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Die Strafpredigt an den Gott der Liebe

Am Montagvormittag wanderte Charlotte nach dem Kirchdorf, um mit ihrer Schwester, Frau Doktor Romelius, zu sprechen. Die Frau Doktor interessierte sich, wie die meisten aus der Familie Löwensköld, in hohem Grade für übernatürliche Dinge. Sie pflegte zu erzählen, sie habe mitten am hellichten Tage Verstorbene draußen auf der Straße gehen sehen, und es gab kaum eine noch so tolle Spukgeschichte, die sie nicht geglaubt hätte. Charlotte, die anders veranlagt war, hatte bisher immer nur über die Geschichten der Schwester gelacht, jetzt suchte sie diese aber doch auf, um deren Ansicht über die Rätsel, die sie Tag und Nacht beschäftigten, zu hören.

Nach dem unangenehmen Auftritt vor der Kirchentür war in dem jungen Mädchen wieder das Bewußtsein ihres eigenen Unglücks erwacht. Wie an jenem Tage, wo Schagerström in Örebro ihr von dem Aufgebot berichtete, hatte sie auch jetzt wieder das Gefühl, von unbekannten Mächten eingefangen und fortgeschleppt zu werden. Sie war verzaubert, fühlte sich von irgendeinem dunklen, bösgesinnten Wesen verfolgt, das sie von Karl Artur getrennt hatte und noch immer neues Unglück über sie heraufbeschwor.

Das junge Mädchen, das sich in diesen Tagen immerfort matt und von einer unerklärlichen Müdigkeit bedrückt fühlte, ging langsam und mit niedergeschlagenen Augen ihres Weges nach dem Kirchdorfe dahin. Die Leute, die sie sahen, nahmen wohl an, sie sei von Gewissensbissen geplagt und wage nicht, ihnen in die Augen zu sehen.

Mit großer Anstrengung erreichte Charlotte schließlich doch die Dorfstraße und schleppte sich gerade an der hohen Hecke, die das Haus des Organisten umgab, vorbei, als sich die Gartentür des Vorgartens öffnete. Sie hörte, daß jemand auf den Weg herauskam und in ihrer Richtung weiterging.

Unwillkürlich schaute sie auf. Es war Karl Artur, und vor lauter Erregung, hier ohne Zeugen mit ihm zusammenzutreffen, blieb sie ganz still stehen. Aber ehe Karl Artur sie erreicht hatte, wurde aus dem Garten eine Stimme laut, die ihn zurückrief.

Das Wetter war jetzt nicht mehr so beständig schön wie den ganzen Sommer hindurch. Kleine heftige Regenschauer ergossen sich zu allen Tageszeiten, und Frau Sundler, die hinter dem Waldhügel eine Wolke aufsteigen und schon ein paar Regentropfen hatte fallen sehen, kam mit ihres Mannes großem Regenmantel über dem Arm durch den Vorgarten gelaufen, um ihn Karl Artur anzubieten.

Als Charlotte am Gittertor vorbeiging, half Frau Sundler ihm eben beim Umlegen des Regenmantels.

Die beiden standen nur ein paar Schritte von dem jungen Mädchen entfernt, und dieses konnte es nicht vermeiden, sie zu sehen. Frau Sundler knöpfte Karl Artur eben den Mantel zu, und er lachte sie in seiner jungenhaften Art an, weil sie so besorgt um ihn war.

Thea Sundler sah auch froh und unbefangen aus; in diesem allem fand sich keine Spur von Ungehörigkeit; aber Charlotte meinte doch, es sei ihr eine Offenbarung zuteil geworden, als sie Thea Sundler auf diese Weise um Karl Artur besorgt sah – wie eine Mutter oder eine Gattin.

»Sie liebt ihn,« dachte Charlotte.

Sie beeilte sich, weiterzukommen, um nicht noch mehr sehen zu müssen. Aber einmal ums andere wiederholte sie in ihrem Herzen: »Ja, gewiß, sie liebt ihn. Daß ich das nicht schon vorher verstanden habe! Das erklärt alles miteinander. Deshalb hat sie uns getrennt.«

Darüber war sie indes sofort im reinen, daß Karl Artur nichts davon wußte. Er träumte immer weiter von seinem schönen Mädchen aus Dalarne. Allerdings verbrachte er jetzt alle seine Abende bei dem Organistenpaar; aber vermutlich war es der schöne Gesang und die Musik, die ihm dort geboten wurden, was ihn mehr als alles andere hinzog. Außerdem brauchte er wohl jemand, bei dem er sich aussprechen konnte, und Thea Sundler war ja eine so alte Freundin der Familie.

Eigentlich hätte man wohl erwarten können, das junge Mädchen sei über ihre Entdeckung erschrocken oder betrübt gewesen, aber das war kaum der Fall. Statt dessen hob sie den Kopf, richtete ihren gebeugten Rücken auf und nahm ihre gewöhnliche gerade, elastische Haltung wieder an.

»Thea Sundler ist an dem ganzen Unglück schuld,« dachte sie. »Aber mit ihr werde ich schon fertig werden.«

Sie fühlte sich wie eine Kranke, die schließlich herausgefunden hat, an welcher Krankheit sie eigentlich leidet, und überzeugt ist, nun endlich Heilung dafür finden zu können. Neue Hoffnung, neue Zuversicht erfüllte ihr Herz.

»Und ich hatte geglaubt, es sei jener unglückselige Ring, der wieder in der Familie spuke,« murmelte sie.

Sie meinte sich zu erinnern, ihren Vater einmal von einem Gelübde erzählen gehört zu haben, das die Familie Löwensköld Malwine Spaak, Thea Sundlers Mutter, abgelegt hätte, aber nicht gehalten habe, und daß der Familie darum ein schweres Strafgericht vorhergesagt worden sei. Nur um zu erfahren, wie es sich mit dieser Geschichte verhalte, war Charlotte Löwensköld jetzt zu ihrer Schwester unterwegs. Bis zu diesem Augenblick hatte sie ja in allem, was ihr in den letzten Wochen widerfahren war, etwas Unabwendbares, etwas Schicksalschweres gesehen, das sich weder aufhalten noch abwenden lasse. Wenn aber die Tatsache, daß Thea Sundler Karl Artur liebte, das ganze Unglück verschuldet hatte, dann konnte sie selbst Hilfe dafür finden.

Ganz plötzlich gab sie ihre Absicht, ihre Schwester aufzusuchen, auf, und so wendete sie sich wieder heimwärts. Nein, das paßte ihr nicht. Sie wollte nicht glauben, daß es ein altes Strafgericht sei, gegen das sie kämpfen müsse. Sie wollte sich auf ihren eigenen Verstand, ihre eigene Kraft und ihre eigene Erfindungsgabe verlassen, ohne an ein so unbegreifliches Teufelszeug glauben zu müssen.

Als sie sich am Abend in ihrer Schlafstube auszog, blieb sie lange vor einem kleinen porzellanenen Amor stehen, der seinen Platz auf ihrer Schreibkommode hatte.

»Sie ist es also, die du diese ganze Zeit über beschützt hast,« sagte sie zu der kleinen Figur. »Du hast über sie deine Hand gehalten und nicht über mich. Ihretwegen, weil sie Karl Artur liebt, mußte Schagerström um mich werben, und alles das andere mußte geschehen.

Ihretwegen mußten Karl Artur und ich in Streit geraten, ihretwegen mußte Karl Artur um das Mädchen aus Dalarne werben, ihretwegen mußte mir Schagerström den Blumenstrauß schicken, wodurch jede Versöhnung unmöglich gemacht wurde.

Ach, Amor, warum beschützest du ihre Liebe? Tust du es darum, weil sie unerlaubt ist? Ist es wahr, daß du eine solche Liebe, die nicht sein darf, mit den allergnädigsten Augen betrachtest?

Mein lieber Amor, du solltest dich schämen. Hier habe ich dich als einen Wächter meiner Liebe aufgestellt, und du, du hilfst nur dieser andern.

Weil Thea Sundler Karl Artur liebt, hast du, ohne mich zu verteidigen, die Verleumdung, das Schmähgedicht, die Katzenmusik über mich hereinbrechen lassen.

Weil Thea Sundler Karl Artur liebt, hast du mich Schagerström das Jawort geben, hast mich das Aufgebot verkündigen lassen, und du hast vielleicht auch im Sinn, uns vor dem Altar zu vereinigen.

Weil Thea Sundler Karl Artur liebt, hast du uns alle nun so lange in Jammer und Entsetzen leben lassen. Du verschonst niemand. Die alten Leute hier und die Alten in Karlstadt, sie alle müssen leiden, und zwar nur, weil du diese kleine, dicke, fischäugige Organistenfrau beschützest.

Weil Thea Sundler Karl Artur liebt, hast du mir mein Glück weggenommen. Ich glaubte, irgendein grausiger Troll wolle meinen Untergang, aber du allein warst es, du, Amor, niemand anders als du!«

Im Anfang hatte Charlotte in scherzhaftem Ton gesprochen, aber von allen den grausamen Schicksalsschlägen, die sie sich ins Gedächtnis zurückrief, überwältigt, fuhr sie in höchster Erregung zitternd fort:

»O du Gott der Liebe, hab' ich dir denn nicht bewiesen, daß ich lieben kann? Ist ihre Liebe dir angenehmer als die meinige? Bin ich nicht ebenso treu? Brennt in ihrem Herzen etwa eine stärkere, reinere Flamme als in dem meinigen? Ach, Amor, du Gott der Liebe, warum beschützest du ihre Liebe und nicht die meinige?

Was kann ich tun, um dich zu besänftigen? Amor, Amor, bedenke, du führst ihn, den ich liebe, in Unglück und Verderben! Ist es deine Absicht, ihr auch seine Liebe zu schenken? Das ist das einzige, was du ihr bisher noch verweigert hast. Amor, Amor, ist es wirklich deine Absicht, ihr auch noch seine Liebe zu schenken?«

Charlotte fragte nicht weiter, sie verwunderte sich über nichts mehr. Weinend ging sie zu Bett.


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