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Das Aufgebot

1

Am Sonnabend vormittag erschien Schagerström in der Propstei zu Korskyrka. Er wünschte mit dem Propst wegen der Verfolgung, die gegen Charlotte in Gang gesetzt worden war, Rücksprache zu nehmen und mit dem Propst zu beratschlagen, wie ihr Einhalt geboten werden könnte.

Tatsächlich hätte sich Schagerström in keinem passenderen Augenblick einfinden können. Der arme alte Herr war außer sich vor Aufregung. Die fünf kleinen Runzeln auf seiner Stirne leuchteten wieder feuerrot.

An demselben Vormittag hatten sich nämlich drei Herren aus dem Kirchdorf bei dem Propst eingefunden, der Apotheker, der Organist und der Rentmeister. Sie waren einzig und allein hergekommen, um dem Herrn Propst ihren eigenen Wunsch sowie den der ganzen Gemeinde vorzulegen, nämlich, daß er Charlotte aus seinem Hause entferne.

Der Apotheker und der Rentmeister waren ziemlich höflich gewesen. Man hatte ihnen wohl angesehen, wie unangenehm es ihnen war, ein solches Verlangen vorzubringen. Der Organist aber war im höchsten Grade erbittert gewesen. Er hatte sehr laut und ganz unüberlegt gesprochen und die Ehrfurcht, die er seinem Vorgesetzten schuldete, vollkommen außer acht gelassen.

Er hatte dem alten Propst ins Gesicht gesagt, daß es seinem Ansehen in der Gemeinde schade, wenn Charlotte noch länger in der Propstei verbleiben dürfe. Sie habe nicht allein ihren Bräutigam aufs schändlichste betrogen, sich auch nicht nur bei vielen Gelegenheiten ganz ungehörig betragen, sondern sich erst gestern noch an seiner Frau handgreiflich vergangen, die wahrlich nicht erwartet hätte, daß ihr etwas Böses widerfahren würde, wenn sie als Gast in diesem hochgeachteten Hause zu Besuch weile.

Der Propst hatte darauf kurz und gut erklärt, seine Verwandte, Fräulein Löwensköld, werde in seinem Hause verbleiben, solange sein alter Kopf noch aufrecht auf seinen Schultern sitze, und mit diesem Bescheid hatten sich die Herren entfernen müssen.

»Die ganze Schererei will gar kein Ende nehmen,« sagte er zu Schagerström. »So ist es nun die ganze Woche fortgegangen. Und Sie können sich darauf verlassen, Herr Hüttenbesitzer, dieser Organist läßt es nicht beim ersten Angriff bewenden. Er selbst ist ein ganz guter Mensch, aber seine Frau reizt ihn auf.«

Schagerström, der diesmal in ausgezeichneter Laune war, versuchte den Propst zu beruhigen, aber er hatte sehr wenig Glück damit.

»Ich kann Ihnen jedenfalls eines versichern, Herr Hüttenbesitzer, Charlotte ist so unschuldig in dieser Sache wie ein neugeborenes Kind, und es kann mir nie und nimmer einfallen, sie von hier fortzulassen. Aber der Frieden in der Gemeinde, den ich nun in fünfunddreißig Jahren so sorgsam behütet habe, ach, Herr Hüttenbesitzer, der geht verloren!«

Schagerström verstand die Klage des Propstes wohl. Dieser dachte, das, was ihm während seiner ganzen Amtszeit am meisten zur Ehre gereiche, sei nun in Gefahr. Und Schagerström stiegen allerlei Zweifel auf, ob der alte Herr Mut und Kraft genug haben werde, den erneuten Überredungsversuchen der Gemeindeglieder zu widerstehen.

»Um die Wahrheit zu sagen,« begann er, »so habe ich auch von der Verfolgung reden hören, die gegen Fräulein Löwensköld in Gang gesetzt worden ist. Und ich bin gerade deshalb heute hierhergekommen, um mit Ihnen, Herr Propst, zu beraten, wie sie niedergeschlagen werden könnte.«

»Sie sind allerdings ein überaus tüchtiger Mann, Herr Hüttenbesitzer, aber ich zweifle doch, ob es Ihnen gelingen wird, die bösen Zungen im Zaume zu halten. Nein, es bleibt nichts anderes übrig, als zu schweigen und sich auf das Schlimmste vorzubereiten.«

Schagerström wollte widersprechen, aber der alte Herr begann noch ebenso mutlos aufs neue:

»Ja, man muß sich auf das Schlimmste gefaßt machen. Ach, Herr Hüttenbesitzer, wenn Sie doch erst glücklich verheiratet wären ... wenn Sie wenigstens schon aufgeboten wären!«

Bei diesen Worten des Propstes sprang Schagerström von seinem Stuhl auf.

»Was sagen Sie, Herr Propst? Könnte das etwas helfen, wenn wir in der Kirche aufgeboten würden?«

»Natürlich wäre es eine Hilfe« antwortete der Propst. »Wenn die Gemeindeglieder ganz sicher wüßten, daß Charlotte Ihre Frau werden soll, würden sie sie schon in Ruhe lassen. Wenigstens dürfte sie dann bis zum Hochzeitstage hier in der Propstei bleiben, ohne daß irgend jemand etwas dagegen einzuwenden hätte. So sind die Menschen, Herr Hüttenbesitzer. Sie beleidigen meistens den nicht, der Aussicht hat, mächtig und reich zu werden.«

»Dann würde ich Ihnen vorschlagen, gleich morgen das Aufgebot verkündigen zu lassen,« sagte Schagerström.

»Dieser Gedanke macht Ihnen alle Ehre, Herr Hüttenbesitzer, aber es ist unmöglich. Charlotte ist verreist, und Sie tragen die notwendigen Papiere wohl nicht in der Westentasche herum, Herr Schagerström.«

»Die Papiere sind auf Groß-Sjötorp und können herbeigeschafft werden. Wie Sie wissen, Herr Propst, habe ich Fräulein Charlottes bestimmtes Versprechen. Und außerdem sind Sie, Herr Propst, wohl auch der Vormund und der gesetzliche Vertreter der Braut.«

»Nein, nein, Herr Hüttenbesitzer! Nicht so überstürzt! Nicht so überstürzt!«

Nun begann der alte Herr von anderen Dingen zu sprechen. Er zeigte Schagerström eines seiner seltensten Pflanzenexemplare und erzählte ihm, wo er es schließlich gefunden hatte. Während er damit beschäftigt war, wurde er lebendig und beredt. Man hätte meinen können, er habe alle seine Sorgen vergessen.

Nach einer Weile kam er indes wieder auf Schagerströms Vorschlag wegen des Aufgebots zurück.

»Ein Aufgebot ist noch keine Trauung,« sagte er. »Wenn Charlotte nicht damit einverstanden ist, kann sie ja zurücktreten.«

»Es handelt sich ja nur um einen Notbehelf,« erwiderte Schagerström, »damit das gute Verhältnis innerhalb der Gemeinde wiederhergestellt wird und die Verleumdungen und Lästerreden aufhören. Ich habe ganz gewiß nicht die Absicht, Fräulein Charlotte mit Gewalt vor den Traualtar zu schleppen.«

»Ja, wer weiß?« sagte der Propst, der vielleicht an einen gewissen Brief dachte, den er unerlaubterweise gelesen hatte. »Charlotte ist sehr heftiger Natur, das kann ich Ihnen sagen, Herr Hüttenbesitzer. Es wäre wirklich auch für sie am besten, wenn diese Sache zu einem Abschluß käme. Auf die Dauer würde sie sich vielleicht nicht damit begnügen, nur ein paar Locken abzuschneiden.«

Die beiden Herren beredeten die Sache noch eine gute Weile. Je mehr sie über das Aufgebot beratschlagten, desto überzeugter wurden sie, daß es der beste Ausweg aus den Schwierigkeiten wäre.

»Meine Frau würde sicherlich damit einverstanden sein,« sagte der Propst, der schließlich ganz hoffnungsvoll geworden war.

Schagerström dachte, in demselben Augenblick, wo er mit Charlotte in der Kirche aufgeboten sei, habe er das Recht, als ihr Beschützer aufzutreten. Dann würden weder Katzenmusiken noch Schmählieder mehr in Frage kommen können.

Außerdem muß man eines bedenken. Seit er sich in der Postkutsche durch die Unterredung mit Charlotte von deren Uneigennützigkeit überzeugt hatte, waren äußerst zärtliche Gefühle für sie in seinem Herzen aufgestiegen. Der Schritt, den er jetzt tun wollte, hatte etwas sehr Verlockendes für ihn.

Natürlich würde er das nicht einmal sich selbst gegenüber zugegeben haben. Er war überzeugt, daß ihn nur die reinste Notlage zu diesem Vorgehen zwinge. So ist es immer bei verliebten Leuten, und deshalb muß man allen ihren Dummheiten gegenüber Nachsicht walten lassen.

Es wurde also wirklich beschlossen, das Aufgebot am nächsten Tag in der Kirche kundzugeben. Schagerström fuhr ab und holte die notwendigen Dokumente, und der Propst schrieb mit eigener Hand das Aufgebot ins Verkündigungsbuch.

Als alles fertig war, empfand Schagerström in der Tat eine große Befriedigung. Es war ihm durchaus nicht unangenehm, daß sein Name in Verbindung mit dem Charlottes von der Kanzel verlesen werden sollte.

»Der Hüttenbesitzer Gustav Henrik Schagerström und die hochwohlgeborene Jungfrau Charlotte Löwensköld. Ja, das nimmt sich wirklich sehr gut aus,« dachte er.

Er hatte große Lust, es selbst mitanzuhören, und beschloß deshalb, am nächsten Tage dem Gottesdienst in Korskyrka anzuwohnen.

 

2

An diesem Sonntag, wo das erste Aufgebot stattfand, hielt indes Karl Artur eine höchst merkwürdige Predigt. Tatsächlich konnte man ja auch nach den erschütternden Ereignissen, die er in der letzten Woche durchgemacht hatte, gar nichts anderes von ihm erwarten. Vielleicht war es aber auch so, daß diese Ereignisse, die aufgehobene Verlobung sowohl als auch die neueingegangene, den Eindruck seiner Worte noch verstärkten.

Dem Texte des Tages entsprechend hatte er über die falschen Propheten zu predigen, vor denen unser Heiland seine Jünger warnte. Der Stoff schien ihm indes für seine derzeitige Stimmung nicht sehr geeignet. Am liebsten hätte er von der Nichtigkeit der irdischen Dinge gepredigt, von den Gefahren des Reichtums und den Freuden der Armut. Vor allem hatte er die Notwendigkeit verspürt, seinen Zuhörern in vertraulicher einfacher Weise nahezukommen, ihnen begreiflich zu machen, daß er sie liebe, um dadurch ihr Vertrauen zu gewinnen.

Von Unsicherheit und Ungewißheit geplagt, war es ihm im Laufe der Woche nicht geglückt, seine Predigt so zu formen, wie er sie gerne haben wollte. Die ganze letzte Nacht hindurch hatte er weiter daran gearbeitet, aber ohne Erfolg. Die Predigt war noch nicht fertig, als er sich in die Kirche begeben mußte, und um nicht ganz aufs trockene zu kommen, riß er aus einer alten Postille ein paar Blätter heraus, die eine Predigt über den Text des Tages enthielten, und steckte sie zu sich.

Als er dann aber auf der Kanzel das Evangelium vorlas, arbeitete sich in seinem Gehirn ein Gedanke hervor, der ihm ungewöhnlich und verlockend erschien. Er nahm ihn auf, als sei er ihm von Gott gesandt.

»Meine geliebten Zuhörer!« begann er. »Ich stehe hier, um euch im Namen Jesu vor den falschen Propheten zu warnen, aber ihr denkt vielleicht in euren Herzen: Er, der jetzt zu uns spricht, ist er ein rechter Lehrer? Was wissen wir von ihm? Wie können wir gewiß sein, daß er nicht auch ein Dornbusch ist, worauf keine Trauben wachsen können, oder eine Distel, von der man keine Feigen pflücken kann?

Deshalb meine Zuhörer will ich euch von den Wegen erzählen, auf die Gott mich geführt hat, als er einen Verkündiger seines Wortes aus mir machen wollte.«

Unter großer innerer Bewegung begann dann der junge Geistliche den in der Kirche Anwesenden seine einfachen Lebensschicksale zu erzählen. Während seiner ersten Studienjahre sei sein ganzes Streben darauf gerichtet gewesen, ein großer, berühmter Mann der Wissenschaft zu werden. Er schilderte das Abenteuer mit der mißglückten lateinischen Arbeit, seine Rückkehr nach Upsala, nachdem er sich gegen seine Mutter vergangen hatte, die Aussöhnung mit ihr, und schließlich, daß all dies ihm die Bekanntschaft mit dem Pietisten Pontus Friman vermittelt habe.

Karl Artur sprach sehr leise und schüchtern; niemand hätte an der Wahrheit von einem einzigen seiner Worte zweifeln können. Vielleicht war es hauptsächlich der tiefbewegte Klang seiner Stimme, der die Zuhörer gefangennahm. Schon nach den ersten Sätzen saßen alle mit vorgestreckten Hälsen und die Augen fest auf den Prediger geheftet ganz still und regungslos da.

Und wie es immer geht, wenn der Mensch frei und offen zum Menschen spricht, wurden die Zuhörer von ihm angezogen, und sie räumten ihm von dem Augenblick an einen Platz in ihrem Herzen ein. Die Armen von den Waldkaten und die Angesehenen aus den Bergmannshöfen verstanden, daß er ihnen dieses anvertraute, damit auch sie ihm Vertrauen um Vertrauen geben sollten. Sie hörten ihm mit einer so gespannten Aufmerksamkeit zu, wie noch nie vorher, sie waren gerührt und erfreut.

Er fuhr fort in der Erzählung seiner ersten tastenden Versuche in der Nachfolge Jesu, und er beschrieb das Hochzeitsfest in seinem Elternhause, wo die Freude dieser Welt über ihn gekommen war wie ein Rausch, so daß er an dem Tanze teilgenommen hatte.

»Nach dieser Nacht,« fuhr er fort, »herrschte viele Wochen lang dunkle Nacht in meiner Seele. Ich hatte meinen Erlöser verraten, das fühlte ich deutlich. Ich hatte es nicht vermocht, mit ihm zu kämpfen und zu wachen. Ach, ich war der Sklave der Welt, und deren Verlockungen hatten mich besiegt! Niemals würde ich den Himmel erben.«

Sehr viele Leute in der Kirche, die sich bei der Schilderung seiner Angst tief ergriffen fühlten, fingen an zu weinen. Der Mann dort oben auf der Kanzel hatte sie ganz und gar in seiner Macht. Sie fühlten und litten und kämpften mit ihm.

»Mein Freund Friman,« fuhr er fort, »versuchte mich zu trösten und mir zu helfen. Er sagte mir, in der Liebe Christi finde sich Rettung, aber meine Seele konnte sich nicht dazu aufschwingen, meinen Erlöser zu lieben. Ich verehrte alle geschaffenen Dinge mehr als den Schöpfer.

Dann mitten in meiner schlimmsten Not stand in einer Nacht plötzlich Jesus vor mir. Ich schlief nicht. In jener Zeit konnte ich weder bei Nacht noch bei Tag Schlaf finden. Aber Bilder, gleich solchen, die man im Schlafe sieht, zogen oft an meinen Augen vorüber. Ich wußte jedoch, daß sie nur durch meine große Müdigkeit hervorgerufen wurden, und so legte ich ihnen keinerlei Bedeutung bei.

Doch nun plötzlich tauchte ein Bild vor mir auf, das sehr klar und deutlich war und nicht im nächsten Augenblicke wieder verschwand, sondern ruhig stehen blieb. Ich sah einen See mit schimmerndem blauen Wasser, an dessen Ufer eine große Schar Menschen versammelt war. Mitten in dem großen Haufen saß ein Mann mit langem, lockigem Haar und tiefen, traurigen Augen, der mit der Menge zu reden schien, und sobald ich dieses gewahr wurde, wußte ich, daß es Jesus war.

Und seht, ein junger Mann trat vor, verbeugte sich tief vor Jesus und stellte eine Frage an ihn.

Ich konnte zwar die Worte nicht hören, aber ich wußte, der junge Mann war der reiche Jüngling, von dem im Evangelium erzählt wird, daß er den Meister fragte, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen.

Ich sah, wie Jesus einige Worte mit ihm wechselte, und ich wußte auch, was er zu ihm sagte. Jesus sagte, er müsse die zehn Gebote Gottes halten.

Aber der junge Mann verbeugte sich noch einmal vor dem Meister und lächelte selbstgefällig. Und da wußte ich, was er erwiderte. Er sagte, das alles habe er von seiner Jugend an gehalten.

Doch Jesus ließ seinen Blick lang und prüfend auf ihm ruhen, und dann sagte er nochmals ein paar Worte. Und auch diesmal wußte ich, was Jesus sagte.

›Willst du vollkommen sein, so gehe hin und verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben. Und dann komm und folge mir nach.‹

Da wendete sich der junge Mann von Jesus weg und ging fort. Und ich wußte, daß er betrübt war, denn er hatte viele Güter.

Aber als der reiche Jüngling davonging, sah Jesus ihm lange nach.

Und in diesem Blick las ich ein großes Mitleid und eine große, große Liebe. Ach, meine Zuhörer, einen so himmlischen Ausdruck sah ich darin – mein Herz klopfte laut vor Freude, und das Licht kehrte in meine verdunkelte Seele zurück. Ich sprang auf, ich wollte selbst zu Jesus hinstürzen und ihm sagen, daß ich ihn jetzt von ganzer Seele liebe. Jetzt war mir die ganze Welt gleichgültig. Ich begehrte nichts weiter, als ihm zu folgen.

Die Erscheinung verschwand, als ich mich bewegte, aber die Erinnerung daran verschwand nicht, meine Freunde und Zuhörer, nein, die Erinnerung verschwand nicht.

Am nächsten Tage ging ich zu meinem Freund Pontus Friman und fragte ihn, was wohl Jesus von mir verlange, denn ich hätte ja keine Güter, die ich ihm geben könne.

Da sagte Pontus Friman, Jesus wünsche offenbar, ich solle ihm alle die Ehren und Auszeichnungen opfern, die ich durch meine Gelehrsamkeit später gewinnen könne, und dafür soll ich ein geringer und armer Diener Christi werden.

Und so warf ich alles andere auf die Seite und wurde Pfarrer, um mit den Menschen von Christus und von seiner Liebe zu reden.

Ihr aber, meine Zuhörer, betet für mich, denn ich muß in dieser Welt leben, wie ihr alle auch, und die Welt will mich verlocken, und ich bebe und habe Angst, sie könnte meine Liebe von Christus abziehen und mich zu einem falschen Propheten machen!«

Zugleich faltete er seine Hände; vor ihm schienen alle Versuchungen und alle Angst wieder aufzutauchen, die auf ihn lauerten, und bei dem Gedanken an seine eigene Schwachheit brach er in Tränen aus. Die Bewegung überwältigte ihn in solchem Grade, daß er nicht fortfahren konnte. Ein kurzes Amen war das einzige, was er sagen konnte, dann sank er im Gebet zusammen.

Auch in der Kirche brachen die Zuhörer in lautes Schluchzen aus. Mit einer einzigen kurzen Predigt hatte Karl Artur sich zum Liebling aller dieser Menschen gemacht. Sie hätten ihn am liebsten auf den Händen getragen, hätten sich ihrerseits für ihn opfern wollen, wie er sich jetzt seinem Heiland zum Opfer brachte.

Aber wie stark auch die Wirkung war, die von seinen Worten ausging, sie wäre doch nicht so ganz außerordentlich gewesen, wenn sich nicht gleich nachher das Verlesen der Aufgebote angeschlossen hätte.

Zuerst las der junge Geistliche einige gleichgültige Namen, denen niemand irgendeine weitere Bedeutung beilegte, aber plötzlich sah man ihn erbleichen und sich ein wenig über das Papier vorbeugen, um zu sehen, ob er sich nicht getäuscht habe. Dann las er das Aufgebot mit leiser Stimme, wie wenn es nicht gehört werden sollte.

»In der Gemeinde wird zum ersten Male aufgeboten zwecks christlicher ehelicher Vereinigung der Hüttenbesitzer Gustav Henrik Schagerström und die hochwohlgeborene Jungfrau Charlotte Adriana Löwensköld. Mögen sie diesen Stand in christlicher Liebe führen und selig zu Gottes Lob vollenden!«

Doch es half Karl Artur nichts, daß er mit leiser Stimme vorlas. In der totenstillen Kirche wurde jede Silbe deutlich vernommen.

Es war furchtbar.

Schagerström fühlte selbst, wie furchtbar es war. Da stand der Mann, der der Welt entsagen wollte, um Christi armer Nachfolger zu werden, und las vor, daß sich das von ihm geliebte Mädchen mit dem reichsten Manne des ganzen Landes verlobt hatte.

Den Menschen stieg die Schamröte ins Gesicht, sie wagten nicht, einander anzusehen. Als sie aus der Kirche gingen, sahen sie ganz bestürzt aus.

Schagerström aber fühlte sich noch viel unbehaglicher als alle die andern. Er hielt zwar seine äußere Ruhe aufrecht, aber in seinem Herzen sah es anders aus, und er dachte, er hätte sich kein bißchen verwundert, wenn die Leute ihn angespuckt oder mit Steinen nach ihm geworfen hätten.

Und er, der gemeint hatte, das Aufgebot sollte eine Genugtuung für Charlotte abgeben!

Ungeschickt und dumm hatte er sich zwar oft gefühlt, aber noch niemals in dem Grad wie an diesem Sonntag, als er durch den Mittelgang aus der Kirche hinausging.

 

3

Im ersten Augenblick dachte Schagerström daran, an Charlotte zu schreiben, um ihr alles zu erklären und sich zu entschuldigen. Aber er kam davon wieder ab, denn diesen Brief zu schreiben, das fiel ihm zu schwer. Statt dessen bestellte er Wagen und Pferde und begab sich auf den Weg nach Örebro.

Von Propst Forsius hatte er den Namen der alten Dame erfahren, die Frau Forsius und Charlotte zu besuchen beabsichtigten. Am Montag vormittag suchte er Charlotte in der Wohnung auf und erbat sich eine Unterredung.

Er bekannte sofort sein unpassendes Unternehmen, versuchte sich auch kaum zu entschuldigen, sondern erzählte nur, wie sich alles zugetragen hatte.

Und Charlotte? Ach, sie sank zusammen, beinahe wie wenn sie einen Todesstoß empfangen hätte. Um nicht zu Boden zu fallen, ließ sie sich auf einen kleinen, niedrigen Lehnstuhl sinken, und da blieb sie fast regungslos sitzen. Sie brach in keine Vorwürfe aus; dazu war ihr Schmerz viel zu groß und allzu wirklich.

Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich doch immer eines sagen können: wenn Karl Artur mit Hilfe seiner Mutter auf andere Gedanken käme und das Band mit ihr aufs neue anknüpfte, dann wäre ihre Ehre wiederhergestellt, und ihre jetzigen Widersacher würden verstehen, daß das Ganze nichts weiter als ein Streit unter Liebenden gewesen sei. Aber jetzt, nachdem sie mit Schagerström in der Kirche aufgeboten worden war, jetzt mußte jedermann glauben, es sei tatsächlich ihre Absicht, den reichen Hüttenbesitzer zu heiraten.

Jetzt gab's keine Hilfe mehr. Eine Aufklärung war nicht mehr möglich. Sie war für ewige Zeiten entehrt. Immer und immer würde man sie für falsch und geldgierig halten.

Sie hatte ein unheimliches Gefühl, als werde sie wie ein gefesselter Gefangener irgendeinem Ziele zugeführt, das sie nicht kannte. Alles, was sie vermeiden wollte, das mußte sie tun, alles, was sie zu verhindern suchte, gerade das mußte sie fördern.

Es war wie verhext. Nein, es ging nicht mit rechten Dingen zu. Von dem Tag an, wo Schagerström zum erstenmal um sie gefreit, hatte sie ihren freien Willen nicht mehr gehabt.

»Aber wer sind Sie denn, Herr Hüttenbesitzer?« fragte sie plötzlich. »Warum treten Sie mir beständig in den Weg? Warum kann ich nicht von Ihnen loskommen?«

»Wer ich bin?« entgegnete Schagerström. »Ja, das will ich Ihnen sagen, Fräulein Löwensköld. Ich bin der dümmste Kerl, der auf Gottes Erdboden herumläuft.«

Und das sagte Schagerström mit solch ehrlicher Überzeugung, daß der Schein eines Lächelns über Charlottes Gesicht hinflog.

»Schon vom erstenmal an, da ich Sie, gnädiges Fräulein, in dem Stuhle der Propstei in der Kirche sah, habe ich Ihnen helfen und Sie glücklich machen wollen; aber nun hab' ich im Gegenteil nur Schmerz und Kummer über Sie gebracht.«

Das Lächeln war schon wieder aus Charlottes Gesicht verschwunden. Sie saß noch immer still und blaß und mit herunterhängenden Armen auf dem niederen Sessel. Ihre starren Augen schienen nichts anderes sehen zu können als das schreckliche Unglück, das er über sie gebracht hatte.

»Fräulein Löwensköld, ich gebe Ihnen hiermit die ausdrückliche Erlaubnis, am nächsten Sonntag das Aufgebot einstellen zu lassen,« fuhr Schagerström fort. »Sie wissen, daß ein Aufgebot erst gesetzlich in Kraft tritt, wenn es dreimal nacheinander in derselben Kirche von der Kanzel verkündigt worden ist.«

Charlotte machte eine kleine Bewegung mit der Hand, wie wenn sie sagen wollte, diese Erlaubnis habe jetzt keine Bedeutung mehr. Ihr Ansehen sei zerstört und könne nicht mehr gerettet werden.

»Und ich verspreche Ihnen, Fräulein Löwensköld, Ihnen nicht mehr in den Weg zu treten, bis Sie mich selbst rufen.«

Er wendete sich der Tür zu. Doch da war noch etwas, was er ihr sagen wollte, und dieses forderte allerdings mehr Selbstüberwindung als alles, was vorhergegangen war.

»Ich will noch eines hinzufügen,« begann er. »Fräulein Löwensköld, ich fange an, Sie zu verstehen. – Ich hatte mich etwas darüber verwundert, daß Sie den jungen Ekenstedt so innig lieben und sich um seinetwillen all dieser Verleumdung und Verfolgung ausgesetzt haben, denn, daß Sie nur an ihn denken, das ist mir völlig klar. Seit heute jedoch, seit ich ihn in der Kirche predigen hörte, verstehe ich, daß er geschützt werden muß. Er ist zu etwas Großem bestimmt.«

Schagerström erhielt seine Belohnung. Sie warf ihm einen Blick zu, und ein leichtes Rot färbte ihre Wangen.

»Danke!« sagte sie. »Ich danke Ihnen, Herr Hüttenbesitzer, daß Sie verstehen.«

Darauf versank sie indes wieder in Hoffnungslosigkeit. Nun konnte er nichts weiter tun. Er verbeugte sich tief und verließ das Zimmer.


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