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Der Triumph

Ein paar Tage später trat die Frau Propst Forsius eines Vormittags in das Zimmer ihres Mannes, wo er eben an seinem Schreibtisch saß.

»Komm, Alter, geh einmal ins Eßzimmer, dann wirst du etwas Schönes sehen!«

Der alte Herr stand sofort auf und ging ins Eßzimmer. Da sah er Charlotte, die mit einer Stickerei in der Hand an einem der Fenster saß.

Aber sie arbeitete nicht, sondern ließ die Hände müßig im Schoße ruhen und sah unverwandt durchs Fenster hinaus nach dem Seitenflügel, worin Karl Artur seine Wohnung hatte. Ein ununterbrochener Strom von Besuchen bewegte sich an diesem Tage von dem Hoftor nach dem Flügel, und dieser Anblick hielt Charlottes Blick gefesselt.

Der Propst mußte erst noch nach seiner Brille suchen, die aber wohlverwahrt in seinem eigenen Zimmer aufgehoben war. Währenddem betrachtete er Charlotte, die mit einem freundlichen Lächeln alles genau beobachtete, was drüben im Flügel vor sich ging. Eine schwache Röte färbte ihre Wangen, und ihre Augen leuchteten in stiller Begeisterung. Sie bot in der Tat einen schönen Anblick.

Als sie des Propstes Nähe im Zimmer fühlte, sagte sie ein paar Worte.

»Die Leute gehen den ganzen Tag bei Karl Artur ein und aus!«

»Jawohl,« erwiderte der alte Herr trocken. »Sie lassen ihn keinen Augenblick in Ruhe. Nächstens muß ich meine Kirchenbücher wieder selbst führen.«

»Die da eben hineinging, ist die Tochter von Aron Månsson. Sie trug einen Butterkübel in der Hand.«

»Ja, ich verstehe, es soll wohl eine Hilfe für die vielen Kinder sein.«

»Alle Menschen lieben ihn,« fuhr Charlotte fort. »Ich wußte ja, daß das einmal so kommen würde.«

»O ja, wenn man jung und schön ist,« versetzte der alte Herr, »dann ist es nicht schwer, die Weiber zum Weinen zu bringen.«

Doch Charlotte ließ sich in ihrer Bewunderung nicht irremachen.

»Vorhin sah ich einen der Schmiede von Holma daherkommen und zu Karl Artur hineingehen. – Weißt du, Onkel, einen von den Pietisten, die nie in die Kirche gehen und keinen von den gewöhnlichen Pfarrern hören wollen.«

»Was du nicht sagst!« rief der Propst, der nun wirkliches Interesse zeigte. »Hat er diesen Erzblock bewegen können? Wahrhaftig, Mädchen, nun glaub' ich in der Tat, daß noch etwas aus ihm werden kann!«

»Ich muß immer an die Frau Oberst denken,« sagte Charlotte. »Wie glücklich wäre sie, wenn sie das sehen könnte!«

»Ich weiß nicht gerade, ob es diese Art Erfolg ist, wovon sie in Beziehung auf ihren Sohn geträumt hat.«

»Er macht die Leute besser. Mehrere von denen, die von ihm herauskommen, weinen und wischen sich die Tränen von den Augen. Marie Luises Mann ist auch drinnen gewesen. Denk' nur, Onkel, wenn Karl Artur ihm helfen könnte! Wäre das nicht herrlich?«

»Gewiß, gewiß, Charlotte. Das beste von allem ist aber doch, daß es dir Freude macht, hier zu sitzen und die Leute dort drüben aus und ein gehen zu sehen.«

»Während ich hier sitze, denke ich mir aus, worüber sie wohl mit ihm reden, und mir ist, als höre ich, was er zu ihnen sagt.«

»Ja, ja, das ist recht, mein Kind. Aber weißt du was? Ich habe gewiß meine Brille drinnen bei mir.«

»Wäre dies nicht gekommen, dann würde alles ganz unbegreiflich sein,« nahm Charlotte wieder das Wort. »Dann wäre ich in keiner Weise dafür belohnt worden, daß ich ihn zu schützen versucht habe. Aber jetzt begreife ich den Sinn, der darin lag.«

Der alte Herr ging rasch hinaus. Das Mädchen hatte ihn beinahe zum Weinen gebracht.

»Was in aller Welt sollen wir nur mit ihr anfangen?« murmelte er. »Sie ist doch hoffentlich nicht auf dem Wege, den Verstand zu verlieren.«

Wenn aber Charlotte schon an den Werktagen Karl Arturs Triumph genoß, wieviel mehr Grund zur Freude hatte sie, als der Sonntag herankam!

Da wimmelte es auf allen Wegen von Menschen, gerade wie bei einem Besuch des Königs. Zu Wagen und zu Fuß kamen sie in einem ununterbrochenen Strom daher. Es war klar, das Gerücht von der Predigtweise des jungen Pastors, von seiner Frömmigkeit und seiner Kraft hatte sich wie ein Lauffeuer durchs ganze Kirchspiel verbreitet.

»Die Kirche kann die Leute gar nicht alle fassen,« sagte die Frau Propst. »Keine Katze ist daheim geblieben, wie man sagt. Wenn nur kein Brand ausbricht, solange die Höfe alle leerstehen.«

Der Propst war nicht recht zufrieden. Offenbar war eine religiöse Erweckung im Anzug, und er hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn er nur überzeugt gewesen wäre, daß Karl Artur der rechte Mann dazu sei, die angezündete Flamme brennend zu erhalten. Doch um Charlotte nicht zu kränken, die sich wie in einer Verzückung befand, ließ er nichts von seinen Befürchtungen laut werden.

Die beiden alten Leute fuhren in die Kirche, und es wurde als selbstverständlich angenommen, daß Charlotte nicht mitkam. Am Freitag hatte Charlotte von der Frau Oberst ein Briefchen bekommen, worin sie das junge Mädchen bat, noch einige Tage auszuhalten, und demzufolge hatte diese von Schagerströms Erlaubnis, das Aufgebot einzustellen, keinen Gebrauch gemacht. Herr und Frau Forsius fürchteten indes, alle diese Menschen, die Karl Artur geradezu anbeteten, könnten sich an Charlotte vergreifen, und deshalb ließen sie sie zu Hause.

Aber sobald der Wagen um die Gartenecke verschwunden war, setzte Charlotte den Hut auf, warf die Mantille über und ging zu Fuß in die Kirche. Sie konnte der Lust nicht widerstehen, Karl Artur auf die neue kraftvolle Weise, womit er die Herzen aller Menschen gewonnen hatte, predigen zu hören. Nein, sie konnte sich die Freude nicht versagen, Zeuge von all der Verehrung zu sein, die ihn jetzt umgab.

Es gelang ihr, sich in der Kirche in eine der hintersten Bänke hineinzudrängen, und da saß sie nun in atemloser Spannung und Erwartung, bis Karl Artur endlich auf der Kanzel erschien.

Sie verwunderte sich über den ungezwungenen Ton, womit er zu den Zuhörern redete. Es war, wie wenn er nur mit einer Schar Freunde eine Unterredung führte. Er gebrauchte nicht ein einziges Wort, das nicht alle diese einfachen Leute verstehen konnten, und er vertraute ihnen seine Kämpfe und seine Schwierigkeiten an, wie wenn er bei ihnen Rat und Hilfe suchen wollte.

An diesem Tag hatte Karl Artur über das Gleichnis Jesu von dem ungetreuen Haushalter zu predigen. Charlotte wurde es etwas ängstlich zumut, als sie hörte, über welchen schweren Text er predigen mußte. Sie hatte schon viele Pfarrer gerade von diesem Text sagen hören, daß er dunkel und schwer zu deuten sei. Der Anfang und der Schluß scheine gar nicht zusammenzugehören. In der stark verkürzten Form, worin das Gleichnis wiedergegeben sei, liege vielleicht der Grund, warum die heutigen Menschen es nicht mehr verstünden. Charlotte hatte dieses Gleichnis auch noch niemals auf zufriedenstellende Weise erklären hören. Sie hatte die einen Pfarrer über den Anfang und andere Pfarrer über den Schluß predigen hören, aber einen, dem es gelungen war, dem Gleichnis Deutlichkeit und Zusammenhang zu verleihen, hatte sie noch nie angetroffen.

Alle Menschen in der Kirche dachten fast dasselbe, und das ist sehr begreiflich.

»Er predigt gewiß von etwas ganz anderem,« dachte man. »Dieser Text ist ihm zu unbequem. Er wird es machen wie am letzten Sonntag.«

Aber mit größtem Mut und voller Zuversicht machte sich der junge Pfarrer an den gefährlichen Text und gab ihm Sinn und Bedeutung. Von einer heiligen Eingebung geleitet verlieh er dem Gleichnis seine ursprüngliche Schönheit und seine geheimnisvolle Tiefe. Es war, wie wenn man von einem alten Gemälde den hundertjährigen Schmutz wegwäscht und dann ein Meisterwerk vor sich hat.

Je länger Charlotte zuhörte, desto bestürzter wurde sie.

»Woher kommt ihm das alles?« dachte sie. »Er ist es nicht, der da redet, Gott leiht ihm seine Stimme und redet durch ihn!«

Ja, der Propst selbst lauschte mit der Hand hinter dem Ohre, damit ihm kein Wort entgehe. Charlotte sah es, und sie sah auch noch mehr. Die älteren Männer in der Kirche, solche, die sich noch gerne mit Tiefem und Ernstem beschäftigten, waren offenbar die alleraufmerksamsten Zuhörer. Und nun wußte Charlotte eines: Von nun an würde man sich wohl hüten, zu sagen, Karl Artur predige für die Frauen und sein schönes Aussehen sei ihm dabei eine große Hilfe.

Alles war vollkommen. Charlotte war glücklich. Sie fragte sich, ob das Leben je wieder so herrlich, so reich werden könne, wie es in diesem Augenblick war.

Das Merkwürdigste an Karl Arturs Predigt war vielleicht, daß sich den Menschen, während er redete, Frieden und Vergessen aller ihrer Sorgen ins Herz senkte. Sie fühlten sich unter der Führung eines guten, weisen Menschen. Es wurde ihnen nicht angst gemacht, nein, sie wurden emporgehoben. Viele von ihnen legten in ihrem Herzen ein Gelübde ab, das sie später getreulich zu erfüllen suchten.

Es war indes nicht die Predigt selbst, so schön und erhaben sie auch war, die an diesem Sonntag den stärksten Eindruck auf die Kirchgänger machte. Es war auch nicht die Verkündigung der Aufgebote. Als das Charlotte angehende Aufgebot vorgelesen wurde, hörte man es zwar mit großem Mißfallen an, aber man hatte ja zum voraus gewußt, daß es kommen würde. Nein, es war etwas ganz anderes.

Charlotte hatte versucht, die Kirche sofort nach Schluß der Predigt zu verlassen, was ihr aber nicht gelang, weil die Kirche gedrängt voll war; sie mußte also noch während der ganzen Liturgie an ihrem Platze bleiben. Als sich dann die Leute allmählich dem Ausgange zuwendeten, wollte Charlotte den andern abermals zuvorkommen. Aber auch das gelang ihr nicht. Niemand machte ihr Platz. Man sagte zwar nichts zu ihr, aber man erwies ihr auch keine Rücksicht.

Plötzlich fühlte sie, daß sie von Feinden umgeben war. Mehrere von ihren Bekannten wichen ihr aus, als sie in deren Nähe kam. Eine einzige trat zu ihr, und das war ihre tapfere Schwester, Frau Doktor Romelius.

Als die beiden endlich die Kirchentür hinter sich hatten, blieben sie noch einen Augenblick beieinander stehen.

Auf dem Wege vor der Kirche hatten sich mehrere der jungen Herren des Kirchspiels aufgestellt. In den Händen hielten sie Sträuße aus Disteln, gelbem Laub und verdorrten Gräsern, die sie in aller Eile vor der Kirchhofmauer gesammelt hatten. Ihre Absicht war nicht zu verkennen; sie wollten diese Sträuße Charlotte als Gratulation zur Verlobung überreichen. Der große Hauptmann Hammarberg stand etwas weiter vor als die andern. Man hielt ihn im ganzen Kirchspiel für den witzigsten, boshaftesten Menschen; jetzt räusperte er sich, um einen passenden Glückwunsch vorzubringen.

Die Kirchgänger hatten einen dichten Kreis um die jungen Herren gebildet. Man freute sich darauf, zu hören, wie das junge Mädchen, das ihren Bräutigam für Geld und Gut im Stiche gelassen hatte, beschimpft und lächerlich gemacht wurde, ja, man lachte schon im voraus. Hammarberg würde sie sicher nicht schonen.

Es sah aus, als sei Frau Doktor Romelius ängstlich geworden. Sie wollte ihre Schwester wieder mit sich in die Kirche hineinziehen, aber diese weigerte sich.

»Es hat nichts zu bedeuten,« sagte sie. »Jetzt hat nichts mehr etwas zu bedeuten.«

Langsam kamen die beiden Schwestern den Herren näher, die auf sie warteten und ihre Gesichter schon zu einem freundlichen Lächeln verzogen hatten.

Doch ganz plötzlich kam Karl Artur eiligst auf Charlotte und auf Frau Doktor Romelius zugelaufen. Er war eben vorbeigegangen, hatte ihre mißliche Lage bemerkt und kam ihnen nun zu Hilfe.

Er bot der älteren Schwester den Arm, lüftete den Hut vor den gratulierenden Herren, forderte sie durch eine leichte Handbewegung auf, doch von ihrem Vorhaben abzulassen, und führte die beiden Schwestern wohlbehalten hinunter auf die Landstraße. Aber dieses Vorgehen war etwas, das man nicht alle Tage zu sehen bekam. – Karl Artur hatte Charlotte in Schutz genommen, und das war ein sehr schöner Zug von ihm. Von diesem ganzen Sonntag blieb dies eine den Menschen am lebhaftesten in Erinnerung.


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