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Welträtsel

Das Huhn Dorothea Silberbein trat aus der Scheune und begrüßte leise gackernd den Morgen. Der Torbogen spannte sich hoch und weit über ihm – ein Riesenrahmen, der, wie so oft im Leben, in keinem Verhältnis stand zur Kleinheit seines Darstellungsobjekts. Das Huhn merkte nichts davon. Es sah sich friedlich und freundlich nach allen Seiten um, voller Wohlwollen gegen alle Welt und voller Befriedigung über das eigene, eiererfüllte Dasein. Dann ging es langsam einige Schritte, kratzte mit dem linken Fuß, kratzte mit dem rechten Fuß, trat vorsichtig zurück und betrachtete das Feld der Untersuchungen mit seitlich gebeugtem Kopf und einem Auge. Denn es ist so eingerichtet. Oft fand es ein Korn, oft fand es keines. Beides nahm das Huhn ergeben und freundlich hin. Dann reckte es den Hals. »Ach, was hab; ich zu tun – ach, ach, ach, was hab' ich zu tun«, sagte das Huhn.

Auf dem Misthaufen stand der Hahn Arminius Silberbein und blickte verachtungsvoll auf alles herab, was nicht auf dem Misthaufen stand.

»Ach, was hab' ich zu tun – ach, ach, ach, was hab' ich zu tun!« gackerte Dorothea Silberbein.

»Du hast gar nichts zu tun«, sagte Arminius Silberbein und schlug großartig mit den Flügeln.

»Ich habe nichts zu tun?« sagte Dorothea Silberbein gekränkt, »wer legt denn die Eier, wenn nicht ich? Erst heute früh hab' ich ein Ei gelegt. Die Welt weiß noch gar nicht genug, ein wie schönes Ei ich heute gelegt habe – ach, was für ein Ei – ach, ach, ach, was für ein großes Ei!«

»Als ob Eierlegen eine Tätigkeit wäre!« sagte Arminius Silberbein und kratzte hochmütig auf dem Misthaufen.

Unten auf der breiten Straße des dörflichen Lebens wackelte eine Ente. Sie hieß Emilie Schlapperfuß, hatte meist nasse Füße, was bei ihr naturgemäß war, und kleine freundliche Augen. Ferner hatte sie, und das vor allem anderen, als Hauptsache ihres Daseins, einen ganz erheblich von Gott gesegneten Appetit, und zwar einen dauernden, man kann beinahe sagen, pausenlosen Appetit. So rutschte und torkelte sie, eine friedvolle und schwankende Masse von Fett und Federn, umher und schaufelte rastlos und freudig Nahrung in sich hinein.

»Was ist sonst eine Tätigkeit, wenn Eierlegen keine ist?« fragte Dorothea Silberbein und sah den Hahn mit einem Auge an. »Eine Tätigkeit ist, wenn man auf dem Misthaufen steht und kräht, hoch erhaben über alle Erde«, sagte Arminius Silberbein würdevoll und krähte laut und sieggewohnt, so daß Emilie Schlapperfuß erschrocken zusammenfuhr.

»Wo wärst denn du selbst, wenn die Eier nicht wären?« sagte Dorothea Silberbein, »du hast doch auch mal in der Schale gesessen und bist mühsam ausgebrütet worden. Als du auskrochst, hast du nicht mehr als Piep sagen können, und jetzt hockst du auf dem Misthaufen und krähst große Töne!«

»Ich weiß nichts von Eiern«, sagte der Hahn, »man weiß nur etwas, wenn das Selbstbewußtsein beginnt, und das begann bei mir, als ich das erstemal den Misthaufen bestieg und krähte. Von dann ab lebe ich, von dann ab war ich da – der Mann, der hoch über der Welt auf seinem Misthaufen steht und kräht. Nur Hühner reden von Eiern. Der Hahn ist da, wie der Misthaufen da ist. Der Hahn und der Misthaufen sind Gipfel, als solche unerreicht und unerklärlich, sie sind die Welträtsel an sich!« »Wie meinten Sie, bitte?« sagte Emilie Schlapperfuß und sah den Hahn mit ihren kleinen Augen an, freundlich und mit einem vollständig problemlosen Gesichtsausdruck.

»Ich habe dich doch selber ausgebrütet, mein Jungchen«, sagte Dorothea Silberbein, »alles ist Ei – ach, was für ein Ei – ach, ach, ach, was für ein Ei – ach, ach, ach, was für ein Ei!«

»Hör auf mit deiner Gackelei!« sagte Arminius Silberbein; aber er kratzte nachdenklich auf seinem Misthaufen und überlegte besorgt: Sollten am Ende die Frauen anfangen zu denken, und es käme eine neue Zeit? Wo bliebe dann der überlieferte Misthaufen und die Hähne als Herren der Welt, weil sie krähen? Denn, ehrlich gestanden, mehr als krähen können wir eigentlich nicht.

Ob eine neue Zeit kam, ist hier nicht zu entscheiden. Aber ein Sturm zog heran, schnell, dunkel und drohend. Dorothea Silberbein bemerkte das. Ein Huhn ist einem Orkan sozusagen unkongenial. Das Huhn sah das ein und verzog sich eilig in den Hühnerstall. »Ach, was hab' ich zu tun – ach, ach, ach, was hab' ich zu tun!« sagte es seufzend und verschwand in seiner Behausung zu Eiern, Eiern und abermals Eiern. Denn heute abend wollte Dorothea Silberbein anfangen zu brüten – kleine Küken, Hühner, die wieder Eier legen würden, und Hähne, die stolz auf dem Misthaufen stehen würden und krähen!

»Wie meinten Sie, bitte?« sagte Emilie Schlapperfuß, als der erste Windstoß über die Straße fegte. Auch eine Ente ist einem Orkan gegenüber sozusagen unkongenial. Aber Emilie Schlapperfuß war das nicht klar ins Bewußtsein getreten. Sie legte sich nur platt auf den Bauch und überließ alles Weitere der Anziehungskraft der Erde. Diese Kraft kümmert sich durchaus um solche Dinge. Sie wirkt wohltätig in zahlreichen Fällen und sorgt dafür, daß Hühner, Gänse und Enten nicht in den Himmel fliegen. Sie bewahrte auch Emilie Schlapperfuß. Der Sturmwind drehte sich bloß einmal herum, so daß sie um die eigene Achse glitschte und dann erfreut und unbekümmert ihre Nahrung statt westlich östlich in sich schaufelte.

Nur der Hahn Arminius Silberbein war standhaft auf dem Misthaufen geblieben. »Die Frauen fangen an zu denken, und ein Sturm kommt. Das ist die neue Zeit. Ich will sie empfangen und sieghaft überstehen«, krähte er großartig und stellte sich mit gespreizten Flügeln dem Sturm entgegen.

In einem einzigen Augenblick war er nach unten gefegt, und der überlieferte Misthaufen war regellos durcheinandergeworfen, nur oberflächlich natürlich, denn ein richtig angelegter und überlieferter Misthäufen ist ein sehr festgefügtes Ding und nicht so leicht in seiner Innerlichkeit zu erschüttern. Arminius Silberbein aber sah scheußlich aus, mit zerzausten Federn saß er auf der Straße und besah sich den Misthaufen von unten – eine gestürzte Größe. Sollte am Ende doch eine neue Zeit gekommen sein?

Abends im Hühnerhaus brütete Dorothea Silberbein über Eiern und Arminius Silberbein über Problemen. Hoch über dem Misthaufen draußen, dem Throne aller Hähne, standen ewig funkelnde Sterne, Welten und Welträtsel. In den Eiern regte sich leise neues Leben, Welten und Welträtsel im kleinen, den Sternen und allem Ewigen verwandt.

»Das mit den Eiern ist natürlich Unsinn«, sagte Arminius Silberbein, »das Welträtsel beginnt, wo das Selbstbewußtsein beginnt, also beginnt es beim Hahn, wenn er auf dem Misthaufen steht und kräht. Aber es kam heute eine neue Zeit und warf mich vom Misthaufen herunter. Es gibt also noch größere Welträtsel als den Misthaufen und mich selbst. Die Federn plustern sich, wenn man nur daran denkt! Welträtsel gibt es, hörst du, Dorothea, Welträtsel.« Er stieß Dorothea Silberbein mit dem Flügel an. Aber das Huhn schlief und brütete. »Ach, was hab' ich zu tun – ach, ach, ach, was hab' ich zu tun!« gackerte es leise im Schlaf.

»Die Frauen denken doch nicht«, sagte Arminius Silberbein beruhigt, »sie sitzen bloß auf den Eiern und brüten. Aber es gibt trotzdem Welträtsel. Ich werde mich morgen wieder auf den Misthaufen stellen und sie ergründen – alle, alle Welträtsel!« schrie er.

Dorothea Silberbein schlief weiter; nur Emilie Schlapperfuß fuhr einen Augenblick erschrocken aus Fett und Federn auf.

»Vom überlieferten Misthaufen aus!« schrie Arminius Silberbein, »alle Welträtsel, alle Welträtsel!«

»Wie meinten Sie, bitte?« sagte die Ente und sah den Hahn aus ihren kleinen Augen an, sehr freundlich und mit einem vollständig problemlosen Gesichtsausdruck.


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