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Die Frau Oberst Ekenstedt war von ihrem Besuch in der Propstei zu Korskyrka nach Karlstadt zurückgekehrt, und zwei Tage später war ein sehr schönes Mädchen aus Dalarne in die Stadt gewandert gekommen, eine Hausiererin, die den gewöhnlichen großen ledernen Rucksack auf dem Rücken trug. In der Stadt jedoch, wo es richtige Kaufleute gab, war es ihr verboten, ihrem alltäglichen Erwerb nachzugehen. Sie ließ deshalb ihren großen Sack in ihrem Unterkunftshaus und ging nur mit einem Körbchen am Arm, worin von ihr selbstverfertigte Haararmbänder und Uhrketten lagen, auf die Straße hinaus.
Das junge Mädchen aus Dalarne, das von Hof zu Hof ging, um Käufer für diese Waren zu finden, kam so auch in das Ekenstedtsche Haus. Die Frau Oberst fand großen Gefallen an den schönen Arbeiten und lud die Verkäuferin ein, ein paar Tage im Hause zu bleiben, um aus einigen langen blonden Locken einige »Souvenir« herzustellen. Diese Locken hatte sie ihrem Sohne Karl Artur in seiner frühen Kindheit abgeschnitten und seither gut aufgehoben. Das Anerbieten schien der schönen Wanderin höchst willkommen zu sein. Sie nahm es ohne Bedenken an und begann schon am nächsten Tage mit ihrer Arbeit.
Das Mädchen aus Dalarne war in einer Kammer nach dem Hof untergebracht, und Mamsell Jacquette Ekenstedt, die recht tüchtig in Handarbeiten war, fand sich recht oft bei ihr ein, um zu sehen, wie man diese Arbeit macht. Auf diese Weise entstand zwischen den beiden eine Art Bekanntschaft, ja man könnte fast sagen Freundschaft. Das junge Stadtfräulein fühlte sich zu der armen Hausiererin vom Lande durch deren schönes Aussehen, das durch ihre schmucke Tracht noch mehr hervorgehoben wurde, hingezogen. Mamsell Jacquette empfand wirkliche Bewunderung für ihren unverdrossenen Fleiß, ihre Fingerfertigkeit und für ihren guten Verstand, der sich besonders durch kurze und treffende Antworten kundgab.
Sie war allerdings sehr verdutzt, als sie fand, daß dieser scharfe Verstand einer Person zu eigen war, die weder schreiben noch lesen konnte, und sie fühlte sich ganz zurückgestoßen, als sie sie ein paarmal dabei überraschte, wie sie aus einer kleinen eisernen Pfeife dampfte, aber im ganzen genommen blieb das gute Verhältnis doch ungetrübt.
Noch etwas anderes war auch sehr lustig. Das fremde Mädchen gebrauchte eine Menge Worte und Ausdrücke, die Mamsell Ekenstedt nicht verstand. So geschah es einmal, als sie ihre neue Freundin mit in die Wohnung nahm, um ihr die vielen schönen Sachen zu zeigen, die das Heim schmückten, daß das arme Mädchen seine Bewunderung nicht anders auszudrücken verstand, als durch den Ausruf: »Das ist saumäßig schön!«
Mamsell Ekenstedt war über diesen Ausdruck entsetzt gewesen, bis sie unter viel Gelächter herausgebracht hatte, daß in dem Munde eines Mädchens aus Dalarne der Ausdruck »saumäßig« die allerhöchste Bewunderung bedeutet.
Dagegen suchte die Frau Oberst die fleißige Haararbeiterin nur selten auf. Man könnte meinen, sie habe durch die Vermittlung ihrer Tochter in den Charakter, die Begabung und die Gewohnheiten des Mädchens eindringen wollen, um dadurch herauszubringen, ob es als Frau ihres Sohnes überhaupt in Betracht kommen könne. Denn daran braucht natürlich niemand zu zweifeln, daß Frau Oberst Ekenstedt vom ersten Augenblick an erraten hatte, wer dieses junge Mädchen war, nämlich die neue Braut ihres Sohnes. Nein, daran brauchte wahrlich niemand zu zweifeln, wer einen Begriff von dem durchdringenden Scharfsinn der Frau Beate Ekenstedt hatte.
Der Aufenthalt des Mädchens aus Dalarne in dem Ekenstedtschen Hause wurde indes durch ein trauriges Ereignis abgekürzt. Die Schwester des Obersts, Frau Elise Sjöberg, die seit dem Tod ihres Ehegatten bei ihrem Bruder wohnte, bekam einen Schlaganfall und starb schon einige Stunden nachher. Nun mußte man Vorbereitungen zu einem standesgemäßen Begräbnis treffen; alle Nebenräume wurden von Näherinnen, Kochfrauen und Tapezierern, die das Zimmer schwarz ausschlagen sollten, in Anspruch genommen. Demzufolge wurde das Mädchen aus Dalarne sofort verabschiedet.
Sie ward in das Arbeitszimmer des Obersten beschieden, um ihre Bezahlung zu erhalten; den Leuten im Haus fiel es auf, wie ungewöhnlich lange sich die Unterhaltung in dem Arbeitszimmer hinzog, und als das Mädchen endlich herauskam, hatte sie rotgeweinte Augen. Die gutherzige Haushälterin meinte, sie sei betrübt, weil sie das Haus, worin man ihr so viel Freundlichkeit erwiesen hatte, nun verlassen müsse, und als eine Art Ersatz dafür lud sie sie ein, am Begräbnistage selbst in die Küche zu kommen, dann dürfe sie von den guten Bissen, die es da geben werde, versuchen.
Das Begräbnis war auf Donnerstag den einunddreißigsten August festgesetzt. Der Sohn des Hauses, Dr. Karl Artur Ekenstedt, war natürlich herbeigerufen worden, und er kam schon am Mittwochabend an. Er wurde mit großer Freude empfangen, und er scheint die Zeit bis zum Begräbnis dazu verwendet zu haben, den Eltern und der Schwester eine Vorstellung von der Liebe zu geben, womit seine Gemeindeglieder jetzt zu ihm aufsahen. Es war durchaus nicht leicht für den schüchternen jungen Pfarrer, von seinen Triumphen zu sprechen; aber seine Mutter, die durch einen Brief von Charlotte Löwensköld einigermaßen unterrichtet war, hatte ihn durch ihre Fragen angeregt und ihn gezwungen, von den vielen Beweisen von Dankbarkeit und Hingebung, die ihm zuteil wurden, zu erzählen, und man kann sich wohl denken, daß Frau Beate Ekenstedt dadurch die reinste Mutterfreude empfand.
Daß man bei dieser Gelegenheit die arme Arbeiterin, die ein paar Tage im Hause gewohnt hatte, gar nicht erwähnte, ist ganz natürlich. Der nächste Morgen aber war mit den Vorbereitungen zum Begräbnis vollständig ausgefüllt, und so erfuhr Karl Artur auch da noch nichts von dem Aufenthalt des schönen Mädchens aus Dalarne in dem Hause seiner Eltern.
Auf den Wunsch des Oberst Ekenstedt sollte seine Schwester mit allen Ehren begraben werden. Der Bischof und der Landeshauptmann sowie viele der ersten Familien der Stadt, die mit der seligen Frau Dompropst in Berührung gekommen waren, hatten Einladungen erhalten. Auch der Hüttenbesitzer Schagerström von Groß-Sjötorp befand sich unter den Geladenen, weil er durch seine verstorbene Frau als Verwandter der seligen Frau Dompropst galt, und da ihm diese Aufmerksamkeit von Personen, die Grund hatten, ihm gram zu sein, wohltat, hatte er die Einladung dankbar angenommen.
Nachdem die alte Frau Sjöberg unter Liedergesang und von einem langen Trauerzug begleitet vom Ekenstedtschen Hause nach dem Kirchhof gebracht und ins Grab gesenkt worden war, kehrte man in das Trauerhaus zurück, wo ein großes Leichenmahl bereitstand. Daß dieses lang dauerte und sehr großartig war, versteht sich von selbst, und ebenso ist es fast unnötig, zu bemerken, daß die Feierlichkeit und der Ernst, die bei einem Begräbnis zur guten Sitte gehören, beobachtet wurden.
Als einer der Verwandten der Verstorbenen wurde Schagerström bei Tisch in die Nähe der Hausfrau gesetzt, und so hatte er Gelegenheit, diese außergewöhnliche Dame, mit der er nie vorher zusammengetroffen war, zu sehen und sich mit ihr zu unterhalten. Sie machte an diesem Tag in ihrer tiefen Trauerkleidung einen höchst poetischen Eindruck, und obgleich der geistreiche Scherz und die schillernde Fröhlichkeit, wofür sie berühmt war, jetzt nicht in Anwendung kommen konnten, so fand Schagerström ihre Unterhaltung trotzdem äußerst anregend und aufmunternd. Er zögerte keinen Augenblick, sich vor den Triumphwagen dieser Zauberin spannen zu lassen, und war froh, ihr seinerseits auch eine kleine Freude bereiten zu können, indem er ihr die Predigt ihres Sohnes vom vorletzten Sonntag schilderte, sowie die Wirkung, die sie auf die Zuhörer ausgeübt hatte.
Bei Tisch erhob sich der junge Ekenstedt und hielt eine Rede auf die Verstorbene, der alle Anwesenden mit der größten Bewunderung zuhörten. Man verwunderte sich über die einfache und doch so anziehende und geistreiche Ausdrucksweise sowie über die Anschaulichkeit, womit Karl Artur die Dahingeschiedene, die er offenbar sehr liebgehabt hatte, schilderte.
Schagerströms Aufmerksamkeit und sicherlich auch die von vielen der andern Gäste wurde doch ab und zu von dem Redner abgezogen und richtete sich auf dessen Mutter, die, in Anbetung und Entzücken versunken, ganz still dasaß. Schagerström hörte einen Tischnachbar sagen, die Frau Oberst sei fünfundsechzig oder siebenundsechzig Jahr alt, und obgleich ihr Gesicht nicht gerade ihre Jahre verleugnete, fragte er sich doch, ob wohl irgendeine junge Schönheit über solch sprechende Augen und ein so hinreißendes Lächeln verfügen könnte.
Alles verlief aufs beste; als jedoch die Gäste vom Tisch aufgestanden waren und der Kaffee herumgereicht werden sollte, ereignete sich in der Küche ein kleines Mißgeschick. Das Zimmermädchen, das das schwere Auftragebrett mit den Kaffeetassen hineintragen sollte, zerbrach ein Glas und schnitt sich an einem der Scherben. Das Blut lief ihr über die Hand herab, und in der Eile wußte es niemand zu stillen. So klein auch der Schaden war, das Mädchen konnte das Brett nicht hineintragen, weil das Blut unaufhörlich von der Hand herabtröpfelte.
Als man sich nun nach einer Stellvertreterin für das Zimmermädchen umschaute, weigerten sich alle die andern Schaffnerinnen, das schwere Brett hineinzutragen. In ihrer Not wendete sich da die Haushälterin an das starke und kräftige Mädchen aus Dalarne, das sich ganz richtig in der Küche eingefunden hatte, um die gute Mahlzeit zu kosten, und bat es, das Brett hineinzutragen.
Das Mädchen hob es auch ohne das geringste Zögern auf, worauf sich das Zimmermädchen eine Serviette um die Hand wickelte und mit hineinging, um dafür zu sorgen, daß beim Herumbieten die richtige Rangordnung eingehalten würde.
Eine Aufwärterin mit ihrem Brett pflegt ja in gewöhnlichen Fällen kein besonderes Aufsehen zu erregen. Aber in dem Augenblick, wo das stattliche Mädchen aus Dalarne in ihrer farbenreichen Tracht unter die schwarzgekleideten Gäste trat, zog sie aller Blicke auf sich.
Karl Artur Ekenstedt drehte sich ebenfalls nach ihr um. Ein paar Sekunden lang starrte er sie an, ohne zu begreifen, dann aber stürzte er auf sie zu und faßte nach ihrem Brett.
»Du darfst in diesem Hause hier nicht den Kaffee herumreichen, Anna Svärd,« sagte er, »denn du bist meine Braut.«
Das schöne Mädchen sah ihn halb ängstlich, halb erfreut an.
»Nein, nein, laß mich allein, bis dies fertig ist,« sagte sie abwehrend.
Um diese Zeit hatten sich alle Gäste in dem großen Salon versammelt, der Bischof und seine Gattin, der Landeshauptmann und seine Gemahlin, sowie alle die andern Gäste, und alle miteinander sahen, wie der Sohn des Hauses dem Mädchen das Kaffeebrett abnahm und es auf einen Tisch in der Nähe stellte.
»Ich wiederhole dir,« sagte er mit lauter Stimme, »du darfst in diesem Hause nicht den Kaffee herumreichen, denn du bist meine Braut.«
In demselben Augenblick erklang eine laute, durchdringende Stimme.
»Karl Artur, bedenke, was das für ein Tag ist!«
Die Frau Oberst hatte es gerufen. Sie saß ganz drinnen im Zimmer auf einem großen Sofa, wie es ja das Vorrecht der Leidtragenden ist. Vor ihr stand ein großer Sofatisch, und rechts und links von ihr saßen ehrwürdige, korpulente Damen. Sie versuchte sich auch einen Weg zu bahnen, um vorzutreten, aber das brauchte Zeit, weil ihre Nachbarn so von dem in Anspruch genommen waren, was am andern Ende des Zimmers vor sich ging, daß sie ihr nicht Platz machen wollten.
Karl Artur hatte das Mädchen an der Hand gefaßt und zog sie mit sich tiefer ins Zimmer hinein. Sie war schüchtern und hielt wie ein Kind die Hand vor die Augen, sah aber trotzdem glücklich aus. Schließlich machte Karl Artur vor dem Bischof mit ihr halt.
»Bis zu diesem Augenblick hatte ich keine Ahnung von der Anwesenheit meiner Braut in unserem Hause,« sagte er. »Da ich sie aber jetzt entdeckt habe, bitte ich, sie in erster Linie meinem Oberhirten und Bischof vorstellen zu dürfen. Ich erbitte mir Ihre Zustimmung und Ihren Segen zu meiner Verbindung mit diesem jungen Mädchen, das mir versprochen hat, als meine Gefährtin die Wege der Pflicht und Entsagung, die einem Diener Christi geziemen, mit mir zu gehen.«
Es kann nicht geleugnet werden, daß sich der junge Pfarrer durch dieses Auftreten, wenn es auch von verschiedenen Gesichtspunkten aus unpassend war, allgemeine wohlwollende Teilnahme erwarb. Dieses mutige Anerkennen der einfachen Braut, die er sich erwählt hatte, sowie seine tiefgefühlten Worte nahmen viele zu seinen Gunsten ein. Auf seinem bleichen, feinen Gesicht prägte sich in diesem Augenblick eine ungewöhnliche Männlichkeit und Kraft aus, und mehrere der anwesenden Herren mußten zugeben, daß er jetzt einen Weg ging, den zu betreten sie sich wohl gehütet haben würden.
Karl Artur hatte wahrscheinlich noch viel mehr sagen wollen, doch jetzt ertönte ein lauter Schrei hinter ihm. Frau Beate hatte sich von dem Sofa her durchgearbeitet und war mit raschen Schritten auf die Gruppe vor dem Bischof zugeeilt. Aber in ihrer Bestürzung und Eile trat sie auf ihr langnachschlappendes Trauergewand, stolperte und fiel zu Boden. Dabei stieß sie gegen die scharfe Ecke eines Seitentisches und schlug sich eine schlimme Wunde in die Stirne.
Rufe und Teilnahmsbezeigungen ertönten ringsum und vielleicht auch ein Seufzer der Erleichterung von seiten des Bischofs, der aus einer ganz peinlichen Lage befreit worden war. Karl Artur ließ die Hand seiner Braut los und eilte zu seiner Mutter hin, um ihr aufzuhelfen. Aber das war keine ganz leichte Sache. Frau Beate hatte zwar die Besinnung nicht verloren, was sicherlich viele andere Damen in ihrer Lage getan hätten, aber sie war offenbar sehr schlimm gefallen und konnte nicht wieder aufstehen. Schließlich gelang es dem Oberst Ekenstedt, mit Hilfe seines Sohnes, des Hausarztes, und des Schwiegersohnes, Leutnant Arcker, die Verletzte in einen Lehnstuhl zu heben, und in diesem wurde sie in ihr Schlafzimmer getragen, wo die Töchter und die vortreffliche Haushälterin sich um sie bemühten, ihr die Kleider auszogen und sie zu Bett brachten.
Man kann sich leicht vorstellen, welche Aufregung dieser Unglücksfall verursachte. Die Trauergäste blieben ganz bestürzt in dem großen Salon stehen und wollten sich nicht entfernen, ehe sie Bescheid über den Zustand der Frau Oberst erhalten hätten.
Man sah den Oberst, die Töchter und die Dienerinnen mit ängstlichen Gesichtern durch die Zimmer eilen, um Leinwand zum Verbinden und Scharpie sowie eine Holzlatte herbeizuschaffen, die zum Schindeln eines Armes verwendet werden konnte, denn allem nach hatte die Frau Oberst einen Arm gebrochen.
Schließlich erfuhr man auf wiederholtes Ausfragen der Dienstboten, daß die Wunde auf der Stirne, die am bedenklichsten ausgesehen hatte, nicht gefährlich sei, daß die Frau Oberst aber den linken Arm gebrochen habe und ihn in der Schlinge tragen müsse, daß aber auch dieser Bruch bald wieder geheilt sein werde. Dagegen stehe es mit dem einen Knie recht ernst. Die Kniescheibe habe einen Sprung bekommen, und damit dieser heilen könne, müsse die gnädige Frau ganz stilliegen, man könne noch nicht sagen, wie lange.
Als die Gäste so viel erfahren hatten, verstanden sie, daß die Familie jetzt auch ohne sie genug zu tun und zu überlegen hatte, und so rüsteten sie sich zum Aufbruch. Während die Herren im Flur nach ihren Hüten und Überziehern suchten, kam plötzlich Oberst Ekenstedt in aller Eile heraus. Er schaute sich eifrig um, bis er Schagerström erblickte, der eben seine Handschuhe zuknöpfte.
»Herr Hüttenbesitzer Schagerström,« sagte der Oberst, »wenn es Ihre Zeit erlaubt, möchte ich Sie bitten, noch einen Augenblick hierzubleiben.«
Schagerströms Gesicht drückte zwar leichte Verwunderung aus; aber er nahm trotzdem den Hut rasch ab, zog den Überzieher wieder aus und folgte dem Oberst in den jetzt fast leeren Salon.
»Ich möchte gern ein paar Worte mit Ihnen reden, Herr Hüttenbesitzer,« sagte der Oberst. »Wenn Sie Zeit haben, seien Sie so gut und setzen Sie sich einen Augenblick, bis der ärgste Trubel vorüber ist.«
*
Schagerström mußte recht lange warten, bis der Oberst wieder erschien. Der Schwiegersohn des Hauses, Leutnant Arcker, leistete ihm indessen Gesellschaft, und dieser, der ganz empört über das Vorkommnis im Salon war, erzählte dem Hüttenbesitzer von der Ankunft des Mädchens aus Dalarne und ihrem Aufenthalt in dem Ekenstedtschen Hause. Die arme Haushälterin, die ganz verzweifelt darüber war, daß sie das Mädchen gebeten hatte, den Kaffee hereinzutragen und herumzureichen, erzählte jedem, der es hören wollte, wie es gekommen war, daß sie das Mädchen eingeladen, sich am Begräbnistag in der Küche einzufinden, und auf diese Weise erfuhr der junge Hüttenbesitzer sehr bald, wie die ganze Sache zusammenhing.
Endlich erschien der Oberst.
»Gott sei Dank, der Verband ist angelegt!« sagte er. »Beate liegt jetzt ruhig in ihrem Bett. Ich hoffe, sie wird nun das Schlimmste überstanden haben.«
Er setzte sich nieder und wischte sich die Augen mit einem großen seidenen Taschentuche. Oberst Ekenstedt war ein hoher, stattlicher Herr mit einem runden Kopf, roten Wangen und einem gewaltigen Schnurrbart. Er sah wie ein munterer, tapferer Soldat aus, und Schagerström verwunderte sich über das Zartgefühl, das er zeigte.
»Sie denken wohl, ich sei eine Memme, Herr Hüttenbesitzer,« sagte er; »aber meine Frau ist das Glück meines ganzen Lebens gewesen, und wenn ihr etwas zustößt, dann ist es aus mit mir.«
Doch Schagerström dachte gewiß nichts Derartiges. Er, der beinahe vierzehn Tage in vollkommener Einsamkeit auf Groß-Sjötorp verbracht und gegen seine unglückliche Liebe zu Charlotte Löwensköld angekämpft hatte, war in der richtigen Stimmung, den Oberst zu verstehen.
Er war entzückt von der treuherzigen Art und Weise, womit dieser Ehrenmann von seiner Liebe zu seiner Gattin redete, er fühlte sofort für den Oberst warme Teilnahme und ein Vertrauen, das er niemals für dessen Sohn empfunden hatte, obgleich er nicht leugnen konnte, daß Karl Artur sehr große Gaben zu eigen habe.
Der Oberst hatte indes Schagerström gebeten, noch eine Weile dazubleiben, weil er mit ihm über Charlotte reden wollte.
»Verzeihen Sie einem alten Manne,« sagte er, »daß ich mich in Ihre Angelegenheiten mische, Herr Schagerström. Ich habe aber natürlich von Ihrer Werbung um Charlotte gehört und möchte Ihnen deshalb nur eines sagen: Wir hier in Karlstadt ...«
Er brach rasch ab. Die eine Tochter stand auf der Schwelle und schaute ängstlich ins Zimmer herein.
»Was gibt's, Jacquette? Geht es ihr schlechter?«
»Nein, nein, durchaus nicht, lieber Vater. Aber die liebe Mutter fragt nach Karl Artur.«
»Ich glaubte, er sei noch drinnen bei Mutter,« entgegnen der Oberst.
»Nein, er ist schon lang nicht mehr bei ihr. Er hat nur geholfen, Mutter hineinzutragen. Seither haben wir ihn nicht mehr gesehen.«
»Sieh nach, ob er nicht auf seinem Zimmer ist!« sagte der Oberst. »Er ist gewiß hinaufgegangen, um seine Sonntagskleider auszuziehen.«
»Jawohl, Vater.«
Sie trippelte fort, und der Oberst wendete sich wieder an Schagerström.
»Wo bin ich gewesen, als ich abbrach, Herr Hüttenbesitzer?«
»Sie sagten, wir hier in Karlstadt ...«
»Jawohl, ja. Ja, ich wollte sagen, wir hier in Karlstadt seien vom ersten Augenblick an überzeugt gewesen, daß Karl Artur einen Mißgriff getan habe. Meine Frau fuhr nach Korskyrka, um zu untersuchen, wie sich die Sache verhielt, und sie fand, das Ganze müsse ...«
Wieder hielt der Oberst jäh inne. Diesmal stand Frau Arcker, die verheiratete Tochter, auf der Schwelle.
»Vater, du hast wohl Karl Artur nicht gesehen? Die liebe Mutter fragt beständig nach ihm und kann sich nicht beruhigen.«
»Sage Mödig, ich wolle ein paar Worte mit ihm sprechen,« erwiderte der Oberst.
Die junge Frau verschwand; aber nun hatte der Oberst keine Ruhe mehr, das unterbrochene Gespräch mit Schagerström wieder aufzunehmen. Er wanderte im Zimmer hin und her, bis sein Offiziersbursche hereintrat.
»Weiß Er, ob dieses Mädchen aus Dalarne noch in der Küche ist?«
»Gott bewahre, Herr Oberst! Sie kam laut weinend aus dem Salon hier herausgestürzt, hielt sich nicht einen Augenblick mehr auf, sondern lief auf und davon.«
»Und der Junge? ... Ich meine Doktor Ekenstedt?«
»Er kam eine Weile später in die Küche und fragte nach ihr. Als er hörte, daß sie fortgelaufen war, lief er auch auf die Straße hinaus.«
»Mödig, Er soll sich sogleich auf den Weg machen und Doktor Ekenstedt suchen. Sag' Er ihm, die Frau Oberst sei gefährlich krank und sehne sich nach ihm.«
»Zu Befehl, Herr Oberst!«
Damit war der Bursche auch sofort verschwunden, und der Oberst knüpfte das Gespräch mit Schagerström aufs neue an.
»Sobald wir erfahren hatten,« sagte er, »wie sich die Sache wirklich verhielt, gedachten wir eine Versöhnung zwischen den beiden jungen Leuten herbeizuführen. Dazu aber mußten wir in erster Linie das Mädchen aus Dalarne entfernen und dann ...«
Er stockte, voller Angst, etwas Unhöfliches gesagt zu haben.
»Ich drücke mich gewiß sehr schlecht aus, Herr Hüttenbesitzer. Eigentlich hätte ja meine Frau mit Ihnen reden sollen. Sie hätte es auf die richtige Art getan.«
Schagerström beeilte sich, den Oberst zu beruhigen.
»Sie drücken sich ganz genügend gut aus, Herr Oberst,« sagte er. »Und was mich betrifft, so kann ich Sie sofort darüber aufklären, daß ich tatsächlich nicht mehr mitzähle. Fräulein Löwensköld hat mein Versprechen, das Aufgebot abbestellen zu dürfen, sobald es ihr beliebt.«
Der Oberst stand auf, ergriff Schagerströms Hand, drückte sie warm und ergoß sich in Dankesbezeigungen.
»Das wird Beate freuen,« sagte er. »Es ist die beste Nachricht, die man ihr bringen kann.«
Schagerström konnte darauf keine Antwort mehr geben, denn Frau Arcker erschien aufs neue im Zimmer.
»Lieber Vater, ich weiß nicht, was ich tun soll. Karl Artur ist daheim gewesen, aber nicht zu der lieben Mutter hereingekommen.«
Sie erzählte, sie habe im Schlafzimmer am Fenster gestanden und da Karl Artur die Straße herabkommen sehen. »Jetzt seh' ich Karl Artur!« hatte sie der Mutter zugerufen. »Er ist gewiß sehr in Sorge um dich, liebe Mutter. Er läuft beinahe.«
Während der nächsten Minuten hatte sie auf das Erscheinen des Bruders im Krankenzimmer gewartet; aber plötzlich hatte Jacquette, die am Fenster stehengeblieben war, ausgerufen:
»Herr Gott im Himmel! Da läuft Artur wieder der Stadt zu. Er ist nur hier gewesen, um seinen Anzug zu wechseln.«
In diesem Augenblick hatte sich Frau Beate in ihrem Bett aufgerichtet.
»Nein, nein, liebe Mutter! Lieg' nur ganz still, der Doktor hat es befohlen!« hatte sie Frau Eva Arcker ermahnt. »Ich werde Karl Artur schon herbeischaffen.«
Sie eilte ans Fenster, um die Riegel aufzumachen und den Bruder zurückzurufen. Aber der oberste Riegel hatte sich etwas verschoben, und so bekam die Mutter Zeit, ihr zu verbieten, das Fenster zu öffnen.
»Du darfst es nicht tun. Laß es sein!« rief sie.
Frau Arcker hatte aber doch das Fenster aufgerissen und sich hinausgebeugt, um Karl Artur zurückzurufen.
Das hatte ihr jedoch Frau Beate mit ihrer allerstrengsten Stimme verboten und sie dadurch gezwungen, das Fenster wieder zu schließen. Danach hatte sie aufs bestimmteste angeordnet, weder die Tochter noch irgend sonst jemand dürfe Karl Artur nach Hause rufen. Und jetzt wünsche sie, der Oberst solle in ihr Schlafzimmer kommen, wahrscheinlich, um ihm dieselbe Weisung zu erteilen.
Der Oberst stand auf, um sich zu seiner Frau zu begeben, und Schagerström benützte die Gelegenheit, sich bei Frau Arcker nach dem Befinden der Frau Oberst zu erkundigen.
»Mutter hat nicht viel Schmerzen,« sagte Frau Eva, »und sie hätten auch nicht viel zu bedeuten, wenn nur Karl Artur zurückkäme. Ach, wer doch nur in die Stadt laufen dürfte, um ihn zu suchen!«
»Ich verstehe, wie innig die Frau Oberst an ihrem Sohne hängt!« entgegnete Schagerström.
»O ja, Herr Hüttenbesitzer. Mutter fragt nach niemand anders als nach ihm. Und jetzt liegt sie drinnen und denkt immer nur darüber nach, daß er diesem Mädchen aus Dalarne nachläuft und nicht zu ihr hereinkommt, obwohl er weiß, daß die liebe Mutter krank ist. Das ist sehr hart für sie, und wir dürfen nicht einmal nach ihm suchen lassen.«
»Die Gefühle der Frau Oberst sind mir in dieser Sache sehr begreiflich,« erwiderte Schagerström. »Mir aber hat sie nicht verboten, mich nach ihrem Sohne umzusehen, deshalb werde ich jetzt gehen und mir alle Mühe geben, ihn zu finden.«
Er war schon auf dem Wege nach dem Flur, als der Oberst wieder eintrat.
»Meine Frau möchte gern selbst ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Herr Hüttenbesitzer,« sagte er. »Sie möchte Ihnen danken.«
Damit nahm er Schagerström bei der Hand und führte ihn mit einer gewissen Feierlichkeit in das Krankenzimmer.
Schagerström, der eben vorhin noch die lebhafte, anziehende Weltdame bewundert hatte, war ganz erschüttert, als er sie nun als eine arme Kranke mit verbundenem Kopf und fahlem Gesicht, gleichsam kleiner geworden, wiedersah. Frau Beate sah zwar nicht eigentlich leidend aus, aber ihre Züge zeigten einen sehr strengen, beinahe drohenden Ausdruck. Etwas, das sie viel furchtbarer getroffen hatte als der Fall und die schweren körperlichen Schäden, hatte einen stolzen, verachtungsvollen Zorn in ihr erweckt. Die Umherstehenden wußten, was diesen Zorn hervorgerufen hatte, und sie mußten sich sagen, Frau Beate werde vielleicht niemals imstande sein, ihrem Sohn die Lieblosigkeit, die er heute an den Tag gelegt hatte, zu verzeihen.
Als Schagerström an das Bett trat, schlug Frau Beate die Augen auf und sah ihn lange und prüfend an.
»Herr Hüttenbesitzer, lieben Sie Charlotte?« fragte sie mit matter Stimme.
Schagerström fiel es schwer, sein Herz vor dieser fremden Dame, die er heute zum erstenmal sah, offen darzulegen. Aber ebensowenig konnte er diesem kranken, unglücklichen Geschöpf gegenüber lügen. Er schwieg also.
Die Frau Oberst brauchte indes keine Antwort. Sie wußte trotzdem, was sie zu wissen nötig hatte.
»Meinen Sie, Charlotte liebe Karl Artur noch immer?« fragte Sie weiter.
Diesmal konnte ihr Schagerström ohne das geringste Zögern antworten. Ja, Charlotte liebe ihren Sohn mit unveränderter Zärtlichkeit.
Wieder sah Frau Beate Schagerström mit einem von Tränen verschleierten Blick an.
»Es ist schwer, Herr Hüttenbesitzer,« sagte sie mit sehr sanfter Stimme, »wenn der, den man liebt, keine Liebe für uns hat.«
Schagerström begriff! Sie sprach mit ihm in dieser Weise, weil er wußte, was es hieß, verschmäht zu sein. Und plötzlich war Frau Beate keine Fremde mehr für ihn. Das Leid verband sie. Sie fühlte mit ihm, er mit ihr. Und für den einsamen Mann war ihr Mitgefühl eine Linderung und ein Balsam.
Leise trat er näher, ergriff sachte ihre Hand, die auf der Bettdecke lag, und küßte sie.
Da ruhte ihr Blick zum drittenmal lange auf ihm. Jetzt war dieser Blick nicht mehr von Tränen verschleiert, er drängte sich suchend und forschend bis auf den Grund seines Herzens. Dann sagte sie in fast zärtlichem Tone:
»Ich wollte, Sie wären mein Sohn, Herr Hüttenbesitzer.«
Schagerström überfiel ein leichtes Zittern. Wer hatte es Frau Beate eingegeben, gerade so zu ihm zu sprechen? Wußte diese Frau denn, die er heute zum ersten Male sah, wie oft er weinend vor der Tür seiner Mutter gestanden und sich nach ihrer Liebe gesehnt hatte? Wußte sie, mit welcher Furcht er sich seinen Eltern genähert hatte, voller Angst, sich ihren mißbilligenden Blicken auszusetzen? Wußte sie, daß er stolz gewesen wäre, falls die einfachste Bauernfrau gesagt hätte, sie wünsche sich einen Sohn, der ihm ähnlich wäre? Wußte sie, daß nichts eine größere Ehre und Erhöhung für ihn sein konnte als diese Worte?
Von Dankbarkeit überwältigt, warf er sich neben dem Bette nieder. Er weinte und versuchte mit einigen unverständlichen Aussprüchen auszudrücken, was er fühlte.
Die übrigen Anwesenden fanden ihn sicherlich sehr rührselig; aber wer von allen hätte wohl verstehen können, was diese Worte für ihn bedeuteten? Ihm war, als falle alle Häßlichkeit, alle Schwerfälligkeit, alle Dummheit von ihm ab. Seit dem Tage, wo seine verstorbene Gattin zu ihm gesagt hatte, daß sie ihn liebe, hatte er nichts Ähnliches mehr empfunden.
Aber Frau Beate verstand alles, was sich in ihm regte. Noch einmal sagte sie, gleichsam, damit er ihr richtig glauben solle:
»Es ist wahr, ich wünschte, Sie wären mein Sohn, Herr Hüttenbesitzer.«
Da kam Schagerström plötzlich ein Gedanke. Ja, ja, die einzige Art, wodurch er ihr das Glück, das sie ihm geschenkt hatte, vergelten konnte, war, ihren Sohn zu ihr zurückzuführen. Und er eilte hinaus, um ihn zu suchen.
*
Der erste Mensch, dem Schagerström auf der Straße begegnete, war Leutnant Arcker, der zu demselben Zweck unterwegs war. Auch der Bursche des Obersts wurde getroffen, und mit Hilfe dieser beiden traf Schagerström die nötigen Vorkehrungen. Die gewöhnliche Unterkunft des Mädchens aus Dalarne war bald entdeckt, aber weder sie noch Karl Artur waren dort. Alle andern Häuser, wo sich die Leute aus Dalarne aufzuhalten pflegten, wurden abgesucht, dem Nachtwächter wurde aufgetragen, nach Karl Artur auszuspähen, aber alles war vergebens.
Schon nach kurzem senkte sich die Dunkelheit über die Stadt, und da war es unmöglich, noch etwas auszurichten. In dieser Stadt, die so enge, dunkle Gassen hatte, wo die Häuser dicht zusammengedrängt standen, wo Baracken und Stallungen der allermerkwürdigsten Art ineinandergeschachtelt waren, bot jedes einzelne Gehöfte eine Menge Verstecke, und die Aussicht, da jemand ausfindig zu machen, war äußerst gering.
Schagerström streifte aber doch noch mehrere Stunden lang auf den Straßen umher. Er hatte mit Mamsell Jacquette ausgemacht, sobald Karl Artur nach Hause komme, würde sie ein Licht in eines der Bodenfenster stellen, damit man das Suchen nicht länger fortsetze, aber dieses Licht wurde nicht sichtbar.
Erst lange nach Mitternacht hörte Schagerström rasche Schritte auf sich zukommen. Er ahnte, wer der sich Nähernde war. Bald erkannte er auch in dem rötlichen Schein einer Straßenlaterne die schlanke Gestalt, und da Karl Artur in der rechten Richtung ging, wollte er ihn nicht anreden, sondern begnügte sich damit, ihm die ganze Straße entlang zu folgen, bis sie vor dem Ekenstedtschen Hause ankamen.
Schagerström sah Karl Artur eintreten, und er begriff, daß er nun nichts weiter helfen könne; aber eine große Neugier, zu erfahren, wie die Begegnung zwischen Mutter und Sohn ablaufen würde, trieb ihn vorwärts. Er öffnete die Haustür ein paar Augenblicke nach Karl Artur und trat in den Flur.
Da stand der Sohn des Hauses schon von allen den Seinigen umringt. Offenbar hatte keines von allen den Mut gehabt, zu Bett zu gehen. Der Oberst trat mit einem Licht in der Hand auf seinen Sohn zu und leuchtete ihm ins Gesicht, wie wenn er sagen wollte:
»Bist du's, oder ist es ein anderer?«
Die beiden Schwestern kamen die Treppe herabgelaufen, die Haare in Lockenwickeln, aber sonst vollständig angekleidet. Die Haushälterin und der Bursche eilten aus der Küche herbei.
Es war Karl Arturs Absicht gewesen, sich so leise wie möglich in sein Zimmer hinaufzuschleichen, ohne jemand zu wecken. Er war auch die halbe Treppe hinaufgekommen, aber da von der herzueilenden Hausgenossenschaft aufgehalten worden.
Als Schagerström hinzutrat, sah er, daß die beiden Schwestern die Hände des Bruders ergriffen hatten, um ihn mit sich fortzuziehen.
»Komm mit herein zu der lieben Mutter! Du hast keine Ahnung, wie sie sich nach dir sehnt!«
»Ist das denn eine Art, aus dem Hause zu laufen, ohne dich um deine Mutter zu kümmern, obwohl du weißt, daß sie krank ist?« rief der Oberst.
Karl Artur war auf der Treppe stehengeblieben. Sein Gesicht war wie aus Stein gehauen. Er gab weder Zeichen von Ärger noch von Verlegenheit von sich.
»Wünschest du, Papa, daß ich jetzt sofort zu Mama hineingehe?« fragte er. »Wäre es nicht besser, bis morgen zu warten?«
»Zum Kuckuck! Natürlich sollst du zu ihr! Sie hat jetzt Fieber vor lauter Hoffen und Harren auf dein Kommen.«
»Verzeih, Papa, aber das ist nicht meine Schuld.«
In das Wesen des Sohnes trat offenbar etwas Feindseliges. Doch der Oberst wollte augenscheinlich jeden Zornausbruch vermeiden, und so sagte er freundlich überredend:
»Zeig' ihr nur, daß du heimgekommen bist. Geh zu ihr und gib ihr einen Kuß, dann ist morgen alles wieder gut!«
»Ich kann sie nicht küssen,« erwiderte der Sohn.
»Verdammter Bursche!« entfuhr es dem Oberst. Doch im gleichen Augenblick fand er seine Selbstbeherrschung wieder. »Sag', was du meinst! Aber halt – komm mit mir hier herein!«
Er zog ihn mit sich in sein Arbeitszimmer und machte vor der Nase der neugierigen Schar die Tür hinter sich zu.
Gleich darauf trat er wieder heraus und auf Schagerström zu. »Es wäre mir lieb, wenn Sie der Unterredung beiwohnen wollten,« sagte er.
Schagerström folgte ihm sofort, und abermals schloß sich die Tür. Der Oberst setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»So, nun sag', was mit dir los ist!«
»Du sagst, Mama habe Fieber, so muß ich wohl dir meine Erklärung geben, Papa, obgleich ich wohl weiß, daß sie die eigentliche Anstifterin ist.«
»Darf man fragen, wo du hinauswillst?«
»Was ich zu sagen habe, ist, daß ich von heute ab mein Elternhaus nicht mehr betreten werde.«
»Ei sieh!« sagte der Oberst. »Und der Grund?«
»Dies ist der Grund, Vater.«
Er zog ein Bündel Banknoten aus der Tasche, legte es auf den Schreibtisch vor den Oberst hin und schlug hart mit der Hand darauf.
»So, so,« sagte der Oberst. »Sie konnte also den Mund nicht halten?«
»Doch,« versetzte Karl Artur, »sie schwieg, solange sie konnte. Wir saßen stundenlang auf dem Kirchhof, und sie sagte nur immer wieder, sie müsse ihrer Wege gehen und dürfe mich niemals wiedersehen. Erst als ich sie beschuldigte, sie habe sich hier in Karlstadt einen andern Liebhaber angeschafft, gestand sie mir, daß meine Eltern sie mit Geld bestochen hätten, mich freizugeben. Mein Vater habe außerdem gedroht, mich zu enterben, falls ich sie heirate. Was konnte sie da anderes tun? Sie nahm die zweihundert Taler, die man ihr geboten hatte. Es hat mich ungemein belustigt, zu hören, wie hoch meine Eltern meine Person einschätzen.«
»Na,« sagte der Oberst achselzuckend, »wir haben ihr noch das Fünffache zur Aussteuer versprochen, wenn sie sich mit einem andern verheiratet.«
»Auch das hat sie mir gesagt,« fuhr Karl Artur mit kurzem Auflachen fort. Dann ging er zu leidenschaftlicheren Tönen über. »Und so handeln mein Vater und meine Mutter gegen mich! Vor vierzehn Tagen besuchte mich meine Mutter in Korskyrka. Ich besprach meine Heiratspläne mit ihr und sagte ihr, dieses junge Mädchen sei mir eigens von der Vorsehung zugeschickt worden, und ich hätte die feste Überzeugung, mit ihr ein Gott wohlgefälliges Leben führen zu können. Sie sei meine Hoffnung, und das Glück meines Lebens hänge von ihrem Besitze ab. Meine Mutter hörte dies alles an. Sie schien gerührt, sie gab mir recht. Und jetzt, vierzehn Tage nachher, muß ich erfahren, daß sie versucht hat, uns zu trennen. Was soll ich von einer solchen Herzlosigkeit, einer solchen Falschheit denken? Muß es mir nicht davor grausen, eine solche Frau Mutter nennen zu müssen?«
Der Oberst zuckte wieder die Achseln. Er sah weder schuldbewußt noch reuevoll aus.
»Na ja,« sagte er. »Du tatest Beate leid nach dem bösen Streich, den Charlotte dir gespielt hatte, und so wollte sie dich wegen dieser neuen Verlobung nicht schelten. Aber natürlich war es ihr und mir sofort klar, daß du vom Regen in die Traufe gekommen warst. Wir dachten, die Sache sollte eine Weile ihren Lauf haben, und dann plumpste ja die Gottgesandte mitten unter uns arme Sünder herein. Beate nahm das Mädchen ins Haus, um zu sehen, was wirklich an ihr ist. Ja, gewiß, sie ist in vieler Hinsicht ein ganz prächtiges Menschenkind; aber sie kann weder lesen noch schreiben, außerdem raucht sie Pfeife, und was die Reinlichkeit betrifft – ja, mein Junge, wir wollten alles aufs beste einrichten, und du wärst es noch ganz zufrieden gewesen, hättest du dir nur Zeit gelassen, zur Vernunft zu kommen. Daß dies Unglückskind mit dem Kaffeebrett hereinkommen mußte, verdarb die ganze Geschichte.«
»Siehst du nicht, Vater, was das war?«
»Gewiß seh ich, daß es ein verfluchtes Pech war.«
»Ich aber sehe darin Gottes Hand. Dieses Mädchen hat Gott selber mir zum Weibe auserkoren, darum ließ er sie von neuem meinen Weg kreuzen. Und noch mehr! Ich erkenne auch Gottes gerechte Strafe. Als ich den Bischof bat, unsere Verbindung zu segnen, da eilte meine Mutter herbei, um es zu verhindern. Meine Mutter glaubte, wenn sie sich den Anschein gebe, zu straucheln, zu fallen, so mache das der Sache das rascheste Ende. Aber das Manöver glückte nur allzugut. Gott griff ein.«
Doch jetzt verließ den Oberst seine bisherige Kaltblütigkeit.
»Schweig, Bursche! Wie darfst du es wagen, deine Mutter einer solchen Hinterlist zu beschuldigen?«
»Verzeih, Vater, aber ich habe in letzter Zeit Gelegenheit gehabt, Proben weiblicher Falschheit kennenzulernen. Meine Mutter und Charlotte haben meinem Herzen eine Lehre erteilt, die es nicht so bald vergessen wird.«
Der Oberst saß einige Augenblicke still da und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Gut, daß du Charlottes Falschheit erwähnst,« begann er dann. »Darüber wollte ich auch noch mit dir reden. Du wirst mir niemals weismachen, Charlotte habe dich aufgegeben, um einen reichen Mann zu heiraten. Sie liebt dich mehr als alle Reichtümer der Welt. Meiner Ansicht nach bist du allein an allem schuld, aber sie hat alles auf sich genommen, damit wir, deine Eltern, dir nicht böse sein sollten und du dem Tadel der Welt entgehest. Was sagst du dazu?«
»Sie hat das Aufgebot verkündigen lassen.«
»Denk' doch ein wenig nach, Karl Artur,« sagte der Oberst. »Entferne doch einmal aus deinen Gedanken alles, was du dir über Charlottes Schlechtigkeit eingebildet hast. Kannst du dir denn gar nicht vorstellen, daß sie sich selbst beschuldigte, nur um dir zu helfen? Sie läßt die ganze Welt glauben, eure Verlobung sei auf ihre Veranlassung hin aufgehoben worden, aber denk' doch nach und prüfe dein Gewissen! Warst nicht du es, der den Bruch verschuldet hat?«
Karl Artur stand eine Weile ganz still da. Er wollte wirklich seinem Vater gehorsam sein und sein Gedächtnis durchforschen. Dann wandte er sich hastig an Schagerström.
»Wie kam es, daß Sie ihr einen Blumenstrauß schickten, Herr Schagerström? Hatten Sie an jenem Montag nachmittag irgendeine Nachricht von Charlotte erhalten? Und was hatte der Propst bei Ihnen zu tun?«
»Die Blumen sandte ich als Beweis meiner Hochachtung,« antwortete Schagerström. »Von Fräulein Löwensköld erhielt ich keinerlei Nachricht an jenem Montag, und der Propst machte mir nur einen Gegenbesuch.«
Karl Artur versank wieder in tiefe Gedanken.
»Wenn es so ist,« sagte er endlich, »kann man annehmen, daß mein Vater recht hat.«
Seine beiden Zuhörer atmeten erleichtert auf. Das war ein schönes Anerkennen eines begangenen Mißgriffs. Kein gewöhnlicher Mensch hätte sich zu so etwas herbeigelassen.
»Aber wenn es so ist – -,« begann der Oberst. »Doch vor allem mußt du wissen, daß Herr Schagerström gelobt hat, allen Ansprüchen – – -«
Karl Artur fiel ihm ins Wort.
»Herr Schagerström braucht um meinetwillen kein Opfer zu bringen. Ich bitte dich, Vater, dir darüber klar zu sein, daß ich das Band mit Charlotte niemals wieder anknüpfen werde. Ich liebe eine andere.«
Der Oberst schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Mit dir kommt man nicht vom Fleck! Du bist doch wohl nicht der Ansicht, daß so viel Treue, eine solche Aufopferung gar keinen Wert hätten?«
»Ich sehe es als eine Fügung der Vorsehung an, daß das Band zwischen Charlotte und mir zerrissen ist.«
»Ich verstehe,« sagte der Oberst mit großer Bitterkeit. »In ganz derselben Weise dankst du Gott, daß auch zwischen dir und deinen Eltern das Band zerrissen ist.«
Der junge Mann schwieg.
»Merk auf meine Worte! Du bist auf dem Weg in dein Verderben,« fuhr der Oberst fort. »Im Grunde ist es ja unsere eigene Schuld. Beate hat dich in einer Weise verwöhnt, daß du dich jetzt für einen Halbgott hältst, und ich habe sie gewähren lassen, weil ich ihr nie etwas abschlagen konnte. Und nun lohnst du es ihr so, wie ich es vorausgesehen habe. Ich für meinen Teil habe stets gewußt, daß es so kommen würde, aber nichtsdestoweniger ist es furchtbar bitter, wenn es wirklich so kommt.«
Er schwieg und tat einige stöhnende Atemzüge.
»Nun sag' mal, mein Junge,« sagte er endlich mit freundlicher Stimme, »nun du alle unsere bösen Anschläge zunichte gemacht hast, willst du nicht jetzt hineingehen und deiner Mutter einen Kuß geben, damit sie Ruhe findet?«
»Wenn ich, wie du sagst, Vater, alle eure bösen Anschläge zunichte gemacht habe, soll ich dann auch etwa die verderbliche Geistesrichtung vergessen, die meine Angehörigen auszeichnet? Wohin ich blicke, nichts als Weltliebe und was daraus entspringt, Eitelkeit und Falschheit.«
»Laß das unsere Sorge sein, Karl Artur. Wir sind altmodische Leute. Wir haben unsere Gottesfurcht, wie du die deine.«
»Vater, ich kann nicht!«
»Ich persönlich bin fertig mit dir,« fuhr der Oberst fort; »aber sie, sie ... du weißt ja doch, daß sie glauben mußte, du habest sie lieb. Ich bitte dich für sie, Karl Artur, nur allein für sie!«
»Die einzige Barmherzigkeit, die ich meiner Mutter erzeigen kann, ist, daß ich fortgehe, ohne ihr zu sagen, wie tief sie mein Herz durch ihre Falschheit verwundet hat.«
Der Oberst erhob sich.
»Du weißt nicht, was Liebe ist.«
»Ich bin ein Diener der Wahrheit. Ich kann meine Mutter nicht küssen.«
»Geh jetzt zu Bett!« sagte der Alte. »Schlaf einmal darüber.«
»Ich habe den Kutscher auf vier Uhr bestellt, und dazu fehlt nur noch eine Viertelstunde.«
»Der Kutscher,« entgegnete der Oberst, »kann um zehn Uhr wiederkommen. Tu, was ich sage. Schlafe darüber.«
Zum erstenmal ward bei Karl Artur ein gewisses Zaudern bemerkbar.
»Wenn meine Eltern ihre weltliche Lebensweise ändern wollen; wenn sie leben wollen wie Leute von geringem Stande, wenn meine Schwestern den Armen und Kranken dienen wollen -«
»Komm mir nicht mit Unverschämtheiten!«
»Diese Unverschämtheiten sind Gottes Wort.«
»Gewäsch!«
Karl Artur reckte die Arme empor wie ein Prediger auf seiner Kanzel.
»So vergib du mir, mein Gott, daß ich diese meine leiblichen Eltern verwerfe! Laß nichts, was von ihnen stammt, weder ihre Fürsorge, noch ihre Liebe, noch ihren Besitz, noch ihr Geld mir nahe kommen! Hilf mir, daß ich von diesen sündigen Menschen geschieden bleibe und leben darf in deiner Freiheit!«
Der Oberst hatte regungslos zugehört.
»Der Gott, an den du glaubst, ist ein unbarmherziger Gott,« sagte er, »und wird sicherlich dein Gebet erhören. Und sei dessen gewiß, wenn du einst bittend und bettelnd vor meiner Tür stehen wirst, so will ich auch daran denken.«
Das war das letzte, was zwischen Vater und Sohn gesprochen wurde. Karl Artur ging leise aus dem Zimmer, und der Oberst blieb mit Schagerström allein zurück.
Der alte Mann saß eine Weile still da und hielt den Kopf in die Hände gestützt. Dann wandte er sich an Schagerström mit der Bitte, er möge Charlotte alles Vorgefallene mitteilen.
»Ich bin nicht imstande, darüber zu schreiben,« sagte er. »Sagen Sie Charlotte alles, Schagerström, alles! Ich möchte sie wissen lassen, daß wir versucht haben, ihr zu helfen, obgleich es mißglückt ist. Und sagen Sie ihr auch, daß es nun außer ihr auf der ganzen Welt keinen Menschen gibt, der meinem armen Weibe und meinem armen Sohne helfen könnte.«