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In der Nacht, wo die Jugend bei dem starken Ingmar tanzte, war Halvor nicht zu Hause, und Karin Ingmarstochter lag allein in der Kammer. Mitten in der Nacht hatte Karin einen häßlichen Traum. Es war ihr, als sei Elias noch am Leben und halte ein großes Trinkgelage ab. Sie hörte ihn drinnen in der guten Stube, wo er mit Gläsern klirrte, laut lachte und Trinklieder sang.
Es kam ihr vor, als wenn der Lärm, den er und seine Kameraden machten, schlimmer und schlimmer werde, und schließlich klang es, als zerschlügen sie Tische und Bänke, und sie erschrak so, daß sie erwachte.
Aber obwohl Karin wach war, fuhr der Lärm um sie her fort. Die Erde bebte, die Fenster klirrten, die Dachpfannen flogen von den Dächern, der alte Birnbaum ward mit seinen steifen Zweigen gegen die Mauer gepeitscht.
Es war, als bräche der Morgen des jüngsten Tages an.
Gerade, als das Getöse seinen Höhepunkt erreicht hatte, zersprang eine Fensterscheibe, und die Glasscherben flogen klirrend auf den Boden. Ein heftiger Windstoß jagte kreischend durch die Stube, und es war Karin, als höre sie jemand ihr gerade ins Ohr hineinlachen, mit demselben Lachen, das sie eben erst im Traum gehört hatte.
Karin glaubte, daß sie sterben müsse. Ein so furchtbares Entsetzen hatte sie noch nie zuvor empfunden. Das Herz stand ihr still, und ihr ganzer Körper war kalt und steif wie Eis.
Der Lärm hörte jedoch schnell auf, und Karin kam wieder zu sich. Die kalte Nachtluft strömte in die Stube, und als sie eine Weile dagelegen hatte, beschloß sie, aufzustehen und das Loch in der Fensterscheibe zu verstopfen. Aber als sie aus dem Bette steigen wollte, versagten ihr die Beine, und sie bemerkte, daß sie nicht gehen konnte.
Karin rief nicht um Hilfe, sondern legte sich ganz still nieder. »Wenn ich mich erst beruhigt habe, werde ich schon wieder gehen können,« dachte sie. Nach einer Weile versuchte sie wieder zu gehen. Aber beide Beine versagten ihr den Dienst. Sie konnte sich nicht auf sie stützen, sondern sank zusammen und blieb neben dem Bett liegen.
Am Morgen, sobald das Gesinde aufgestanden war, wurde zum Doktor geschickt. Er kam gleich, konnte aber nicht begreifen, was mit Karin los sei. Sie war weder krank noch lahm. Er meinte, es müsse etwas sein, das durch Schrecken gekommen sei. »Es wird sich schon bald wieder geben,« sagte er.
Karin hörte den Doktor an, ohne ein Wort zu sagen. Sie wußte, daß Elias in der Nacht in der Stube gewesen war, und daß er es ihr angetan hatte. Sie war darauf gefaßt, nie wieder gehen zu können.
Den ganzen Vormittag saß Karin still da und grübelte. Sie versuchte zu erfahren, warum Gott diese Heimsuchung hatte über sie kommen lassen. Sie ging strenge mit sich ins Gericht, aber sie konnte nicht einsehen, daß sie eine Sünde begangen hatte, die eine so harte Strafe verdiente. »Gott ist ungerecht gegen mich,« dachte sie.
Am Nachmittag fuhr Karin nach Storms Missionshaus hinab, wo um die Zeit der Laienpredikant Dagson redete. Sie hoffte, er würde ihr erklären können, warum sie so hart gestraft war.
Dagson war ein angesehener Redner. Nie aber hatte er einen so großen Zuhörerkreis gehabt wie an diesem Tage. Welch eine Menge Menschen da doch rings um das Missionshaus standen. Und niemand sprach von etwas anderem, als von dem, was sich in der Nacht in der Spielstube zugetragen hatte. Die ganze Gemeinde war aufgeschreckt worden, und nun waren die Leute zusammengekommen, um ein kräftiges Gotteswort zu hören, das die Furcht vertreiben konnte.
Nicht der vierte Teil der Anwesenden konnte ins Haus hineinkommen, aber Türen und Fenster standen weit auf, und Dagsons Stimme war so stark, daß selbst die Draußenstehenden ihn hören konnten.
Der Predikant wußte, was sich zugetragen hatte und wonach seine Zuhörer sich sehnten. Er begann seine Rede mit fürchterlichen Worten über die Hölle und den Fürsten der Finsternis. Er erinnerte an den, der in der Dunkelheit umhergehe, um Seelen zu fangen, der die Schlingen der Sünde und die Netze des Lasters vor den Füßen der Menschen ausbreitete.
Die Zuhörer schauderten und sahen die Welt voller Teufel, die versuchten und lockten. Alles war Sünde und Gefahr. Sie wanderten über Fallgruben und sie waren wie die wilden Tiere des Waldes, gejagt und gehetzt.
Als Dagson hierüber redete, drangen seine Worte durch den Saal wie ein wild heulender Sturm, und seine Worte waren wie Feuerflammen.
Dagsons Rede erinnerte sie alle an einen Waldbrand. Unter allen diesen Teufeln und dem Rauch und dem Feuer hatte man dasselbe Gefühl, wie wenn der Wald ringsumher brennt, wenn das Feuer durch das Moos kriecht, wo man geht, und Rauchwolken in der Luft wogen, die man einatmen soll, und die Hitze einem das Haar verbrennt, und das Knistern des Feuers einem in die Ohren tönt und die Funken im Begriff sind, die Kleider in Brand zu stecken.
So jagte Dagson seine Zuhörer durch Feuer und Rauch und Verzweiflung. Feuer vor sich und Feuer hinter sich und Feuer zu allen Seiten hatten sie, und sie sahen nichts weiter als Untergang vor sich.
Aber durch all dieses Entsetzen hindurch führte er sie auf einen grünen Fleck im Walde hinaus, wo alles Ruhe und Kühle und Sicherheit war. Mitten auf der blumenübersäten Wiese saß Jesus. Er streckte seinen Arm über die fliehenden und gehetzten Menschen aus, und sie legten sich zu seinen Füßen nieder, und alle Gefahr war vorüber, und da war kein Verderben und keine Verzweiflung mehr.
Dagson redete, wie er selbst fühlte. Wenn er sich nur zu Jesu Füßen niederlegen durfte, erfüllten ihn Frieden und Ruhe, und er fürchtete keine Gefahr des Lebens.
Als Dagsons Rede beendet war, entstand eine große Bewegung. Mehrere gingen hin und dankten ihm, während ihnen die Tränen von den Wangen hinunterströmten. Sie sagten, daß seine Rede sie zu dem wahren Glauben an Gott erweckt habe.
Aber Karin Ingmarstochter saß während der ganzen Zeit unbeweglich da, und als Dagson seine Rede beendet hatte, hob sie die schweren Augenlider und sah ihn an, als wolle sie ihm vorwerfen, daß er ihr nichts hatte geben können.
Im selben Augenblick rief eine starke Stimme draußen vor dem Missionssaal, so laut, daß die ganze Versammlung es hören konnte:
»Wehe, wehe, wehe über die, die Steine statt Brot geben! Wehe, wehe, wehe über die, die Steine statt Brot geben!«
Karin konnte den, der sprach, nicht sehen; sie war gezwungen, sitzen zu bleiben, während die anderen hinausstürzten.
Nach einer Weile kamen die Leute vom Ingmarshof und erzählten ihr, daß der, der gerufen hatte, ein großer, dunkelhaariger Mann sei, den niemand kannte. Er und eine schöne blonde Frau seien mitten während des Vortrages mit einem der Postkarren vorübergefahren. Sie hatten angehalten und gelauscht, und gerade in dem Augenblick, als sie weiterfahren wollten, war der Mann aufgestanden und hatte geredet.
Einige meinten, sie müßten die Frau kennen. Sie glaubten, es müsse eine von des starken Ingmars Töchtern sein, die in Amerika verheiratet war, und der Mann, mit dem sie fuhr, mußte dann wohl ihr Mann sein. Aber es war nicht so leicht, eine Frau zu erkennen, die man als junges Mädchen in der gewöhnlichen Tracht der Gegend gesehen hatte, wenn sie jetzt erwachsen und als Dame gekleidet wieder zurückkam.
Karin dachte über Dagson ganz dasselbe, wie der Fremde, das konnte man daraus merken, daß sie nie wieder in das Missionshaus kam.
Späterhin im Sommer, als einer von den Baptistenpredigern in den Kirchsprengel kam und predigte und taufte, hörte sie ihn, und als nun auch die Heilsarmee anfing, Versammlungen im Kirchsprengel abzuhalten, fuhr sie zu einer davon hinüber. Eine starke geistige Bewegung hatte den Sprengel ergriffen. Bei allen Versammlungen fanden Erweckungen und Taufen statt: es war, als fänden alle Menschen das, dessen sie bedurften.
Aber keiner von allen denen, die Karin Ingmarstochter hörte, konnte sie lehren, sich mit dem Strafgericht auszusöhnen, das Gott über sie hatte gehen lassen.
* * *
Birger Larsson hieß ein Schmied, der eine Schmiede dicht an der Landstraße hatte. Die Schmiede war klein und dunkel, mit einer Luke statt des Fensters, und einer niedrigen Tür. Birger Larsson fertigte gewöhnliche Messer an, setzte Schlösser wieder instand, befestigte Wagenringe und beschlug Schlittenkufen. Wenn er keine andere Arbeit hatte, machte er Nägel.
An einem Sommerabend stand Birger Larsson mitten bei der Arbeit in seiner Schmiede. Er selbst stand an einem Amboß und schlug Köpfe auf die Nägel; sein ältester Sohn, der siebzehn Jahre alt war, stand an einem anderen Amboß, er hämmerte eine dünne eiserne Stange nach der anderen aus und schnitt sie durch. Ein anderer von den Söhnen trat den Blasebalg, ein dritter trug Kohlen, wandte die Eisen, die weißglühend in der Esse lagen und trug sie den Schmieden zu. Der vierte von den Söhnen war erst sieben Jahre alt; er sammelte die fertigen Nägel auf, warf sie in einen Wassertrog und band sie dann in Bündel zusammen.
Mitten in der Arbeit kam ein fremder Mann vorüber und stellte sich in die offene Tür. Es war ein großer dunkelhaariger Mann, er mußte sich fast zusammenfalten, um hineinsehen zu können.
Als Birger Larsson in der Arbeit innehielt, um zu hören, was er wünschte, sagte der Fremde:
»Du mußt es mir nicht übelnehmen, daß ich hier hineinsehe, obwohl ich hier nichts zu tun habe. Ich bin in meinen jungen Jahren selbst Schmied gewesen. Seit der Zeit kann ich nicht gut an einer Schmiede vorübergehen, ohne mir die Arbeit anzusehen.«
Birger Larsson sah unwillkürlich die Hände des Fremden an: sie waren groß und sehnig, richtige Schmiedefäuste.
Nun begann der Schmied den Fremden zu fragen, wer er sei und woher er komme. Der Mann antwortete freundlich, ohne sich zu erkennen zu geben. Birger fand, daß er ein kluger Mann war, und er fand Gefallen an ihm. Er ging mit ihm vor die Schmiede hinaus und stand auf dem schwarzen Schmiedehügel und wollte sich sonnen. Er habe es schwer im Anfang gehabt, sagte er, ehe die Söhne herangewachsen waren, so daß sie teil an der Arbeit nehmen konnten. Aber jetzt, wo sie alle mithelfen konnten, ging es gut. »Du sollst sehen, in ein paar Jahren bin ich ein reicher Mann,« sagte Birger.
Der Fremde lächelte; er sagte, es freue ihn, daß Birger so gute Hilfe an den Söhnen habe. »Jetzt will ich dich noch etwas fragen,« sagte er und legte seine schwere Hand auf Birgers Schulter und sah ihm tief in die Augen: »Da du eine so gute Hilfe an deinen Söhnen in weltlichen Dingen hast, so läßt du sie dir wohl auch in den geistlichen helfen?« Birger starrte ihn verständnislos an. »Ich merke, daß dies eine neue Frage für dich ist,« sagte der Fremde, »denk' darüber nach, bis wir uns wiedersehen.«
Er ging lächelnd seiner Wege. Birger Larsson kehrte in die Schmiede zurück, kraute sein Haar, das steif und gelb war wie Messing, und fing wieder an zu arbeiten.
Die Frage des Fremden beschäftigte ihn mehrere Tage. Er fand, es sei eine sonderbare Frage. »Es steckt was dahinter, was ich nicht verstehen kann,« dachte er.
* * *
Es war am Tage, nachdem der Fremde mit Birger Larsson geredet hatte, und es war unten im Kirchdorf in Tims Halvors altem Laden, den er nach seiner Ehe mit Karin seinem Schwager Kolaas Gunnar überlassen hatte.
Gunnar war verreist, und währenddes besorgte seine Frau, Brita Ingmarstochter, den Laden.
Brita stand schön und stattlich hinter dem Ladentisch. Den Namen und auch das Äußere hatte sie von ihrer Mutter, des großen Ingmars schöner Frau, geerbt, ein schöneres Mädchen als Brita war niemals auf dem Ingmarshof aufgewachsen.
Aber wenn Brita der alten Familie auch nicht in ihrem Äußeren nachartete, so war sie doch ebenso rechtschaffen und gewissenhaft wie nur irgendeiner aus der Familie.
Wenn Gunnar fort war, besorgte Brita den Laden auf ihre eigene Weise. Wenn der alte Korporal Fält versoffen und zitternd vorüberkam und eine Flasche Bier forderte, so sagte Brita geradeaus nein, und als des armen Kolbjörns Lehna kam und eine feine Brosche kaufen wollte, schickte Brita sie nach Hause, um starkes und haltbares Zeug auf ihrem Webstuhl zu weben.
An diesem Tage hatte Brita nicht viele Kunden. Sie saß stundenlang ganz allein da. Da sank sie zusammen und starrte in die Luft hinaus, während die Verzweiflung ihr aus den Augen schaute.
Schließlich erhob sie sich, holte einen Strick heraus, trug den Tritt aus dem Laden in die Hinterstube und befestigte eine Schlinge an einem Haken an der Decke.
Brita beeilte sich, sie war bald fertig und war gerade im Begriff, den Kopf in die Schlinge hineinzustecken, als sie hinuntersah.
In diesem Augenblick tat sich die Tür auf, und ein großer dunkelhaariger Mann trat ein. Er war in den Laden gekommen, ohne daß sie ihn gehört hatte, und da er dort niemand angetroffen hatte, ging er hinter den Ladentisch und öffnete die Tür zur Stube.
Brita stieg schnell herunter. Der Mann sagte nichts zu ihr; er zog sich langsam wieder in den Laden zurück. Brita ging hinterdrein. Sie hatte ihn noch nie gesehen, er hatte dichtes, lockiges Haar, einen dichten Vollbart, scharfe Augen und große sehnige Hände. Es war nicht recht zu sehen, ob er ein feiner Mann war oder ein Bauer. Er war gut angezogen, aber er ging und hielt sich wie ein Arbeiter. Er setzte sich auf einen zerfetzten Stuhl neben der Tür und sah Brita an.
Die Bäuerin stand ruhig hinter dem Ladentisch, stellte keine Frage, sondern wünschte nur, daß er gehen möge. Der Mann fuhr fort, sie anzusehen, ließ sie keinen Moment aus den Augen. Brita hatte ein Gefühl, als hielten seine Augen sie fest, so daß sie sich nicht bewegen könne.
Brita wurde ungeduldig; sie dachte bei sich: »Ich kann nicht begreifen, daß du glaubst, daß es nützen kann, wenn du dasitzt und mich bewachst. Du kannst dir doch denken, daß ich ein andermal doch das tun werde, was ich will.«
Brita stand da und hielt stumme Reden mit dem Mann. »Wenn es etwas wäre, das ein Ende nähme oder das ein Übergang wäre, so könntest du mich gern verhindern. Aber die Sache ist hoffnungslos.«
Der Mann blieb jedoch sitzen und verwandte kein Auge von ihr.
»Ich will dir etwas sagen: Es schickt sich für uns vom Ingmarshofe nicht, einen Laden zu haben,« fuhr Brita in ihren Gedanken fort. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut Gunnar und ich miteinander lebten, ehe er mit dem Laden begann. Die Leute haben mich ja freilich gewarnt, mich mit ihm zu verheiraten. Sie mochten ihn nicht wegen seiner schwarzen Haare und seiner stechenden Augen und seiner scharfen Zunge. Aber wir hatten uns nun einmal lieb, und wir sagten nie ein böses Wort zueinander, bis Gunnar den Laden übernahm.«
»Erst seit jener Zeit,« setzte Brita ihre stumme Rede fort, »war es nicht mehr gut zwischen uns. Ich wollte, daß er das Geschäft auf meine Weise führen sollte. Ich kann mich nicht darein finden, daß er Wein und Bier an Trunkenbolde verkauft, und ich mag es nicht, daß er Leute etwas anderes kaufen läßt, als was nützlich und notwendig ist; aber das findet Gunnar unvernünftig. Und weder er noch ich können nachgeben, und nun zanken wir uns immer, und jetzt macht er sich nichts mehr aus mir.«
Sie sah den Mann mit ihren verstörten Augen an, gleichsam erstaunt darüber, daß er ihren Bitten nicht nachgeben wollte.
»Aber du kannst doch begreifen, daß ich nicht in der Schande leben kann, daß er arme Leute durch den Gemeindevogt auspfänden und ihnen die einzige Kuh oder ein paar elende Schafe wegnehmen läßt.«
»Es kann nie wieder gut werden, das wirst du doch wohl einsehen können? Warum kannst du denn nicht gehen, so daß ich ein Ende machen kann?«
Aber während der Mann dasaß und Brita ansah, ward sie immer ruhiger, und schließlich fing sie ganz leise an vor sich hinzuweinen. Sie war gerührt über ihn, der dasaß und acht auf sie gab. Das war viel von einem, der sie gar nicht kannte.
Sobald der Mann sah, daß Brita weinte, meinte er offenbar, daß keine Gefahr mehr vorhanden sei. Er erhob sich und ging auf die Tür zu. Als er auf der Türschwelle stand, wandte er sich um, bohrte noch einmal seine Augen in die Britas, räusperte sich und sagte mit tiefer Stimme: »Tue dir nicht selbst ein Leid an, denn die Zeit ist nahe, wo du in Gerechtigkeit leben wirst.«
Darauf ging er. Seine Schritte dröhnten schwer auf der Treppe und dem Wege, als er sich entfernte.
Brita ging in die Hinterstube, nahm die Schlinge herunter und trug den Tritt wieder in den Laden hinüber. Darauf setzte sie sich auf eine Kiste und rührte sich mehrere Stunden lang nicht vom Fleck.
Brita hatte ein Gefühl, als sei sie lange Zeit in einer Nacht umhergewandelt, die so finster war, daß sie nicht Hand vor Augen sehen konnte. Sie hatte sich verirrt, wußte nicht, wo sie hingeraten war, und bei jedem Schritt, den sie tat, fürchtete sie, daß sie in einem Moor versinken oder in einen Abgrund stürzen würde. Aber nun war da einer, der ihr zugerufen hatte, daß sie nicht weitergehen, sondern sich niedersetzen und warten solle, bis es Tag würde. Sie freute sich darüber, daß sie die gefährliche Wanderung nicht fortzusetzen brauchte; jetzt saß sie da und wartete auf das Tagesgrauen.
* * *
Der starke Ingmar hatte eine Tochter, die Anna Lisa hieß. Sie hatte mehrere Jahre in Chicago gewohnt und hatte sich dort mit einem Schmiede namens Hellgum verheiratet, der eine eigene kleine Gemeinde mit einem besonderen Glauben und einer besonderen Lehre hatte. Am Tage nach der vielbesprochenen Nacht, als sie bei dem starken Ingmar getanzt hatten, war Anna Lisa heimgekehrt, um ihren Vater zu besuchen, und ihr Mann war mitgekommen. Hellgum benutzte die Zeit, um lange Fußwanderungen in der Gegend zu machen; er ließ sich mit allen ein, denen er begegnete, sprach erst mit ihnen über ganz gewöhnliche, alltägliche Dinge, aber wenn er ihnen Lebewohl sagte, legte er gern seine große, schwere Hand auf die Schulter und sagte irgendein Wort des Trostes oder der Erweckung.
Der starke Ingmar sah nicht viel von seinem Schwiegersohn; der Alte arbeitete in jenem Jahr mit dem jungen Ingmar Ingmarsson, der auf den Ingmarshof zurückgekehrt war. Die beiden bauten ein Sägewerk im Langfoß. Es war ein stolzer Tag für den starken Ingmar, als die Sägemühle fertig war und der erste Balken von den kreischenden Sägeblättern in weiße Bretter zerschnitten wurde.
Eines Abends kam der Alte von der Arbeit nach Hause. Auf dem Wege begegnete er Anna Lisa. Sie sah erschreckt aus, als habe sie Lust, sich vor ihm zu verstecken. Der alte Ingmar schritt schneller zu, kam an sein Haus und blieb mit gerunzelter Stirn stehen. Dicht am Eingang hatte, solange er lebte, ein großer Rosenbusch gestanden. Der war ihm lieber gewesen als sein Augapfel. Er hatte niemals erlaubt, daß jemand eine Rose oder ein Blatt von dem Strauch abpflückte, nichts Böses hatte sich ihm nähern dürfen.
Der starke Ingmar hatte ihn so gut gepflegt, weil er wußte, daß die Unterirdischen unter ihm wohnten.
Aber nun war der ganze Busch abgehauen. Es war natürlich der Schwiegersohn, der Predikant, der sich nicht darein finden konnte.
Der starke Ingmar hielt seine Axt in der Hand, er schloß die Finger fest um den Schaft, als er ins Haus hineinging.
Hellgum saß da drinnen, die Bibel vor sich; er sah auf und sah dem starken Ingmar tief in die Augen. Dann las er mit lauter Stimme weiter:
»Dazu, daß ihr gedenkt, wir wollen tun wie die Heiden und wie andere Leute in Ländern Holz und Steine anbeten, das soll euch fehlen. So wahr ich lebe, spricht der Herr, ich will über euch herrschen mit starker Hand und mit ausgestreckten Armen und mit ausgeschüttetem Glauben – –« Ohne ein Wort zu sagen, ging der starke Ingmar zum Hause hinaus. In dieser Nacht schlief er in der Scheune. Zwei Tage später zogen er und Ingmar in den Hochwald hinauf, um Kohlen zu brennen und Bäume zu fällen. Sie wollten den ganzen Winter fortbleiben.
* * *
Ein paarmal war Hellgum auf den Bauernversammlungen aufgetreten und hatte seine Lehre ausgelegt, die, wie er sagte, das einzige wahre Christentum sei. Aber Hellgum war nicht so beredt wie Dagson. Er hatte nicht einen einzigen Anhänger gewonnen.
Diejenigen, die ihm auf Wegen und Stegen begegnet waren und ihn nur ein paar Worte hatten sagen hören, hatten große Dinge von ihm erwartet, aber wenn Hellgum einen längeren Vortrag halten sollte, wurde er schwerfällig und geistlos und ermüdend.
Im Spätsommer wurde Karin Ingmarstochter in hohem Grade niedergedrückt. Man hörte sie selten ein Wort sagen. Sie war noch immer nicht imstande zu gehen und saß den ganzen Tag hindurch unbeweglich in ihrem Stuhle. Sie suchte keinen Prediger mehr auf, sondern saß allein da und brütete über ihrem Unglück. Hin und wieder sagte sie wohl einmal zu Halvor, sie habe ihren Vater immer sagen hören, die Ingmarssöhne brauchten nichts zu fürchten, wenn sie nur Gottes Wege gingen, aber jetzt wisse sie, daß nicht einmal das wahr sei.
Halvor schlug in seiner Ratlosigkeit vor, sie solle den neuen Predikanten anhören, aber Karin sagte nein. Sie wollte keine Hilfe mehr bei Geistlichen suchen.
Eines Sonntags zu Ende August saß Karin allein am Fenster in der guten Stube. Tiefe Stille ruhte über dem ganzen Hof, und Karin ward es schwer, wach zu bleiben. Ihr Kopf sank tiefer und tiefer auf die Brust herab, und schließlich schlief sie ein.
Sie erwachte davon, daß jemand gerade unter ihrem Fenster sprach. Sie konnte nicht sehen, wer es war, aber die Stimme war stark und tief. Eine schönere Stimme hatte sie noch niemals gehört.
»Ich kann wohl merken, daß du es für unglaublich hältst, Halvor, daß ein armer ungelehrter Mann die Wahrheit gefunden haben sollte, wo so viele gelehrte Herren auf Grund geraten sind,« sagte die Stimme.
»Ja,« erwiderte jetzt Halvor. »Ich weiß nicht, wie du so sicher sein kannst.«
»Halvor redet mit Hellgum,« dachte Karin. Sie versuchte das Fenster zu schließen, konnte es aber von dort, wo sie saß, nicht erreichen.
»Aber es steht ja geschrieben,« fuhr Halvor fort, »daß, wenn dich jemand auf den rechten Backen schlägt, so sollst du ihm auch den linken darbieten, desgleichen, daß wir uns dem Bösen nicht widersetzen sollen und noch manches andere von derlei Art. Und das alles ist etwas, was man nicht halten kann. Wenn du das versuchen wolltest, so würden die Leute kommen und dir deine Acker und deinen Wald wegnehmen. Sie würden dir deine Kartoffeln stehlen und dir dein Saatkorn hinter dem Rücken wegnehmen. Sie würden dir sicher den ganzen Ingmarshof nehmen.«
»Das mag wohl sein,« räumte Hellgum ein. »Ja, dann hat wohl Christus gar nichts mit alledem gemeint? Er hat wohl bloß dagestanden und das ins Blaue hineingeredet?«
»Ich weiß nicht, wo du mit dem, was du sagst, hinauswillst.«
»Ja, siehst du, da ist auch noch etwas anderes, das man bedenken muß,« sagte Hellgum. »Nämlich, daß wir so unendlich weit mit unserem Christentum gekommen sind. Niemand stiehlt mehr, niemand tut Witwen und Waisen ein Unrecht an. Niemand haßt und verfolgt den anderen mehr. Es geschieht niemals, daß jemand unter uns ein Unrecht tut, die wir ja eine so gute Religion haben.«
»Nun ja, da mag ja allerlei sein, das nicht so ist, wie es sein sollte,« räumte Halvor sanftmütig ein. Es klang schläfrig und teilnahmslos.
»Aber wenn du eine Dreschmaschine hast, die keinen ordentlichen Nutzen tut, so siehst du wohl nach, wo der Fehler steckt, und du beruhigst dich nicht, bis du weißt, was ihr fehlt. Aber wenn du jetzt siehst, daß es gar nicht gehen will, die Leute dazu zu bringen, ein christliches Leben zu führen, so ist da doch wohl Grund nachzusehen, ob nicht irgendein Fehler an dem Christentum sein könne.«
»Ich kann doch nie im Leben glauben, daß an Christi Lehre etwas nicht richtig sein sollte,« sagte Halvor.
»Nein, von Anfang an war sie gewiß ganz gut, aber es kann ja sein, daß sie in Unordnung geraten ist. Da mag ja irgendein Rad sein, das zerbrochen ist, siehst du, nur ein einziges Rad, und gleich steht das ganze Werk still.«
Er schwieg eine Weile, als suche er nach Worten und Beweisen.
»Jetzt will ich dir sagen, wie es mir vor ein paar Jahren ergangen ist. Da versuchte ich zum erstenmal, so recht nach der Lehre zu leben, und weißt du, wie das endete? Zu jener Zeit arbeitete ich in einer Fabrik, und als die Kameraden entdeckten, wie ich war, ließen sie mich erst eine ganze Menge von ihren Arbeiten verrichten, dann nahmen sie mir meinen Platz weg und schließlich beschuldigten sie mich eines Diebstahls, den einer von ihnen begangen hatte, so daß ich ins Gefängnis kam.«
»Man braucht wohl nicht immer gleich mit so schlechten Menschen zusammenzukommen,« sagte Halvor, noch immer gleichgültig. »Da sagte ich zu mir selbst: Es wäre nicht so schwer, ein Christ zu sein, wenn man nur allein auf der Welt wäre und keine Mitmenschen hätte. Ich war geradezu froh, daß ich im Gefängnis saß, denn dort konnte ich ein gerechtes Leben führen, ohne daß mich jemand verführte oder mir Unrecht antat. Aber dann fiel mir ein, daß so ein rechtschaffenes Leben auf eigene Hand führen genau so ist, wie eine Mühle, die ganz leersteht und sich herumdreht, ohne Korn zwischen den Steinen zu haben. Wenn Gott so viele Menschen auf die Welt gesetzt hat, so ist es wohl seine Absicht, daß sie einander zur Stütze und Hilfe werden und nicht zum Verderben gereichen sollen. Und da wurde es mir schließlich klar, daß der Teufel etwas aus der Bibel herausgenommen haben müsse, damit das Christentum auf Abwege geraten solle.«
»Dazu konnte der Teufel doch wohl nicht die Macht haben,« sagte Halvor.
»Ja, er hat das Wort weggenommen: Ihr, die ihr ein christliches Leben führen wollt, sollt Hilfe bei euren Mitmenschen suchen.«
Halvor sagte nichts, aber Karin nickte beifällig. Sie hatte sehr aufmerksam zugehört und kein Wort war ihr entgangen.
»Sobald ich aus dem Gefängnis kam,« sagte Hellgum, »ging ich zu einem Kameraden und bat ihn, mir behilflich zu sein, ein rechtschaffenes Leben zu führen, und sobald wir erst zwei waren, ging es gleich besser. Und bald kam ein dritter hinzu und ein vierter schloß sich uns an, und es ging besser und besser. Jetzt sind wir dreißig, die zusammen in einem Haus in Chicago wohnen. Wir teilen alles miteinander und wachen gegenseitig über unser Leben, und der Weg der Gerechtigkeit liegt eben und gerade vor uns, und wir können christlich miteinander verkehren, denn der eine Bruder mißbraucht nicht die Güte des anderen und tritt ihn in seiner Demut nicht nieder.«
Als Halvor noch immer schwieg, sagte Hellgum anregend: »Du weißt wohl, Halvor, daß der, der etwas Großes ausrichten will, sich mit anderen Menschen zusammentut und sich von anderen Menschen helfen läßt. Du könntest den Hof hier auch nicht allein bewirtschaften, und wenn du eine Fabrik übernehmen willst, da mußt du dich nach Teilhabern umsehen, und denke, wenn du eine Eisenbahn bauen wolltest, wie viele du da zur Hilfe nehmen müßtest.
Das Schwerste von allem aber ist ein christliches Leben zu führen, und das willst du auf eigene Hand ohne fremde Hilfe durchführen? Oder du versuchst es vielleicht gar nicht, weil du schon im voraus weißt, daß es doch nicht geht.
Die einzigen, die den richtigen Weg eingeschlagen haben, das bin ich und die, die mit mir drüben in Chicago zusammenhalten. Diese Gemeinde ist das wahre, heilige Jerusalem, das vom Himmel herabgestiegen ist, und du kannst sie daran erkennen, daß die Gaben des Geistes, die über die ersten Christen ausgegossen wurden, auch über uns ausgegossen sind. Denn einige von uns hören Gottes Stimme, und andere prophezeien, und wieder andere heilen Kranke –«
»Kannst du Kranke heilen?« unterbrach ihn Halvor hastig.
»Ja,« sagte Hellgum, »ich kann die heilen, die an mich glauben.«
»Es ist schwer, etwas anderes zu glauben, als das, was man als Kind gelernt hat,« sagte Halvor nachdenklich.
»Wahrlich, ich sage dir, Halvor, du wirst bald mithelfen, das neue Jerusalem zu bauen,« sagte Hellgum.
Da wurde es still. Nach einer Weile hörte Karin Hellgum Lebewohl sagen.
Gleich darauf kam Halvor zu Karin herein. Als er sie an dem offenen Fenster sitzen sah, sagte er: »Nun hast du gewiß alles gehört, was Hellgum gesagt hat.« – »Ja,« erwiderte Karin. – »Hast du denn auch gehört, daß er sagte, er könne die heilen, die an ihn glauben?« – Karin errötete, Hellgums Lehre hatte ihr besser gefallen als alles, was sie sonst im Laufe des Sommers gehört hatte. Es war eine gewisse praktische Vernunft darin, die ihr zusagte. Dies waren Handlung und Tätigkeit und keine Empfindsamkeit, auf die sie sich nicht verstand. Aber sie wollte es sich selbst nicht eingestehen. Sie wollte nichts mehr mit Geistlichen zu tun haben. »Ich will keinen anderen Glauben haben als mein Vater,« sagte sie.
Einige Wochen später saß Karin wieder in der guten Stube. Es war jetzt Herbst geworden, der Wind heulte vor dem Hause, und das Feuer knisterte auf dem Herd, niemand war in der Stube, außer ihrer kleinen Tochter, die bald ein Jahr alt war und eben laufen gelernt hatte. Sie saß an der Erde zu Füßen der Mutter und spielte.
Wie Karin so dasaß, tat sich die Tür auf, und ein großer, dunkelhaariger Mann trat ein. Er hatte dichtes, lockiges Haar, scharfe Auge und große, sehnige Schmiedehände. Ehe Karin ihn noch ein Wort hatte sagen hören, erriet sie, daß es Hellgum war.
Der Mann sagte guten Tag und fragte nach Halvor. Karin antwortete, daß er zu einer Versammlung gegangen sei, sie erwarte ihn bald zurück.
Hellgum setzte sich, er sagte nichts, hin und wieder aber warf er einen schnellen Blick auf Karin. »Ich habe gehört, daß du krank bist,« sagte Hellgum, als er eine Weile dagesessen hatte. – »Ja,« antwortete Karin, »ich habe seit einem halben Jahr nicht gehen können.« – »Ich habe mir ausgedacht, hierher zu kommen und für dich zu beten,« sagte der Predikant. Karin schwieg, schlug die Augen nieder und verschloß sich gleichsam in sich selbst. – »Du hast vielleicht gehört, daß ich die Gnadengabe erhalten habe, Kranke heilen zu können.«
Karin schlug die Augen auf und warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Habt Dank, daß Ihr an mich gedacht habt, aber das kann nicht nützen, denn ich wechsle meinen Glauben nicht so leicht,« sagte sie. – »Es ist möglich, daß Gott dir hat helfen wollen,« sagte der Mann, »da du immer versucht hast, ein rechtschaffenes Leben zu führen.« – »Ich stehe gewiß nicht in so großer Gnade bei Gott, daß er mir helfen will.«
Sie saß nun ein paar Minuten schweigend da, dann fragte Hellgum: »Hat Mutter Karin sich jemals selbst gefragt, warum diese Heimsuchung wohl über sie gekommen ist?« Karin antwortete nicht, es war, als lasse sie niemand bei sich ein. – »Jemand sagt mir, daß Gott das getan hat, damit sein Name noch mehr geehrt werde,« sagte Hellgum.
Als Karin das hörte, ward sie zornig. Es traten ein paar scharfe, rote Flecke auf ihre Wangen. Sie fand es höchst vermessen von Hellgum, zu glauben, daß diese Krankheit über sie gekommen sei, damit er Gelegenheit habe, ein Wunder zu tun.
Der Predikant erhob sich, ging geradeswegs auf Karin zu und legte ihr die Hand auf den Kopf. »Willst du, daß ich für dich beten soll?« fragte er. Im selben Augenblick fühlte Karin einen Strom von Leben und Gesundheit durch ihren Körper brausen, aber sie war so empört über seine Aufdringlichkeit, daß sie heftig seine Hand abschüttelte und den Arm erhob, als wolle sie ihn schlagen. Worte vermochte sie nicht so schnell zu finden.
Hellgum zog sich zurück und ging auf die Tür zu. »Man soll nicht von sich weisen, was Gott schickt,« sagte er. – »Nein,« sagte Karin, »was Gott schickt, muß man wohl annehmen.«
»Aber ich sage dir, daß diesem Hause heute eine große Gnade widerfahren wird,« sagte der Mann. – Karin schwieg. – »Denke an mich, wenn die Hilfe zu dir kommt,« sagte Hellgum, als er ging.
Karin saß aufrecht im Stuhl, die roten Flecke brannten lange auf ihren Wangen. Sie war sehr zornig. »Kann ich nun nicht einmal Ruhe in meinem eigenen Hause haben,« dachte sie. »Es ist entsetzlich, wie viele Menschen glauben, daß sie von Gott geschickt sind.«
Im selben Augenblick sah Karin ihr kleines Mädchen über den Fußboden auf den Herd zukriechen. Die Kleine hatte eben das Feuer erblickt. Sie schrie vor Freude, kroch und lief darauf zu, so schnell sie nur konnte.
Karin rief sie, aber das Kind achtete nicht darauf. Es arbeitete, um auf den Herd hinaufzukommen, fiel ein paarmal nieder, gelangte jedoch endlich auf den Stein hinauf, wo das Feuer brannte.
»Ach Gott, hilf mir, Gott hilf mir,« sagte Karin. Sie fing an, laut zu rufen, obwohl sie wußte, daß niemand in der Nähe war.
Das kleine Mädchen beugte sich lächelnd dem Feuer zu. Da fiel ein brennender Holzscheit vom Herd herunter auf ihr Kleid.
Aber im selben Augenblick stand Karin aufrecht in der Stube, lief an den Herd und zog das Kind an sich.
Erst als sie alle Funken von dem Kleide geschüttelt und das Kind nachgesehen und unbeschädigt gefunden hatte, ward ihr klar, was geschehen war. Daß sie aufrecht dastand, daß sie gegangen war, daß sie noch gehen konnte!
Karin fühlte eine Erschütterung ihrer Seele so stark wie nie zuvor in ihrem Leben. Aber gleichzeitig erfüllte sie die größte Glückseligkeit.
Sie fühlte, daß sie unter Gottes besonderer Obhut und Fürsorge stand, und daß er einen heiligen Gottesmann in ihr Haus geschickt hatte, um ihr zu helfen.
* * *
In diesen Tagen stand Hellgum oft in dem kleinen Beischlag vor des starken Ingmars Hause und sah über die Gegend hinaus. Die Landschaft, die er übersah, ward mit jedem Tage schöner und schöner. Die Erde war gelb und alle Laubbäume waren schimmernd rot oder schimmernd gelb. Hier und da erhob sich ein ganzer Laubwald, strahlend wie ein wogendes Meer aus Gold. Überall an den tannenbewaldeten Höhen sah man gelbe Flecke, das waren Laubbäume, die sich zwischen die Nadelhölzer verirrt hatten.
Wie eine armselige graue Hütte leuchten und schimmern kann, wenn Feuer da drinnen ist, so flammte diese arme schwedische Landschaft in einer seltenen Pracht auf. Alles war so gelb und so wunderbar strahlend, wie man sich nur eine Landschaft auf der Oberfläche der Sonne vorstellen kann.
Aber wenn Hellgum dastand und dies ansah, dachte er, daß die Zeit bald tagen würde, wo Gott die Gegend von Heiligkeit erstrahlen lassen würde, und wo alle die Worte, die er den Sommer hindurch ausgesät hatte, sprossen und herrliche Früchte der Gerechtigkeit tragen würden.
Und siehe, eines Abends kam Tims Halvor nach dem Hause hinab und bat Hellgum und Anna Lisa, nach dem Ingmarshofe hinaufzukommen.
Als sie auf den großen Hofplatz kamen, war alles fein und geschmückt. Alle welken Blätter waren weggefegt, und alle Gerätschaften und Arbeitswagen, die sonst den Hof anzufüllen pflegten, waren beiseite geschafft. Es werden wohl viele Gäste erwartet, dachte Anna Lisa. Im selben Augenblick öffnete Halvor die Tür zu der guten Stube.
Die war mit Menschen angefüllt. Alle saßen feierlich auf den langen Bänken an den Wänden entlang. Sie saßen so, als erwarteten sie jemand, und Hellgum sah sogleich, daß es die besten Leute des Kirchsprengels waren.
Der erste, den er gewahrte, war Ljung Björns Olofsson und seine Frau, Märta Ingmarstochter, sowie Kolaas Gunnar und seine Frau. Dann sah er Krister Larsson und Israel Tomasson mit ihren Frauen. Auch sie gehörten zu den Ingmarssöhnen. Dann bemerkte er Hök Matts Eriksson und seinen Sohn Gabriel, des Gemeindevorstehers Gunhild und mehrere andere. Es waren im ganzen wohl zwanzig Personen.
Als Hellgum und Anna Lisa die Runde bei ihnen allen gemacht und guten Tag gesagt hatten, begann Tims Halvor: »Hier sind einige von denen versammelt, die darüber nachgedacht haben, was uns Hellgum gesagt hat. Die meisten von uns gehören einer alten Familie an, die gern Gottes Wege gehen will. Und wenn uns Hellgum dabei behilflich sein kann, so wollen wir ihm folgen.«
Am nächsten Tage verbreitete sich das Gerücht über den ganzen Kirchsprengel, daß auf dem Ingmarshofe eine Gemeinde gegründet sei, die behauptete, daß sie im Besitz des einzigen und richtigen und wahren Christentums sei.