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Wünsche

Es ist wirklich ganz zwecklos, wenn ein Menschenkind sich hinsetzt und sich etwas wünscht.

Wenn es nicht das mindeste dazu tut, um dem Menschen, nach dem es sich sehnt, näher zu kommen – dann hat es doch wirklich gar keinen Zweck, nur stillzusitzen und zu wünschen.

Wenn ein Menschenkind weiß, daß es unbedeutend und häßlich und arm ist, und begreift, daß der, den es gewinnen möchte, mit keinem Gedanken an sie denkt, dann mag sie sich mit ihren Wünschen verlustieren, soviel ihr der Sinn danach steht.

Wenn dieses Menschenkind überdies verheiratet und eine ehrbare Frau ist, dazu einen kleinen Hang zum Pietismus hat und nichts in der Welt sie zum Unrecht zu verlocken vermag, so hat es gar nichts zu sagen, wenn sie allerlei Wünsche hegt.

Wenn sie zum Überfluß auch noch alt ist, ganze zweiunddreißig Jahre, und er, an den sie denkt, nicht mehr als neunundzwanzig, wenn sie ferner ungewandt und schüchtern ist und in Gesellschaft nichts aus sich zu machen versteht, wenn sie dazu die Frau des Organisten ist, dann mag sie von morgens bis abends hinsitzen und sich wünschen. Das kann ja keine Sünde sein, und es kann auch zu nichts führen.

Wenn sie auch denkt, die Wünsche anderer seien wie leichte Frühlingswinde, die ihrigen aber wie gewaltige Stürme, die Berge versetzen und die Erde aus ihrer Bahn werfen könnten, so weiß sie genau, daß dies nur Einbildungen sind. In Wirklichkeit vermögen die Wünsche nichts, weder jetzt noch in der Zukunft.

Sie muß zufrieden sein, daß sie in dem Kirchdorf wohnt, dicht am Wege, so daß sie ihn beinahe alle Tage an ihren Fenstern vorbeigehen sehen und ihn jeden Sonntag predigen hören kann, daß sie ferner ab und zu in die Propstei eingeladen wird und im gleichen Zimmer mit ihm sein darf, obwohl sie vor lauter Schüchternheit kein Wort an ihn zu richten wagt.

Sonderbarerweise besteht aber doch ein kleiner Zusammenhang zwischen ihm und ihr. Davon hat er indes wohl gar keine Ahnung, und sie hat auch nicht davon zu sprechen gewagt. Aber vorhanden ist dieser Zusammenhang jedenfalls.

Ihre Mutter war ja doch jene Malwina Spaak, die früher Haushälterin auf Hedeby bei Baron Löwenskölds, seinen Großeltern mütterlicherseits, gewesen war. Als Malwina fünfunddreißig Jahr alt war, hatte sie sich mit einem armen Landwirt verheiratet und sich von da an in ihrem eigenen Hause mit Arbeiten und Weben geplagt, wie früher in fremden Häusern. Aber sie war immer in Verbindung mit den Löwenskölds geblieben. Diese waren zu ihr auf Besuch gekommen, und sie war oft zu langem Aufenthalt in Hedeby gewesen, um bei der Herbstbackerei und dem Frühjahrshausputz zu helfen, und das hatte einen Glanz auf ihr Leben geworfen. Ihrer Tochter hatte sie von klein auf die Zeit auf Hedeby aufs eingehendste geschildert, hatte ihr von dem verstorbenen General erzählt, der nun dort spukte, und von dem jungen Baron Adrian, der dem Ahnherrn zur Ruhe im Grabe hatte verhelfen wollen.

Die Tochter hatte wohl gemerkt, daß ihre Mutter in den jungen Baron verliebt gewesen war. Das war an der Art, wie sie von ihm sprach, leicht zu erkennen. Wie gut war er gewesen, und wie schön! Und seine Augen hatten einen gar träumerischen Ausdruck gehabt, und jede seiner Bewegungen war von unbeschreiblicher Anmut gewesen!

Wenn die Mutter Baron Adrian in dieser Weise schilderte, hatte die Tochter stets gedacht, sie übertreibe. Einen jungen Mann, wie die Mutter hier schilderte, gab es in der ganzen Welt nicht.

Aber jedenfalls hatte sie ihn nun gesehen. Kurz nach ihrer Verheiratung mit dem Organisten und ihrem Einzug in Korskyrka hatte sie ihn eines Sonntags die Kanzel besteigen sehen. Er war ja freilich kein Baron, nur der Vikar Ekenstedt, aber er war der Neffe des Baron Adrian, den Malwina Spaak geliebt hatte, und er war ebenso schön und knabenhaft weich und ebenso zart und fein wie jener. Sie erkannte die großen träumerischen Augen wieder, von denen die Mutter berichtet hatte, sowie auch das freundliche Lächeln.

Als sie ihn sah, war es ihr, als habe sie ihn durch ihre Wünsche herbeigezogen. Immer, immer hatte sie sich danach gesehnt, einmal einen Mann zu sehen, auf den die Beschreibung ihrer Mutter paßte, und nun hatte sie ihn vor Augen. Sie wußte wohl, daß Wünsche machtlos sind, aber sie fand es doch wunderbar, daß er gekommen war.

Er beachtete sie gar nicht, und am Ende des Sommers verlobte er sich mit der hochnäsigen Charlotte Löwensköld. Im Herbst kehrte er nach Upsala zurück, um seine Studien fortzusetzen. Ach, nun war er für immer aus ihrem Leben verschwunden! Sie konnte nicht anders denken. Wenn sie sich's auch noch so sehr wünschte, er würde doch nicht zurückkehren.

Aber nach fünf Jahren sah sie ihn an einem Sonntag abermals die Kanzel besteigen. Und abermals war es ihr, als habe sie ihn herbeigewünscht. Er aber gab ihr keinerlei Veranlassung zu solchen Gedanken. Wieder beachtete er sie in keiner Weise, und immer noch war er mit Charlotte Löwensköld verlobt.

Sie hatte Charlotte nie etwas Böses gewünscht, dafür konnte sie die Hand zum Schwur auf die Bibel legen, ab und zu aber hatte sie doch gehofft, Charlotte würde sich in einen andern verlieben, oder einer ihrer reichen Verwandten würde sie zu einer langen Reise ins Ausland einladen, wodurch sie auf eine angenehme Weise von dem jungen Ekenstedt getrennt würde.

Da sie als Frau des Organisten ab und zu in die Propstei eingeladen wurde, war sie zufällig auch an jenem Tage dort, als Schagerström vorbeifuhr und Charlotte sagte, sie würde ihn nehmen, wenn er um sie anhalte. Seitdem war ihr sehnlichster Wunsch gewesen, Schagerström möchte um Charlotte werben; und dieser Wunsch konnte doch nichts Unrechtes sein! Jedenfalls hatte er nicht das geringste zu bedeuten.

Denn wenn Wünsche eine Macht hätten, dann sähe es wohl etwas anders aus in dieser Welt. Man bedenke nur, was schon alles gewünscht worden ist! Was sich die Menschen schon Gutes gewünscht haben! Wie viele sich schon gewünscht haben, frei von Sünde und Krankheit zu sein! Wie viele gewünscht haben, dem Tode zu entgehen! Nein, das wußte sie wohl, wünschen konnte man unbeschränkt; Wünsche haben keine Macht.

Aber eines schönen Sommersonntags sah sie tatsächlich Schagerström in die Kirche kommen, und siehe, er wählte auch seinen Platz so, daß er Charlotte, die im Pfarrstuhle saß, sehen konnte. Nun wünschte sie auch, Schagerström möge Charlotte schön und anziehend finden. Von ganzer Seele wünschte sie das. Es war doch kein Unrecht gegen Charlotte, wenn sie ihr einen reichen Mann wünschte!

Nachdem sie Schagerström in der Kirche gesehen hatte, wurde sie den ganzen Tag über das Gefühl von einem bevorstehenden Ereignis nicht los. In der Nacht lag sie wie im Fieber und wartete darauf, daß etwas geschehe. Und so war es auch am folgenden Vormittag. Sie saß am Fenster und konnte nicht arbeiten, sondern wartete nur mit gefalteten Händen auf das, was kommen würde.

Sie meinte, sie müsse Schagerström vorbeifahren sehen. Aber es begab sich etwas noch viel Wunderbareres. Mitten am Vormittag, so zwischen elf und zwölf Uhr, machte ihr Karl Artur einen Besuch.

Man versteht, daß sie selig und erschrocken, zugleich aber auch von Schüchternheit überwältigt war.

Sie wußte nicht, was sie gesagt hatte, um ihn zu grüßen und ins Zimmer hereinzubitten. Jedenfalls saß er bald in dem besten Lehnstuhl ihres kleinen Salons, und sie saß ihm gegenüber und starrte ihn an.

Sie hatte gar nicht gewußt, daß er so jung aussah, wie sie ihn nun in der Nähe fand. Sie wußte ja alles, was seine Familie betraf, ja sie wußte auch, daß er im Jahre 1806 geboren war und nun also neunundzwanzig Jahre alt sein mußte. Aber das sah ihm niemand an.

Nun berichtete er ihr in seiner entzückend einfachen, ernsthaften Weise, er habe erst kürzlich durch einen Brief seiner Mutter erfahren, daß sie Malwina Spaaks Tochter sei, die eine so gute Freundin und Gehilfin der ganzen Familie Löwensköld gewesen war. Er bedauerte, dies nicht früher gewußt zu haben, und sagte, sie hätte es ihm sagen sollen.

Sie war überglücklich, weil sie nun wußte, weshalb er sie früher gar nicht beachtet hatte. Aber sie konnte nichts sagen, nichts erklären. Sie murmelte nur ein paar dumme verworrene Worte, die er wahrscheinlich gar nicht verstand.

Er sah sie etwas verwundert an. Konnte ein erwachsener Mensch so schüchtern sein, daß er die Sprache verlor? Das war ihm unbegreiflich.

Wie um ihr Zeit zu lassen, sich zu fassen, begann er von Malwina Spaak und von Hedeby zu erzählen. Auch auf die Spukgeschichten und den unheimlichen Ring kam er zu sprechen.

Er sagte, er könne zwar alle die Einzelheiten nicht glauben, aber trotzdem liege für ihn ein tiefer Sinn darin. In dem Ring sehe er ein Symbol der Liebe zum Irdischen, die die Seele gefangenhält und sie ungeschickt zum Reiche Gottes macht.

Da saß er nun wirklich vor ihr und sah sie mit seinem einnehmenden Lächeln an, plauderte auch ganz vertraulich und unbefangen mit ihr, wie mit einem alten Freunde! Das Glück war zu groß, es drohte sie zu ersticken.

Er war vielleicht daran gewöhnt, keine Antwort zu erhalten, wenn er zu den Armen und Mühseligen kam, um sie zu trösten und aufzurichten. So redete er denn unverdrossen weiter.

Er berichtete ihr, er müsse immerfort an Jesu Wort zu dem reichen Jüngling denken, und er sei überzeugt, der Grund zu den vielen Leiden der Menschen liege vor allem darin, daß sie das Geschaffene mehr liebten als den Schöpfer.

Obwohl sie nichts sagte, lauschte sie doch offenbar seinen Worten auf eine Weise, die sein Zutrauen immer mehr hervorlockte. Er vertraute ihr an, daß er weder Propst noch Bischof werden wolle. Er wolle keine große Gemeinde, keinen großen Wohnsitz mit weiten Äckern und dicken Kirchenbüchern und vieler Arbeit. Nein, er wünsche sich ein kleines Dorf, in dem er sich ganz der Seelsorge widmen könne. Sein Pfarrhaus solle nur eine kleine graue Hütte sein, aber diese solle an einem Birkenwäldchen am Ufer eines Sees liegen. Und sein Gehalt sollte nur gerade zum Leben ausreichen.

Und sie verstand ihn. Er wollte damit den Menschen den rechten Weg zum wahren Glück zeigen. Eine tiefe Andacht erfüllte ihre Seele. Noch niemals war ihr etwas so Junges und Reines vorgekommen. Ach, wie würden alle Menschen ihn lieben!

Aber dann fiel ihr ein, wie sehr seine Worte im Widerspruch standen zu dem, was sie kürzlich hatte sagen hören, und darüber wollte sie sich Klarheit verschaffen.

Sie fragte, ob sie falsch gehört habe, aber als sie neulich in der Propstei war, habe seine Braut gesagt, er sei im Begriff, sich um ein Lektorat an einem Gymnasium zu bewerben.

Da sprang Karl Artur vom Stuhle auf und begann in der kleinen Stube hin und her zu gehen.

Sollte Charlotte das gesagt haben! Sei sie ganz sicher, daß Charlotte das gesagt hatte? Bei dieser Frage, die er in ganz ungestümer Weise hervorsprudelte, wurde ihr angst; aber in aller Demut entgegnete sie, soweit sie sich erinnern könne, habe Charlotte tatsächlich so gesagt.

Das Blut stieg ihm in den Kopf. Er sah immer ärgerlicher aus. Sie war ganz entsetzt. Fast wäre sie vor ihm niedergefallen und hätte ihn um Verzeihung gebeten. Nie hätte sie gedacht, daß das, was sie von Charlotte berichtet hatte, ihn so verletzen würde. Was sollte sie sagen, das ihn wieder gut stimmen könnte? Was konnte sie tun, ihn zu beruhigen?

Während dieser Aufregung hörte sie Wagengerassel, und aus alter Gewohnheit sah sie aus dem Fenster. Schagerström fuhr vorbei; da sie aber so sehr mit Karl Artur beschäftigt war, fragte sie sich nicht einmal, wohin er wohl fahre. Karl Artur hatte den Vorbeifahrenden gar nicht bemerkt. Er schritt noch immer mit grimmiger Miene in dem Stübchen auf und ab.

Dann trat er auf sie zu und streckte ihr die Hand zum Abschied entgegen. Welch eine schreckliche Enttäuschung, daß er so bald wieder ging! Sie hätte sich die Zunge abbeißen mögen, weil sie die paar Worte gesagt hatte, die schuld an seiner Verstimmung waren.

Aber da war nichts mehr zu machen. Sie mußte auch ihre Hand ausstrecken und die seinige ergreifen. Sie mußte schweigen und ihn gehen lassen.

Doch in ihrem tiefen Elend und ihrer Verzweiflung neigte sie sich über seine Hand und küßte sie.

Hastig zog er seine Hand zurück. Dann blieb er stehen und schaute sie an.

»Ich wollte nur um Verzeihung bitten,« stammelte sie.

Er sah Tränen in ihren Augen, was ihn bewog, ihr eine Art Erklärung zu geben.

»Nehmen Sie an, Frau Sundler, Sie hätten sich aus irgendeinem Anlaß eine Binde um die Augen gelegt, so daß sie nichts mehr sehen könnten, und Sie hätten sich ganz in die Hände eines andern Menschen gegeben, der Ihr Führer sein sollte – was würden Sie sagen, wenn die Binde plötzlich abfiele und Sie erkennen müßten, daß dieser andere, Ihr Freund, Ihr Führer, auf den Sie sich mehr als auf sich selbst verlassen hatten, Sie an den Rand eines Abgrunds geführt hatte, wo Sie beim nächsten Schritt in die Tiefe gestürzt wären? Würde Ihnen solches keine Höllenqualen bereiten?«

Er sprach hastig und leidenschaftlich und eilte, ohne auf Antwort zu warten, durch die Tür in den Flur hinaus.

Thea Sundler glaubte zu hören, daß Karl Artur in dem kleinen Vorgarten stehenblieb. Sie konnte nicht wissen, warum. Vielleicht überdachte er, wie fröhlich und sorglos er vor einer kleinen Weile in ihr Haus eingetreten war, das er jetzt wütend und verzweifelt verließ. Jedenfalls eilte sie hinaus, und da stand er wirklich noch.

Sobald er sie zu Gesicht bekam, fing er an zu reden. Die Gemütsbewegung hatte seinen Gedanken eine neue Richtung gegeben. Es war ihm lieb, einen Zuhörer zu haben.

»Ich bin noch hier und sehe mir die Rosen an, mit denen Sie den Weg zu Ihrem Hause eingefaßt haben, liebe Frau Sundler, und ich überlege eben, ob dieser Sommer nicht der schönste ist, den ich je erlebt habe. Wir sind nun Ende Juli, die ganze nun vergangene Sommerszeit ist geradezu vollkommen gewesen, finden Sie das nicht auch? Sind nicht alle Tage lang und hell gewesen, länger und heller als je zuvor? Gewiß war es sehr heiß, aber niemals wirklich drückend, weil doch meistens ein frischer Luftzug wehte. Auch die Erde hat nicht unter Trockenheit zu leiden gehabt wie in andern schönen Sommern, weil fast jede Nacht etwas Regen gefallen ist. So war das Wachstum auch ganz unerhört. Haben Sie schon jemals die Bäume so üppig belaubt oder die Blumenrabatten im Garten in solcher Pracht leuchten sehen? Ach, ich möchte behaupten, die Erdbeeren seien nie so süß, der Vogelsang nie so wohllautend und die Menschen nie so fröhlich und genußfähig gewesen wie in diesem Jahre!«

Er schwieg einen Augenblick, um Atem zu schöpfen, doch Frau Sundler hütete sich wohl, ihn durch ein Wort zu stören. Sie dachte an ihre Mutter. Jetzt begriff sie, was diese gefühlt haben mochte, wenn der junge Baron sie in der Küche oder in der Milchkammer aufgesucht und ihr allerlei anvertraut hatte.

Der junge Geistliche fuhr fort:

»Wenn ich morgens gegen fünf Uhr meinen Vorhang zurückziehe, sehe ich kaum etwas anderes als Düsternis und Gewölk. Das klatscht gegen die Fensterscheiben, das gießt aus der Dachtraufe, Gras und Blumen beugen sich nieder unter dem Platzregen. Die ganze Luft ist voller regenschwerer Wolken, die sich über den Wiesengrund hinzuschleppen scheinen. Heut ist's aus mit dem schönen Wetter, sage ich zu mir selbst, und vielleicht ist es auch so am besten.

Und obgleich ich weiß, daß es den ganzen Tag fortregnen wird, bleibe ich doch noch eine ganze Weile am Fenster stehen und sehe zu, was noch werden wird. Und siehe, fünf Minuten nach fünf Uhr klatschen die Tropfen nicht mehr an meine Scheiben. Die Dachtraufe rieselt noch eine Weile, dann hört auch das auf. Gerade an der Stelle am Himmel, wo die Sonne stehen sollte, öffnet sich ein Wolkenspalt, und ein breiter Lichtstreifen fällt herab in die irdischen Nebel. Gleich darauf verwandeln sich diese, am Horizont aufwallend, in lichtblauen Dunst. Die Tropfen rinnen die Grashalme entlang langsam auf die Erde, und die Blumen richten ihre ängstlich gesenkten Kelche wieder empor. Unser kleiner See, von dem ich einen schwachen Schimmer von meinem Fenster aus sehen kann und der bis jetzt ganz mürrisch dreingeschaut hat, beginnt zu glitzern, wie wenn große Scharen von Goldfischen sich unter dem Wasserspiegel angesammelt hätten. Und hingerissen von so viel Schönheit, öffne ich mein Fenster weit, atme eine Luft voll schwellender Wohlgerüche von einer nie geahnten Fülle ein, und ich breche in den Ruf aus: Ach, mein Gott, du hast deine Welt viel zu schön geschaffen!«

Der junge Geistliche hielt inne, lächelte und zuckte die Achseln. Er schien anzunehmen, Thea Sundler verwundere sich über seine letzte Äußerung, und so beeilte er sich, diese zu erläutern.

»Ja,« fuhr er fort, »es ist mir ernst mit dem, was ich sagte. Ich war bange, dieser schöne Sommer könne mich verleiten, etwas Irdisches zu lieben. Wie oft habe ich das Ende dieses herrlichen Wetters herbeigewünscht, gewünscht, der Sommer möge uns Blitz und Donner, Dürre und Schwüle, Landregen und kalte Nächte bringen, wie das schon so oft in andern Jahren geschehen ist.«

Thea Sundler sog alle seine Worte in sich hinein. – Wo wollte er hin? Was wollte er damit sagen? Sie wußte es nicht, wünschte aber fast krampfhaft, er möchte fortfahren, damit sie noch lange den Wohllaut seiner Stimme, die schönen Worte und das ausdrucksvolle Mienenspiel genießen könnte.

»Verstehen Sie mich?« rief er aus. »Aber über Sie hat die Natur vielleicht keine Macht. Sie spricht nicht zu Ihnen mit starken, geheimnisvollen Worten. Sie fragt Sie nie, warum Sie nicht dankbar alle ihre guten Gaben genießen, warum Sie das Glück nicht ergreifen, das so erreichbar nahe liegt; warum Sie sich nicht ein eigenes Heim gründen und sich mit der Geliebten Ihres Herzens vermählen, wie alle Geschöpfe in diesem gesegneten Sommer es tun?«

Er nahm den Hut ab und strich sich mit der Hand über die Stirne.

»Der schöne Sommer,« fuhr er fort, »ist ein Bundesgenosse für Charlotte geworden. Sehen Sie, dieser Reichtum, diese Freundlichkeit, diese allgemeine Lebenslust hat mich berauscht. Ich bin umhergegangen wie ein Blinder. Charlotte hat meine Liebe und auch meine Sehnsucht, meinen Wunsch, sie zu besitzen, wachsen sehen.

Ach, Sie wissen ja nicht ... Jeden Morgen gegen sechs Uhr gehe ich von dem kleinen Anbau, in dem meine Zimmer liegen, hinüber in das Haupthaus, um meinen Morgenkaffee zu trinken. Da kommt mir Charlotte in dem großen hellen Eßzimmer, wo die Luft durch die offenen Fenster hereinströmt, entgegen. Sie ist fröhlich und zwitschert wie ein Vöglein, und wir trinken unsern Kaffee zusammen, wir zwei allein. Weder der Propst noch seine Frau sind dabei.

Sie glauben vielleicht, Charlotte nehme die Gelegenheit wahr, mit mir von unserer Zukunft zu sprechen. O ganz gewiß nicht! Sie spricht mit mir über meine Armen, meine Kranken, sie spricht über die Gedanken in meiner Predigt, die ihr am meisten zu Herzen gegangen sind. Sie zeigt sich in allen Dingen so, wie es sich für eine gute Pfarrfrau gehört. Nur einzelne Male, ganz im Vorbeigehen, nur scherzhaft, spricht sie auch von dem Lektorat. So ist sie mir Tag für Tag lieber geworden. Wenn ich dann wieder an meinem Schreibtisch sitze, wird mir das Arbeiten schwer. Ich träume von Charlotte. Ich habe Ihnen ja vorhin gesagt, wie ich mein Leben einzurichten gedenke. Nun träume ich davon, wie meine liebe Charlotte sich von all den weltlichen Ketten loslöst und sie mir freudig in meine kleine graue Hütte folgt.«

Bei diesem Bekenntnis kann Thea Sundler einen Ausruf nicht unterdrücken.

»Gewiß haben Sie recht,« sagte er. »Ich bin blind gewesen. Charlotte hat mich an einen Abgrund geführt. Sie hat nur einen Augenblick der Schwachheit abgewartet, um mir das Versprechen abzulocken, mich um ein Lektorat zu bewerben. Sie sah, wie dieser Sommer dazu beitrug, mich sorglos zu machen. Sie glaubte sich sicher am Ziel, und so hat sie Sie und alle die andern auf meinen Berufswechsel vorbereitet. Aber Gott hat mich beschützt.«

Noch einmal tritt Karl Artur auf Thea Sundler zu. Er las vielleicht auf ihrem Gesicht, daß seine Worte ihr Freude machten, daß sie sich glücklich darüber fühlte. Aber nun schien es ihn zu reizen, daß sie sich an der durch seine Leiden hervorgerufenen Beredsamkeit erfreute. Ein schmerzlicher Zug flog über sein Antlitz.

»Glauben Sie nur ja nicht, ich freue mich über das, was Sie mir gesagt haben!« brach er los.

Thea Sundler erschrak. Er ballte die Fäuste und schüttelte sie vor ihrem Gesicht.

»Ich danke es Ihnen nicht, daß Sie mir die Binde von den Augen gerissen haben. Sie sollen sich nicht über das freuen, was Sie soeben gehört haben! Ich hasse Sie, weil Sie mich nicht in den Abgrund stürzen ließen. Ich will Sie nie wieder sehen!«

Er wandte sich ab und eilte den schmalen Pfad zwischen Frau Sundlers schönen Rosen hinab der Landstraße zu. Aber Thea Sundler ging in ihr Stübchen, warf sich in ihrer Zerknirschung auf den Fußboden und weinte, wie sie noch nie geweint hatte.


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