vielleicht, ich hätte mich in acht nehmen sollen; ich hätte mich vor allem in acht nehmen sollen, was mir Elias gab.«

»Glaubst du nun, daß die ganze Gemeinde weiß, daß ich betrunken gewesen bin?« sagte er. – »Was sagen die Knechte und was sagt der starke Ingmar?« – »Sie sagen nichts,« sagte Karin. – »Du mußt ihnen erzählen, wie es zugegangen ist. – Siehst du, sie hatten die ganze Nacht getrunken, und ich saß da und schlief halb auf einer Bank. Es war im Kruge in Karmsund. Da kam Elias und weckte mich; er sagte sehr freundlich: »Wach auf, Ingmar, dann sollst du etwas haben, um dich zu erwärmen. Trink dies jetzt, es ist nichts weiter als warmes Wasser mit Zucker.« – Und mich fror, als ich erwachte, und als ich das kostete, was er mir reichte, konnte ich nichts anderes schmecken, als daß es warm und süß war. Und dann war es etwas anderes gewesen, was er für mich zusammengemischt hatte. Und was wird Vater nun sagen?«

Karin öffnete die Tür. Elias saß noch da drinnen; sie meinte, es könne ihm gut sein, es zu hören.

»Wenn Vater nur noch lebte, Karin, wenn Vater nur noch lebte!« – »Ja, was dann, Ingmar?« – »Glaubst du nicht auch, daß er ihn dann totschlagen würde?« – Elias brach da draußen in ein Gelächter aus, und der Knabe wurde so blaß, als er ihn lachen hörte, daß Karin sich beeilte, die Tür zu schließen.

Nach diesem Vorfall wurde Elias Elof doch so zahm, daß er sich nicht widersetzte, als Karin Ingmar zu den Schulmeistersleuten brachte.

* * *

In der ersten Zeit, nachdem Tims Halvor die Uhr bekommen hatte, war sein Laden immer voll von Leuten. Da war kein Bauer, der in das Kirchdorf hinabfuhr, ohne sich etwas im Laden zu schaffen zu machen, um von Halvor die Geschichte von Ingmar Ingmarssons Uhr zu hören. Die Bauern lungerten stundenlang über dem Ladentisch in ihren langen weißen Pelzen und wandten Halvor ihre ernsten, runzeligen Gesichter zu, während er erzählte. Zuletzt holte dann Halvor die Uhr heraus und zeigte ihnen die verbeulte Kapsel und das zerbrochene Uhrglas. – »So, also da hat der Stoß getroffen,« sagten die Bauern, und es war, als sähen sie die ganze Szene vor sich, damals, als Ingmar verunglückte. – »Ja, es ist eine große Sache für dich, Halvor, die Uhr zu haben.«

Wenn ihnen Halvor die Uhr zeigte, ließ er sie nie aus den Händen, sondern hielt sie fortwährend an der Kette fest. Er gab sie nicht einen einzigen Augenblick von sich.

Eines Tages stand Halvor wie gewöhnlich mit einer Schar Bauern um sich da. Er erzählte und erzählte; schließlich wurde die Uhr hervorgeholt, und gleich kam es wie eine Andacht über sie, und es war fast ganz still, während die Uhr von dem einen zu dem anderen wanderte.

Gerade während dies vor sich ging, kam Elias in den Laden, aber die Uhr legte so starken Beschlag auf aller Aufmerksamkeit, daß niemand ihn beachtete. Auch er hatte von der Uhr seines Schwiegervaters reden hören und begriff sogleich, was hier vor sich ging. Er war nicht neidisch auf Halvor, er fand nur, daß es lächerlich sei, ihn und die anderen so andächtig über einer alten, unbrauchbaren, silbernen Uhr stehen zu sehen.

Elias schlich sich hinter die, die über den Tisch gebeugt standen, tat einen raschen Griff, erfaßte die Uhr und zog sie an sich. Es war nur ein Scherz von Elias, er hatte nicht die Absicht, Halvor die Uhr wegzunehmen, er wollte ihn nur ein wenig foppen.

Halvor wollte die Uhr wiederhaben, aber Elias ging rückwärts und hielt sie hoch in die Luft, wie man einem Hund ein Stück Zucker hinhält. Da stützte Halvor die Hand auf den Tisch und schwang sich hinüber. Er sah so zornig aus, daß Elias bange vor ihm wurde und auf die Tür zustürzte, statt stehen zu bleiben und ihm die Uhr zu geben.

Vor der Tür befand sich eine Holztreppe mit ausgetretenen Stufen. Hier geriet Elias mit dem Fuß in ein Loch. Er strauchelte und blieb liegen. Halvor stürzte sich über ihn, entriß ihm erst die Uhr und versetzte ihm dann ein paar derbe Fußtritte.

»Du solltest nicht so hart zuschlagen,« sagte Elias. »Du solltest lieber erst nachsehen, was mit meinem Rücken los ist.«

Halvor hörte auf zu schlagen, aber Elias rührte weder Hand noch Fuß, um sich zu erheben. – »Hilf mir auf,« sagte Elias. – »Du kannst dir wohl selbst aufhelfen,« sagte Halvor, »wenn du den Rausch ausgeschlafen hast.« – »Ich bin nicht betrunken,« sagte Elias, »aber als ich auf die Treppe hinauskam, war mir, als komme der große Ingmar auf mich zugegangen, um mir die Uhr wegzunehmen, und da fiel ich so arg.«

Halvor beugte sich nieder, um den Ärmsten aufzuheben, der vor ihm lag. Dann mußten sie Elias nach Hause fahren; sein Rücken war beschädigt, so daß er nie wieder würde gehen können.

Seit dieser Zeit lag Elof Ersson immer zu Bett; er war lahm und konnte sich nicht rühren. Aber sprechen konnte er, und er lag den ganzen Tag da und bettelte um Branntwein.

Der Doktor hatte Karin Ingmarstochter streng verboten, dem Mann Getränke zu geben, denn in dem Falle würde er sich in kurzer Zeit tottrinken. Da versuchte denn Elias, sich das, was er verlangte, zu erschmuggeln, indem er schrie und brüllte, namentlich des Nachts. Er gebärdete sich wie ein Wahnsinniger und störte die Ruhe des ganzen Hauses.

Dies war Karins schwerstes Jahr. Der Mann quälte sie oft so, daß sie glaubte, sie könne es nicht ertragen. Er füllte den Hof mit bösen, giftigen Worten und mit Flüchen, so daß es war wie eine Hölle.

Da bat Karin die Schulmeistersleute, Ingmar ganz dazubehalten. Sie wollte den Bruder nicht einen einzigen Tag im Hause haben, nicht einmal zu Weihnachten.

Alles Gesinde auf dem Ingmarshofe war entfernt verwandt mit den Ingmars. Sie waren alle ihr ganzes Leben auf dem Hofe gewesen. Wären sie nicht so mit den Ingmarssöhnen verwachsen gewesen, hätten sie es nie aushalten können, dazubleiben. – Da waren nicht viele Nächte, in denen Elias sie ruhig schlafen ließ, und immer ersann er etwas Neues, um sie und Karin so zu plagen, daß sie schließlich gezwungen waren, seinen Bitten nachzugeben.

In diesem Elend lebte Karin einen Winter, einen Sommer und noch einen Winter.

* * *

Da war eine Stelle, wohin Karin sich zurückzuziehen pflegte, um allein zu sein und über ihr Unglück nachzugrübeln. Es war eine schmale Bank hinter dem kleinen Hopfengarten; da saß sie oft zusammengekauert, die Ellenbogen auf den Knien und das Kinn in die Hände gestützt, und sah über die Landschaft hinaus, ohne irgend etwas zu sehen. Man hatte sonst eine weite Aussicht von hier. Von dem Ort, wo sie saß, erstreckten sich die Kornfelder bis ganz hinüber an den Wald, mit den Abhängen und dem Klackberge dahinter.

Dort saß Karin an einem Aprilabend. Sie fühlte sich müde und mutlos, wie das oft im Frühling der Fall ist, wenn der Schnee halb geschmolzen, feucht und schmutzig ist, und die Erde noch nicht von dem Frühlingsregen reingespült wurde. Die Sonne sengte, aber der Nordwind sauste auch frei um sie her, denn der schirmende Hopfen war noch nicht aus der Erde aufgeschossen, sondern lag noch unter einem Teppich von Tannenzweigen und schlief seinen Winterschlaf. Ein scharfer Wind wehte, allerlei Abfälle, Papierfetzen und dürres Gras wirbelten über das Feld hin. Der Taunebel hing dicht an den Bergen, die Wipfel der Birken fingen an, sich braun zu färben, aber am Waldessaume lag noch eine hohe Schneekante. Jetzt wurde es wohl bald wirklich Frühling, und Karin fühlte sich noch müder als sonst, wenn sie daran dachte; es war ihr, als könne sie nicht noch einen solchen Sommer überleben.

Sie dachte daran, wie es sich nun alles überstürzen würde: das Säen und die Heuernte, die Frühjahrsbäckerei und die Frühlingswäsche, das Weben und Nähen. Es war unmöglich, mit allem dem fertig zu werden.

»Und es macht ja nichts, wenn ich sterbe,« sagte sie leise. »Ich habe ein Gefühl, als lebte ich für nichts weiter, als ihn daran zu verhindern, sich totzutrinken.«

Plötzlich sah Karin auf, als habe sie einer gerufen. Ihr gerade gegenüber stand Halversson; er hatte sich gegen den Zaun gelehnt und sah sie an.

Sie wußte nicht, wann er gekommen war. Er sah so aus, als habe er lange dagestanden.

»Ich dachte mir wohl, daß du hier säßest,« sagte Halvor. – »Hast du dir das gedacht?« – »Ja, ich weiß noch aus alten Zeiten, daß du dich hier zu verstecken pflegtest, wenn du eine müßige Stunde hattest, um dazusitzen und dich zu grämen.« – »Ich hatte damals nicht viel Grund mich zu grämen,« sagte Karin. – »Den Gram, den du damals nicht hattest, den schafftest du dir selbst.«

Als Karin Halvor nun sah, meinte sie, daß er sie dumm finden müsse, weil sie ihn nicht geheiratet hatte, so ein schöner und stattlicher Mann, wie er war. »Nun hat er mich da, wo er mich haben will,« dachte sie. »Nun ist er gekommen, um sich lustig über mich zu machen.«

»Ich bin da drinnen gewesen und habe mit Elias gesprochen,« sagte Halvor. »Mit ihm wollte ich eigentlich reden.«

Karin antwortete nicht, sie saß steif und aufrecht da, mit niedergeschlagenen Augen und gekreuzten Händen, und wartete nur auf all den Hohn, mit dem Halvor sie jetzt überschütten würde.

»Ich sagte zu ihm,« fuhr Halvor fort, »daß ich fände, ich sei mit schuld an seinem Unglück, weil er daheim bei mir zu Schaden gekommen ist.« Halvor hielt inne und wartete gleichsam darauf, daß sie ein Zeichen der Billigung oder der Mißbilligung machen würde, aber Karin rührte sich nicht. »Darum fragte ich ihn,« sagte Halvor, »ob er nicht eine Weile zu mir ins Haus ziehen wolle. Es könne doch immer eine Veränderung für ihn sein, und er sähe dort mehr Menschen als hier.«

Nun schlug Karin die Augen auf, im übrigen aber blieb sie ganz regungslos sitzen.

»Wir haben verabredet,« sagte Halvor, »daß du ihn morgen zu mir hinabfahren lassen solltest. Ich weiß, daß er kommen will, denn er glaubt, er könne sich bei mir Branntwein verschaffen. Aber davon ist nicht die Rede, Karin, das wirst du wohl verstehen. Nicht das geringste mehr bei mir als bei dir. Dann kommt er also morgen. Er soll die kleine Stube hinter dem Laden haben, und ich habe ihm versprochen, daß die Tür offenstehen soll, damit er alle, die kommen, sehen kann.«

Bei Halvors ersten Worten dachte Karin, ob er sich dies wohl ausgedacht habe, um sie zu verhöhnen. Aber nach und nach ward es ihr klar, daß es sein Ernst war.

Karin hatte nun immer geglaubt, daß Halvor nur um sie gefreit habe, weil sie reich und von guter Familie war. Sie hatte nie an die Möglichkeit gedacht, daß er sie um ihrer selbst willen lieb haben könne. Sie wußte wohl, daß sie nicht zu den Mädchen gehörte, die den Männern gefallen. Sie selbst war auch weder in Halvor noch in Elias verliebt gewesen.

Aber als Halvor kam und ihr diese schwere Last tragen helfen wollte, die ihr jetzt auferlegt war, ward Karin ganz überwältigt von etwas so Großem und Unfaßbarem.

Halvor mußte sie also lieben, ja, er mußte sie lieben, wenn er so kam und ihr helfen wollte.

Karins Herz begann plötzlich heftig und unruhig zu pochen. Sie erwachte zu etwas, das sie nie zuvor empfunden hatte. Sie wußte nicht, was es war, ehe es ihr plötzlich klar wurde, daß Halvors Güte ihren erfrorenen Sinn erwärmt hatte, so daß die Liebe zu ihm jetzt in ihr aufzuflammen begann.

Halvor fuhr fort, ihr seinen Plan zu erklären – er fürchtete, daß sie Einwendungen machen würde. »Es ist auch ein Jammer für Elias,« sagte er, »er hat ja auch eine Veränderung nötig, und so schwierig, wie er gegen dich gewesen ist, wird er gegen mich nicht werden. Es ist etwas ganz anderes, wenn ein Mann im Hause ist, vor dem er sich fürchtet.«

Karin wußte nicht, was sie tun sollte; es war ihr, als könne sie keine Bewegung machen oder kein Wort sagen, ohne daß Halvor merken würde, daß sie ihn liebte. Und etwas mußte sie doch sagen.

Schließlich schwieg Halvor und blieb stehen und sah sie an.

Karin erhob sich gleichsam widerwillig, ging auf Halvor zu und streichelte ihm leise die Hand.

»Gott segne dich, Halvor,« sagte sie mit gebrochener Stimme. »Gott segne dich!«

Wie vorsichtig sie auch war, mußte Halvor doch etwas gemerkt haben; denn er erfaßte schnell ihre Hände und zog sie an sich. – »Nein, nein,« rief sie erschreckt, riß sich los und lief schnell von dannen.

* * *

So zog denn Elias zu Halvor hinab und lag den ganzen Sommer in der Stube hinter dem Laden. Er sollte Halvor jedoch nicht lange zur Last fallen, denn er starb schon im Herbst.

Gleich darauf sagte Mutter Stina zu Halvor: »Jetzt mußt du mir eins versprechen.« Halvor zuckte zusammen und sah auf. – »Du mußt mir versprechen, Geduld mit Karin zu haben.« – »Ja, natürlich werde ich Geduld haben,« erwiderte Halvor verwundert. – »Ja, sie ist ja wert zu gewinnen, selbst wenn man sieben lange Jahre auf sie warten muß.«

Aber es war nicht so leicht für Halvor, Geduld zu üben. Denn bald hörte er davon reden, daß der eine und bald, daß der andere um sie würbe. Das begann schon vierzehn Tage nach Elias Begräbnis.

Eines Sonntagsnachmittag saß Halvor vor seinem Hause und betrachtete die Leute, die des Weges daherkamen. Er fand, daß ungewöhnlich viele feine Wagen nach dem Ingmarshofe hinabfuhren. In einem davon saß einer von den Inspektoren des Bergsaanaer Sägewerks, dann kam der Sohn des Gastwirts aus Karmsund, schließlich kam Berger Sven Person, ein Bauer aus dem benachbarten Kirchsprengel. Er war der reichste Bauer in Westdalarne, ein kluger und hochangesehener Mann. Jung war er freilich nicht mehr. Er war zweimal verheiratet gewesen und war jetzt wiederum Witwer.

Als Berger Sven Person gefahren kam, konnte Halvor nicht länger stillsitzen. Er begann langsam die Straße hinabzugehen, und bald war er über die Brücke gelangt und auf die andere Seite des Flusses, wo der Ingmarshof lag. »Ich möchte wohl wissen, wo alle die Wagen hin wollen,« sagte er. Er folgte den Spuren und während er so ging, wurde er eifriger und eifriger. »Ich weiß, daß es dumm ist,« sagte er; er dachte an Mutter Stinas Warnung. »Ich will nur bis an das Tor gehen und sehen, was sie da oben vorhaben.«

Berger Sven Person und ein paar andere Männer saßen in der guten Stube auf dem Ingmarshof und tranken Kaffee. Ingmar Ingmarsson, der noch immer im Schulhause wohnte, war an diesem Sonntag zu Hause. Er saß mit ihnen am Tische und mußte den Wirt machen, denn Karin war nicht in der Stube; sie hatte sich damit entschuldigt, daß sie in der Küche etwas zu tun habe, da alle Mädchen in das Missionshaus hinabgegangen waren, um den Schulmeister reden zu hören.

Totenstille herrschte in der Stube. Sie tranken alle ihren Kaffee, ohne ein Wort zu sagen. Die Freier waren untereinander fast fremd, und sie warteten alle drei auf die Gelegenheit, in die Küche hinauszugehen und allein mit Karin zu reden.

Da tat sich die Tür auf, und noch ein Gast trat ein. Ingmar Ingmarsson ging ihm entgegen und führte ihn an den Tisch. »Das ist Tims Halvorsson,« sagte er zu Berger Sven Person. Berger Sven Person erhob sich nicht, er grüßte nur mit einer Handbewegung und sagte in einem scherzhaften Ton: »Das ist ja ergötzlich, einen so bekannten Mann zu treffen!« Ingmar Ingmarsson setzte Halvor einen Stuhl hin und machte dabei so viel Geräusch, daß Halvor nicht zu antworten brauchte.

Von dem Augenblick an, als Halvor kam, wurden alle Freier redselig und prahlerisch. Sie fingen an, einander zu loben und zu schmeicheln, es war, als seien sie sich darüber einig, zusammenzuhalten, bis sie Halvor aus dem Spiel hatten. »Es ist doch ein famoses Pferd, das der Herr Gemeindevorsteher heute vorgespannt hatte,« begann der Inspektor. Berger Sven Person ging auf das Spiel ein und sprach von einem Bären, den der Inspektor im letzten Winter geschossen hatte. Darauf sprachen sie beide von dem neuen Wohnhaus, das der Gastwirt in Karmsund gebaut hatte und lobten es sehr. Schließlich vereinigten sie sich alle drei und rühmten Berger Sven Persons Reichtum mit großen Worten. Sie waren sehr beredt, und bei jedem Wort ließen sie Halvor wissen, daß er ein zu geringer Mann sei, um daran zu denken, sich mit ihnen zu messen. Halvor kam sich sehr unbedeutend vor und bereute bitter, daß er gekommen war.

Karin kam jetzt herein und bot wieder Kaffee an. Sobald sie Halvor sah, dachte sie bei sich, wie schlecht es sich doch ausnehme, daß er jetzt gleich nach dem Todesfall zu ihr kam. Wenn er solche Eile hatte, würden die Leute wohl sagen, daß er Elias nicht gepflegt habe, wie er es hätte tun müssen, um ihn bald los zu werden und sie, Karin, zu bekommen.

Sie hätte es am liebsten gesehen, wenn er zwei oder drei Jahre gewartet hätte, ehe er kam, das wäre lange genug gewesen, um den Leuten begreiflich zu machen, daß er nicht aus Ungeduld schlecht an Elias gehandelt hatte. »Warum hat er es denn so eilig« dachte sie, »er muß doch wissen, daß ich keinen anderen als ihn haben will.«

Als Karin hineinkam, entstand wieder tiefes Schweigen in der Stube und niemand hatte für etwas anderes Gedanken, als acht zu geben, wie sie und Halvor einander begrüßten. Es war nichts weiter, als daß sich ihre Fingerspitzen berührten. Als der Gemeindevorsteher dies sah, machte er seiner Freude Luft in einem durchdringenden Pfeifen, der Inspektor aber stimmte ein lautes Gelächter an. Halvor wandte sich ruhig nach ihnen um: »Worüber lacht der Herr Inspektor?« fragte er leise. Der Inspektor hatte keine Antwort zur Hand. Er wollte nichts Verletzendes sagen, solange Karin im Zimmer war. »Er denkt an einen Jagdhund, der den Hasen aufgestöbert hat, aber andere ihn schießen läßt,« sagte der Sohn des Wirtes mit einer Anspielung.

Karin stand da und schenkte Kaffee ein; sie war dunkelrot. Jetzt sagte sie entschuldigend: »Berger Sven Person und ihr anderen müßt mit Kaffee allein fürlieb nehmen; wir bieten hier im Hause nie mehr geistige Getränke an.« – »Das tue ich bei mir zu Hause auch nicht,« sagte der Gemeindevorsteher. Der Inspektor und der Gastwirt schwiegen, aber sie waren sich klar darüber, daß der Gemeindevorsteher einen großen Schritt vorgerückt war.

Der Gemeindevorsteher begann sofort über die Enthaltsamkeitsfrage und ihren Nutzen zu reden. Karin blieb stehen und hörte es mit an; sie war einig mit ihm in allem, was er sagte. Der Bauer sah sofort ein, daß das ein Weg war, sie zu gewinnen, und erging sich mit großer Weitläufigkeit über Branntwein und Trunkenheit. Karin erkannte all die unausgesprochenen Gedanken wieder, die sie über diese Sache während des letzten Jahres gehabt hatte, und freute sich, daß ein so mächtiger und kluger Mann sie teilte.

Mitten in der Unterhaltung sah der Gemeindevorsteher zu Halvor hinüber. Er saß verdrossen und mürrisch da, die Tasse stand unberührt vor ihm. – »Freilich ist es ja hart für ihn,« dachte Berger Sven Person, »namentlich, wenn es wahr ist, was die Leute sagen, daß er bei Elias ein wenig nachgeholfen hat. Im Grunde war es ja ein gutes Werk, Karin von dem schrecklichen Menschen zu befreien, der zu nichts nütze war.« Und weil er meinte, daß er das Spiel fast gewonnen hatte, fühlte er sich freundlich gegen Halvor gestimmt. Er erhob seine Kaffeetasse, hielt sie Halvor hin und sagte: »Prost, Halvor, du bist Karin sicher eine gute Stütze gewesen, indem du dich des Schweinekerls annahmst, mit dem sie verheiratet war.« – Halvor blieb ruhig sitzen, starrte ihm gerade ins Gesicht und dachte darüber nach, was er dazu sagen sollte. Aber der Inspektor brach wieder in ein Gelächter aus. »Ja, eine gute Stütze,« lachte er, »wahrlich eine gute Stütze.« Der Gastwirtssohn lächelte und wiederholte: »Ja, das sollte ich meinen, eine wirklich gute Stütze!«

Ehe sie noch ausgelacht hatten, war Karin verschwunden, wie ein Schatten glitt sie zur Küchentür hinaus.

Karin blieb hinter der Tür stehen, nicht weiter entfernt, als daß sie alles hören konnte, was in der guten Stube gesagt wurde. Sie war nur böse auf Halvor, weil er zu früh gekommen war. Auf die Weise kam es ja so, daß sie ihn nie heiraten konnte. Die Verleumdung war ja schon im Gange. »Ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll, ihn noch einmal zu verlieren,« dachte sie und preßte die Hand gegen das Herz.

Zu Anfang war in der guten Stube alles still, dann hörte sie, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde und wie sich jemand erhob. – »Willst du schon gehen, Halvor?« fragte der junge Ingmar. – »Ja,« antwortete Halvor, »ich kann nicht länger bleiben. Du mußt Karin Ingmarstochter von mir grüßen und ihr Lebewohl sagen.« – »Du kannst ja zu ihr in die Küche hinausgehen und es ihr selber sagen.« – »Nein,« hörte sie Halvor jetzt erwidern. »Wir beide haben miteinander ausgeredet.«

Karins Herz begann zu pochen, und die Gedanken jagten sich so eilig wie nie zuvor. Jetzt war Halvor böse auf sie, und darüber konnte sich niemand wundern. Sie hatte kaum gewagt, ihm die Hand zu geben, und als die anderen ihn verhöhnten, hatte sie ihn nicht verteidigt, sondern geschwiegen und sich von dannen geschlichen.

Nun glaubte er, daß sie ihn nicht liebte, nun ging er und kam nie wieder.

Nein, sie wußte nicht, wie sie sich so hatte benehmen können, nach alledem, was Halvor für sie getan hatte.

Plötzlich war es, als höre sie ihres Vaters Worte, daß die Ingmarssöhne sich nicht an die Menschen zu kehren brauchten, sie brauchten nur Gottes Wege zu gehen.

Karin öffnete schnell die Tür wieder und stand vor Halvor, ehe er noch zur Stube hinausgelangt war.

»Gehst du schon, Halvor? Ich glaubte, du würdest Abendbrot mit uns essen.« Halvor stand da und starrte sie an; sie war wie verwandelt, rot und warm, und es lag etwas Zärtliches und Rührendes über ihr, wie er es nie zuvor gesehen hatte. – »Es ist meine Absicht, zu gehen und nie wiederzukommen,« sagte Halvor. Er begriff nicht, was sie wollte. – »Setz' dich jetzt und trink' deinen Kaffee, Halvor,« sagte Karin. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn an den Tisch. Sie wurde rot und bleich bei dieser Wanderung, der Mut verließ sie mehrmals, aber sie hielt sich, obwohl Hohn und Verachtung das bitterste waren, was sie kannte. »Jetzt soll er wenigstens sehen, daß ich die Last mit ihm teilen will,« dachte sie.

»Berger Sven Person und ihr anderen,« sagte Karin, »Halvor und ich haben noch nicht über diese Dinge geredet, da ich ja erst so kürzlich Witwe geworden bin; aber nun glaube ich doch, es ist am besten, daß ihr alle es erfahrt, daß ich mich lieber mit Halvor als mit einem von euch anderen verheiraten will.« Sie hielt inne, denn ihre Stimme zitterte. »Die Leute mögen nun hierüber sagen, was sie wollen, aber Halvor und ich haben nichts Böses getan.«

Als sie ausgeredet hatte, trat Karin näher an Halvor heran, als wolle sie Schutz gegen alle die bösen Worte suchen, die sie nun zu hören bekommen würde.

Alle schwiegen eine Weile, hauptsächlich über Karin Ingmarstochter, die mehr aussah wie ein junges Mädchen, denn je zuvor in ihrem Leben.

Halvor sagte mit zitternder Stimme: »Als ich deines Vaters Uhr bekam, Karin, glaubte ich, ich könne nie etwas Größeres erleben, aber das, was du jetzt getan hast, glaube ich, ist das Größte, was ein Mann erleben kann.«

Aber Karin lauschte mehr nach den Worten der anderen als nach Halvor; die Angst verließ sie nicht.

Da erhob sich Berger Sven Person – er war in vieler Beziehung ein ausgezeichneter Mann. – »Dann müssen wir alle Karin und Halvor Glück hierzu wünschen,« sagte er freundlich, »denn das wissen alle, daß der, den Karin Ingmarstochter erwählt, ohne Makel und Tadel ist.«

* * *


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