Manfred Kyber
Einführung in das Gesamtgebiet des Okkultismus
Manfred Kyber

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Sechster Vortrag

Schicksal und freier Wille – Gottesbegriff – Kulturwende der Gegenwart

Wir haben das Hellsehen als vielleicht wichtigste, zum mindesten noch am meisten irrtumsfreie Eingangspforte ins Übersinnliche kennen gelernt, wenn es damit auch keineswegs ohne Einschränkung bereits als ein Erleben der geistigen Welten gelten kann. Wenn man auch die Anfänge oder die schwankenden Grenzen solcher Wahrnehmungen nicht überschätzen soll, so tritt uns aus den zahlreich erwiesenen Fällen einer tatsächlichen Prophetie vor allem die Weltanschauungsfrage entgegen: Was ist Schicksal und was ist freier Wille? Diese schwierige und auf den ersten Blick kaum entwirrbare Frage wird sich wesentlich klarer gestalten, wenn wir uns erst einmal mit den Begriffen von Schicksal und Willensfreiheit etwas näher beschäftigen.

Unter dem Begriff des Schicksals wird nun im üblichen Sinne sehr viel mehr zusammengefaßt, als eigentlich darunter, streng genommen, zu verstehen ist. Man nennt, wenn man überhaupt ein Schicksal gelten läßt, fast alles, was einem Menschen im äußersten Sinne begegnet, sein Schicksal. Das ist aber bei näherer Überlegung kaum zutreffend. Eine große, vielleicht die überwiegende Anzahl solcher Lebensdaten sind keine Schicksale, sondern Anlässe zu Schicksalen – Anlässe, aus denen eine stets verschieden gefärbte Innerlichkeit, eine stets anders getönte Willensrichtung im geistigen Sinne erst ein Schicksal zu formen imstande ist. Wenn zum Beispiel zwei Menschen ins Gefängnis gesperrt werden, ein in der heutigen Zeit ja sehr häufiger Vorgang aus rein politischen Gründen, ist es kein gleiches Schicksal, das sie betroffen, sondern ein gleicher Anlaß, der zwei ganz verschiedene Schicksale auslösen kann. Der eine Gefangene, der sich selbst geistig wenig zu bieten vermag, der vielleicht abhängig ist von allen möglichen, nun schmerzlich entbehrten Gewohnheiten, wird unter Umständen seelisch und körperlich schwer leiden, wird die Haft mit einer dauernden Schädigung beenden – der andere wird vielleicht in der Einsamkeit alle äußere Widerwärtigkeit überwinden und in innerster Kontemplation ein Werk schaffen, das ohne Anlaß kaum entstanden wäre, er wird die Zelle verlassen mit einer Bereicherung seines Lebens. Auch wenn man über den äußeren Anlaß hinausgeht, kann man nicht immer von einem gleichen Schicksal sprechen: eine unglückliche Liebe oder Ehe, eine zerstörte Freundschaft sind, obwohl durchaus Ereignisse innerer Art, noch keineswegs stets gleiche Schicksale, sondern nur gleiche Anlässe zu ganz verschiedenen Schicksalen, je nach Art der fraglichen Personen und der Wertung, die sie den Erlebnissen zu geben vermögen. Wägbare und unwägbare innere und äußere Nebenumstände färben den Anlaß erst zu einem Schicksal, und dem eigenen Willen des Menschen, seiner geistigen und seelischen Kraft ist hier weitester Spielraum und dehnbarste Möglichkeit gelassen.

Damit scheidet ein großer Teil der vorausbestimmten und vorausgesagten Daten im Sinne einer Willensunfreiheit eigentlich aus oder wird zum mindesten sehr wesentlich in seiner Bedeutung eingeschränkt. Von einem Anlaß, der zugleich, dem Willen und der persönlichen Einstellung nicht unterliegend, Schicksal und in zwei Fällen auch gleiches Schicksal sein würde, könnte man zum Beispiel nur sprechen, wenn es sich um den Tod und die Art des Todes handelt, wie das in dem von Flammarion angezogenen Bericht über den vorhergesagten tödlichen Schlangenbiß zutrifft. Hellsichtig wahrgenommen aber werden als Bilder eben doch meist die äußeren Anlässe des Lebens, die, einer bestimmten Kausalität entspringend, in der bestimmten Weise an einen herantreten. Was aus ihnen geformt wird, also das eigentliche Schicksal des Menschen, ist ihm selbst, seinem Willen und seinen Fähigkeiten unterworfen, wenigstens gradweise und in einer überwiegenden Zahl der Fälle. Prophetie ist also keineswegs gleichbedeutend mit völliger Willensunfreiheit der Menschen, wenn man den Begriff des Schicksals auf sein eigentliches Maß begrenzt. Ebenso zu begrenzen ist aber, wenn man eine Gegenüberstellung von Schicksal und Wille anstrebt, anderseits auch der Begriff der Willensfreiheit, der Freiheit überhaupt. Man macht sich von Freiheit, meist beeinflußt durch politische Vorurteile, keine ganz zutreffende Vorstellung. Frei ist man nur von etwas, von dem man innerlich völlig unabhängig ist. Man kann frei sein vom Alkoholgenuß, vom Fleischgenuß, von irgendwelchen Leidenschaften feinerer oder gröberer Art. In allem anderen ist man nicht frei, wenn man auch äußerlich scheinbar sehr frei zu sein glaubt oder dafür angesehen wird. Inwieweit man im Willen frei ist, ist aber überhaupt kaum zu beantworten, aus dem einfachen Grunde, weil wir wohl meist sehr genau und klar uns selbst oder anderen den Grund unserer jeweiligen Gefühle angeben können, fast niemals aber genau zu begründen vermögen, warum wir in dem Augenblick gerade dies oder das tun wollen. Nur wenn es sich um Befriedigung irgendwelcher Bedürfnisse handelt, können wir den Grund des Willens finden, aber das ist kaum ein Wille im höheren Sinne, mehr ein mechanisiertes Wollen, das mit dem Willen, den wir dem Schicksalsbegriff entgegensetzen, wenig zu tun hat. Es ist nicht freier Wille, mit dem wir eigentlich im gegebenen Falle eine Entscheidung treffen, ein Schicksal aus einem oder mehreren wählbaren Anlässen formen. Freilich gibt es auch einen solchen Willen, einen Eigenwillen, der sich gerade bei der Wahl verschiedener vom Leben gebotener Wege geltend macht, aber kaum jemals wird man genau angeben können, woher eigentlich dieser Wille stammte, jedenfalls nicht annähernd mit der gleichen Deutlichkeit, mit der wir ein Gefühl, eine Empfindung anzugeben und zu begründen vermögen. Im Gegenteil, man wird sehr oft die Beobachtung machen, daß eine Willensäußerung sich im Gegensatz zu der sonst gewohnten Gefühls- oder Geschmacksrichtung des Betreffenden befindet. Dieser Wille, der meist aus den verschiedenen Anlässen einen herauswählt und nun zum Schicksal formt oder die Schicksalsformung im Verein mit anderen Momenten vorbereitet, ist also in der Regel ein aus dem Bewußtsein heraus kaum zu begründender. Er redet und zwingt aus dem Bereich des Unterbewußtseins heraus und ist damit selbst ein Stück Schicksal, keine Freiheit in sich.

Bei solcher Eingrenzung der beiden Begriffe von Schicksal und Willensfreiheit bleibt nun immerhin bestehen, daß eine große und wohl überwiegende Zahl der Anlässe vorausgeschaut werden kann und mit ihnen gleichfalls die Entscheidungen, die der Betroffene im gegebenen Augenblick aus einem in seinem Bewußtsein nicht freien Willen treffen wird. Wenn also auch bei der bezeichneten Einschränkung durchaus erst der höhere geistige Wille des Menschen, sein eigentliches Ich, das Schicksal in Form eines Gesamtresultates formt, so verbleibt doch unbedingt die vorausschaubare an ihn herantretende Tatsache, zu der er sich zu stellen hat, es verbleibt auch vielfach die aus einem unbewußten Willen heraus getroffene Wahl – und diese Momente sind gegebene Daten, die sich als Richtlinien eines Lebens feststellen lassen, mit denen sich der Einzelne auf diese oder jene Weise abzufinden hat. In diesem Sinne gibt es ein Schicksal, gegen das auch der freieste Wille nichts vermag. Wir werden nun aber auch sehr oft, besonders bei weniger ausgesprochenen, weniger starken Persönlichkeiten den Fall finden, daß im Schicksal diese Sinnes vielleicht zwei, drei oder noch mehr Möglichkeiten gleichzeitig eintreten und einem mehr oder weniger bewußten Willen wählbar werden. So kann man im allgemeinen unter den hellsichtig vorausgeschauten Bildern eines menschlichen Lebens unterscheiden: bei richtiger Einstellung und Warnung ganz vermeidbare Ereignisse, die aber an einen herantreten, ferner Ereignisse, die in gleicher Weise, wenn auch nicht ganz vermeidbar, so doch biegbar sind nach ihrer guten oder schlechten Seite, und schließlich solche Ereignisse, die unvermeidbar, unbiegbar sind und die wirklich ein unentrinnbares Schicksal oder zum mindesten ein unentrinnbarer Anlaß zu einem zu formenden Schicksal sind. Ich wies ja schon darauf hin, daß ein Hellseher meist nicht alle Bilder eines Lebens oder einer Persönlichkeit überschaut, sondern nur einen, wenn auch vielleicht wesentlichen Teil. Immerhin aber ist es ja wahrscheinlich und vielfach wohl auch zutreffend, daß das eine richtig erschaute Bild durch ein nicht erschautes eine ganz andere Färbung oder Möglichkeit erhält. So sind nach den mir bekannt gewordenen Erfahrungen die meisten hellsichtig erschauten Ereignisse in irgendeiner Weise biegbar, wenn auch in einem begrenzten Rahmen, die geringere Zahl der Fälle ist vermeidbar oder unentrinnbar. Mit einem solchen Begriff des Schicksals ist der Begriff der Willensfreiheit, richtig verstanden, sehr wohl vereinbar – gleichzeitig aber ist deutlich in allem Geschehen eine vorausbestimmte Richtung zu sehen, eine Kette von Anlässen, die bei den einzelnen Menschenleben so unendlich verschieden ist, daß man sich gerade wohl besonders angesichts der ungeheuren Kämpfe unserer Gegenwart, im Hinblick auf so viele soziale Ungerechtigkeiten und Mißstände fragen muß, wie all dies scheinbare Chaos mit dem Begriff einer Gerechtigkeit im höheren, ethischen Sinn zu vereinbaren ist. Man sieht täglich Menschen von hoher ethischer und geistiger Artung in schwersten inneren und äußeren Lebensumständen schaffen, während sehr wertlose und hohle Existenzen meist ein genußfrohes und unbekümmertes Dasein führen. Bekannt sind ja auch die meist sehr tragischen Biographien der geistigen Führernaturen, der künstlerisch schaffenden oder wissenschaftlich Forschenden, Biographien, die jeder gerne in Bequemlichkeit liest, aber sicherlich nur ungern leben würde.

Nun ist in dieser entscheidenden Frage tatsächlich keine Gerechtigkeitsmöglichkeit aufzustellen, als nur in der Weise, daß man das einzelne menschliche Leben in seiner irdischen Zeitspanne nicht allein zur Untersuchung heranzieht, sondern daß man eine Konstanz des Lebens oder, richtiger gesagt, soundsovieler Leben in einer fortlaufenden Kette annimmt, mit anderen Worten, daß man sich auf den Standpunkt der sogenannten Wiederverkörperung oder Reinkarnation stellt. Man versteht darunter die Auffassung, daß das menschliche Ich nicht nur in einem irdischen Leben sich auslebt oder entwickelt, sondern daß es, in den verschiedensten Zeitepochen, mehrmals geboren und mehrmals gestorben ist, also in einer ganzen Zahl von Wiederholungen aus der geistigen Welt durch eine irdische Geburt in die physische hinabgestiegen und aus der physischen Welt in die geistige durch den Tod zurückgeboren wurde. Es ergeben sich also für ein menschliches Leben in seiner dauernden Existenz eine Anzahl von physischen Leben oder Inkarnationen und eine Anzahl von übersinnlichen Leben, von Leben in den geistigen Welten, wobei das Gesamtleben im Geistigen das Gesamtleben im Physischen zeitlich bei weitem übersteigt.

Es ist nun keineswegs unbedingt notwendig, sich diese hellsichtig erforschte Wahrnehmung als nur auf diesem Wege begreiflich vorzustellen. Vielmehr ist es logisch ganz unmöglich, bisher jedenfalls noch niemand gelungen, auf andere Weise eine göttliche Gerechtigkeit in bezug auf die Verschiedenartigkeit menschlicher Existenzen verständlich zu machen. Auch Lessing, der bekanntlich ganz rationalistisch dachte und alles Übersinnliche, wenn auch nicht ausschloß, so doch jedenfalls im Bereich seines Denkens als Beweismittel nicht anerkannte, hat es deutlich ausgesprochen, daß die Lehre der Wiederverkörperung die einzige faßbare und logisch haltbare Möglichkeit für eine Gerechtigkeit im höheren, göttlichen Sinne sein könne. Goethe und viele andere Dichter und Denker haben sich dieser Lehre zugeneigt, auch wenn sie ihnen hellsichtig nicht immer nahegebracht oder erwiesen erschien.

Aus dieser Wiederverkörperungslehre nun ergibt sich ganz von selbst das, was man in dem von uns begrenzten Sinne Schicksal oder, um den üblichen Ausdruck der indischen Esoterik zu brauchen, Karma nennt. Unter Karma versteht man alle die äußeren Anlässe, all das, was unbewußt aus der Willensregion aufstiegt, alles, was die Kette des Lebens bildet, aus der dann die mehr oder weniger innerlich gereinigte und damit befreite menschliche Persönlichkeit ein Schicksal zu schmieden hat. Karma ist der Begriff des Schicksals, wie er einer hellsichtigen Wahrnehmung im voraus in Bildern erscheint und wie wir ihn bei Untersuchung der Begriffe von Schicksal und Willensfreiheit als das umgrenzt haben, was als gegebenes Schicksal im vermeidbaren, biegbaren oder unbiegbar-unvermeidbaren Sinne vorliegt.

Bei Annahme einer Wiederverkörperungslehre ist es ja auch leicht verständlich, wie solch ein Karma in jedem einzelnen Falle entsteht und entstehen muß. Steigt eine menschliche Persönlichkeit, sein geistiges Ich, zum ersten Male in die Materie herab, so ergeben sich aus dieser Entwicklung Fehler und Vergehungen, wie bei jeder Reibung zweier Verschiedenheiten, und diese Fehler auszulöschen, gutzumachen ist die gegebene Ursächlichkeit im nächsten Leben, aus der sich dann im Zusammenhang mit erstrebten und erreichten Zielen ein neues Karma bildet, das, wiederum ausgelebt, aufs neue Licht und Schatten einem neuen Dasein vorbereitet. So besteht das gesamte Leben aus lauter einzelnen in jedem Einzelleben im Lauf der Evolution begangenen guten oder unguten Handlungen, deren jede sich weiterspinnt, um sich auszuwirken, bis eine Vollkommenheit erreicht ist. Unter diesem Gesetze treffen sich die Menschen, verketten sie ihre jeweiligen Schicksale, ihre Lebensjahre oder Aufgaben miteinander, unter diesem Gesetz noch vorhandener Reibungsflächen sind alle dauernden Verhältnisse, wie Liebe, Ehe und Freundschaft, zu werten. Sie alle unterliegen keineswegs den Gesetzen der Sympathie oder Antipathie, irgendeiner Gleichheit der Seelen oder der geistigen und ethischen Einstellung. Diesen Gesetzen unterworfen ist lediglich die geistige Welt, in der das Gleiche sich zum Gleichen findet und sich ihm feinstofflich verbindet wie Faust und Helena. Im Irdischen herrscht die Täuschung, der von der Leidenschaft, den Begierden geflochtene Schleier der Maja, der Illusion, der die jeweils zur Auslöschung, zur Überwindung einer karmischen Verkettung Verbundenen in einer oft nur vermeintlichen Sympathie zueinander zieht – ein Gesichtspunkt, unter dem die so häufige Haßliebe der Geschlechter, die sexuell gefärbte, oft in Antipathie übergehende Sympathie erklärbar wird. Je weniger gerade dies der Maja am meisten verfallene Moment vorherrscht, um so geringer die Reibungsfläche der karmisch noch Verketteten, daher geringer in Freundschaft, in elterlichem und kindlichem Verhältnis, als in dem, was eine grobstoffliche Welt unter dem Erotischen versteht und was so weit entfernt vom Eros im eigentlichen, frühgriechischen Sinne damaliger Eingeweihter war. Freilich können sich auch in unsexuellen karmischen Verkettungen sehr schroffe Gegensätze auswirken, aber ihre Auswirkung ist meist deutlicher und bewußter, weniger der Täuschung, der Illusion unterworfen.

Natürlich kann hier der Begriff des Karmas nur in großen Zügen angedeutet werden, jeder Fall wird ein Einzelfall sein, und wenn es an sich schon gefährlich und irrtumreich ist, Systeme aufzustellen und zu generalisieren, auf diesen in tiefsten Geheimnissen des Daseins verankerten Fragen ist es weniger als sonst angebracht. So muß man sich unter dem Gesetz des Karmas keinesfalls ein starres, unbeugsam blindes Gesetz denken, sondern eine in unendlicher Vielfältigkeit des irdischen und übersinnlichen Lebens sich zeigende Gesetzmäßigkeit. Gewiß schafft Karma einen Ausgleich, aber keinen im verstandesgemäß-rechnerischen Sinne, und wenn die Fassung dieses karmischen Gesetzes zum Beispiel im Alten Testament mit den Worten »Auge um Auge, Zahn um Zahn« ausgesprochen wird, so ist darunter ein lebensvoller Grundsatz, kein totes und mechanisches Schema zu verstehen. Wie im gewöhnlichen wirtschaftlichen Leben der Reichere eine Schuld leichter zurückzahlen kann als der Arme oder ganz Mittellose, so wird auch der moralisch und geistig inzwischen reicher Gewordene ein Karma aus einem früheren Leben leichter und unmerklicher löschen können als derjenige, der im Dasein in den geistigen Welten oder einer späteren irdischen Inkarnation weniger an sich gearbeitet, sich weniger zu einer höheren Stufe entwickelt hat. Nehmen wir an, ich schulde jemand eine Summe im geistig-seelischen Sinne genommen, so macht es einen großen Unterschied, ob ich inzwischen moralisch und geistig ein Millionär oder ein Bettler geworden bin. Hierhin liegt keine Ungerechtigkeit, denn die Schwierigkeit, die überwunden, die Mühe, die angewandt werden mußte, ist nicht umgangen, sie ist vollzogen worden vielleicht zu anderen Gelegenheiten, im Dienste einer Allgemeinheit, eines starken ethischen und geistigen Willens. Nicht Äußerlichkeiten, sondern lediglich Arbeit an sich selbst vermögen in diesem Sinne jemand reich oder arm zu machen, so daß er schwer oder unschwer etwas abtragen kann, was ihn karmisch einem anderen verpflichtet. Unbeugsam ist das Gesetz allerdings insofern, als es sich um die gleiche Person handeln muß, mit der einen ein begangener Fehler verbindet, unbeugsam auch insofern, als ein Abtragen der Schuld erfolgen muß. Aber es läßt völlig offen, wie schwer oder leicht man sich durch sonstige Entwicklung und verdienstvolle Handlungen diese Schuldtilgung gestaltet hat. Auch hier ist also dem Ich und seinem höheren Willen weitester Spielraum gelassen. Auch nicht um Schuld und Sühne im niederen Verstandessinne handelt es sich, sondern um höhere Einsicht eigener Verfehlung und damit eines an einem selbst haftenden und aus Erkenntnis der Evolution heraus zu beseitigenden Mangels.

So wird das jeweilige Schicksal des Einzelnen gleichsam von seinem höheren Willen selbst gewählt, selbst vorgezeichnet in der Erkenntnis seiner Entwicklung, soweit es sich nicht um wenig hochstehende Geister handelt, denen ein solches Karma aus den Resultaten ihrer früheren Leben von Wesenheiten bestimmt wird, auf die ich hier nicht weiter einzugehen brauche, da es sich ja für uns nur um eine Erklärung des Grundsatzes der Wiederverkörperung und des Karmas handelt, nicht um seine einzelnen Spielarten. Aus diesen Gesichtspunkten heraus ist es auch verständlich, daß manches Vorgezeichnete biegbar oder gar vermeidlich wird, wenn man im Laufe noch dieses Lebens sich gewisse Kräfte und Vorzüge angeeignet hat, die eine Auslösung früheren Karmas leichter ermöglichen, als zuerst vorauszusehen war – verständlich wird aber auch, warum manches unvermeidlich selbst bei hoher geistiger Einstellung in diesem Leben ist, warum es unentrinnbares Geschick wird und ausgelebt werden muß. Jedes Leben, jede Inkarnation ist eben gesponnen aus altem und neu gewirktem Karma.

Nun ist ein sehr häufiger und begreiflicher Einwand die Frage, warum man nicht bewußt empfindet, sich klar darüber ist, aus welchem Grunde einen dies oder jenes trifft, warum man nichts stets weiß, wodurch man selbst seine Ursächlichkeit geschaffen hat. Würde das so sein, so würde man tatsächlich nicht mehr dasselbe, zum Beispiel bei einem Unrecht empfinden, das einem zugefügt wird, was der andere, dem man es selbst einmal zugefügt, empfunden hat. Man würde nicht das Gefühl des zu Unrecht Gekränkten oder Geschädigten haben, man würde also nicht das Gleiche durchmachen, wozu man den anderen einmal in einem früheren Leben genötigt hat. Es muß durchaus, um diesen Grundsatz des Karmas aufrecht zu halten, die Verschleierung der Erkenntnis hinzutreten, die Täuschung der Maja, wie sie im irdischen Leben vorliegt. Nur dann kann man ganz das Gleiche empfinden, was einmal der von uns Geschädigte empfand, wenn man nicht weiß oder doch nicht genau weiß, warum es einen trifft. So waltet im einzelnen Menschen ein höherer Wille über dem niederen Willen, der hier im Schleier der Grobstofflichkeit sich auswirkt. Dieser höhere Wille ist Träger des unsterblichen Ichs, und darum läßt sich auch aus dem hier verschleierten niederen Willen eher ein Schicksal erkennen, als ein Bewußtsein begründen. Aus diesem karmischen Gesetz heraus aber kann man es sich auch erklären, warum dem einen gewisse Gefahren, Versuchungen und Krankheiten Schädigungen sein können und der andere durch sie hindurchgeht, als wäre keine Berührungsfläche mehr vorhanden. Irgend ein Ereignis, außer den genau vorausbestimmten, kann eben nur dann stattfinden, gleichsam einhaken, wenn es die karmische Beschaffenheit des Betreffenden noch erlaubt. Darin liegt das Geheimnis der Lanze des Gral, daß sie nur den treffen und verwunden kann, der noch verwundbar ist. Parsifal fängt die von Klingsor, dem Vertreter des schwarzmagischen Prinzips geschleuderte Lanze auf und richtet sie als Waffe gegen den Angreifer. Er ist immun, karmafrei und unverwundbar.

Oft ist auch eingewandt worden, daß man dann ja niemand zu helfen brauche, wenn sein Karma ihm sowieso bestimmt sei.

Auch das ist nicht zutreffend. Ohne Hilfe, ohne Liebe im geistigen Sinne gäbe es überhaupt keine Entwicklungsmöglichkeit, auch hierin spielen sich Vorgänge ab, die karmisch Ausgleiche sind oder einmal für spätere Leben solche vorbereiten.

In dies persönliche Karma hinein spielen nun freilich auch noch andere Momente, spielen die Schicksale der Rassen-, Völker- und Familienseelen in ihrer bereits einmal geschilderten Gruppenhaftigkeit. Ganz entziehen kann sich dieser Einwirkung niemand, am freiesten wird die stärkste Persönlichkeit von ihnen sein, am unfreiesten in ihnen die schwächste, woraus sich erklären läßt, daß gerade in der Gegenwart oft in sehr alten Familien schwache, ja vielfach ethisch oder intellektuell minderwertige Persönlichkeiten sich inkarnieren. Jene Gruppenseelen der Rassen, Völker und Familien haben nicht mehr ganz die gleiche Bedeutung wie in früherer Zeit, wo die Menschheitsentwicklung, gruppenhaft geleitet, auf solche Gliederungen abgewiesen war. Immer mehr arbeitet sich aus diesem Gruppenhaften das Ich, das persönliche Eigenleben heraus, wie wir es entwickelt sahen in den alten Mysterien. Freilich wird man auch heute die Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Volke, einer Familie keineswegs als unbedeutend ansehen dürfen. Diese Bedeutung ist auch heute noch eine sehr große, aber eine sekundäre vor der primären des Ichs. Wäre das nicht so, könnte man Genies züchten, was bekanntlich nicht möglich ist – im Gegenteil haben alle solche Beobachtungen der Inzucht in alten Familien oder besonderen Rassen Decadence erwiesen.

Trotzdem sind die heute wieder sehr in Aufnahme gekommene Rassenforschung und die daran geknüpften eugenetischen Forderungen von erster Bedeutung. Es ist sicherlich sehr wichtig, daß man endlich aufhört, kranke Kinder von geschlechtlich verseuchten Eltern zeugen zu lassen, daß man Alkoholiker, Menschen mit verbrecherischen Neigungen von der Fortpflanzung ausschließen will usw. Nicht aber die sich inkarnierenden Geister werden damit anders geschaffen, sondern – eine Frage von größter Tragweite – die irdische Wohnmöglichkeit der an sich nicht erst durch die Zeugung geschaffenen menschlichen Individualitäten wird damit günstig oder ungünstig beeinflußt. Nicht durch eine gute und ausreichende Werkstatt wird ein Handwerker oder Techniker das, was er ist, wohl aber wird damit seine leichtere und größere Schaffensmöglichkeit entschieden. Auch die Artung der Instrumente, die ein Geist braucht, um sich zu betätigen, kann durch Fragen der Rassenhygiene und Familienkunde entschieden werden, nicht aber haben diese Rasse oder jene Familie einen Geist gezeugt, wozu sie keinesfalls imstande waren, schon darum, weil ihnen der in ihrem Rahmen erstandene Geist meist bei weitem überlegen war. Goethe, zum Beispiel, brauchte für sein Schaffen und dessen Artung durchaus das feine Nervensystem, das nur eine Reihe von Generationen hervorbringt, Hebbel konnte in der rein monumentalen Art seiner dichterischen Auswirkung gerade darauf verzichten. Weder Goethe noch Hebbel aber sind irgendwie Resultate ihrer Familien und deren vergangener Generationen. Beide stehen einander näher als ihren Familien oder ihrem Volke, ihrer Rasse. Über die ganze Geschichte der Menschheit hinweg reichen sich die geistigen Bahnbrecher irgendwie die Hände, einerlei welcher Rasse, welchen Volkes und welchen Geschlechts sie waren, sie weisen einen Weg, den die Menschheit langsam und mühsam wandert über die Gruppenhaftigkeit der Rasse und Völker und Familien, die ja alle doch mit jeder Inkarnation wechseln, zu einem durchgeistigten Menschentum, das über diesen Dingen steht, sie überwunden hat, nachdem sie im Rahmen solch schützender Gruppenhaftigkeit ausgereift sind wie das Kind im Schoß der Mutter. Begreiflich, daß gerade das Leben solcher Menschen tragischer als das anderer ist, daß sie eine größere Fremdheit und Einsamkeit in der irdischen Lebensepoche empfinden müssen, daß die zudem, vom eigenen Karma abgesehen, eine Art von Aufgabenkarma auf sich nehmen müssen, um die jeweils nötigen, ihnen innewohnenden Impulse in der Art in die Menschheit hineinzubringen, daß der Zeitcharakter bei allem Ewigkeitswert gewahrt bleibt, um die Ewigkeitswerte ihrer Zeit verständlich zu machen. Auch das ist nur möglich, wie alles Schaffen, aus dem lebendigen Erleben heraus, aus der Reibung mit dem jeweils durch die bestimmte Kulturepoche gegebenen Grobstofflichen. Hierin und in der Fremdheit dem Grobstofflichen gegenüber liegt die großer Tragik im Leben der Schaffenden und Geistigen.

Wenn wir das Gesetz des Karma in dieser Weise betrachten, werden wir auch verstehen lernen, warum so oft Wahlverwandtschaft einem näher steht als Verwandtschaft im irdischen Sinne der Blutsgemeinschaft. In der Wahlverwandtschaft begegnen sich wirkliche, nicht vom Schleier der Maja aus karmischen Gründen nur scheinbar geschaffene Sympathien. Wie häufig begegnen einem Menschen, die man schon lange Jahre zu kennen vermeint, wenn man auch nur wenige Worte mit ihnen gesprochen, und wie fern kann man sich oft mit Personen stehen, die einem in naher Blutsverwandtschaft verbunden sind. Dies Erkennen alter Gemeinschaften aus früheren Leben sollte sehr viel mehr beachtet werden, es wirft ein geistiges Licht auf sonst nur allzu leicht materiell gewertete Geschehnisse.

Anderseits soll man sich hüten, nun über seine eigenen früheren Leben oder über die verschiedenen Inkarnationen anderer nachzugrübeln und nachzuforschen. Meist führen solche gewaltsam herbeigesehnten Erkenntnisse nur zu Selbsttäuschungen, die, oft nichts weiter als lächerlich, doch unter Umständen auch zu falschen Schlüssen und folgenschweren Irrtümern führen können. Es ist sicher reichlich albern, wenn sich Anhänger der Reinkarnationslehre, wie das oft geschieht, allerlei berühmte Namen vom frühesten Altertum an für ihre früheren Erdenleben gewaltsam und sehr willkürlich, einer geistfernen Eitelkeit folgend, heraussuchen. Manchmal aber geben Erlebnisse von in okkulter Hinsicht gar nicht informierten Menschen nicht uninteressante Anhaltspunkte für ihr früheres Leben, seine Zeit oder Örtlichkeit. Manches kann man lernen aus besonderen Sympathien, die jemand für eine Zeitepoche, einen Kunststil hat, manches schließen aus Erinnerungen, die jemand beim Erblicken einer Landschaft, einer neuartigen Gegend als vertraut in sich wachwerden fühlt, ohne es sich erklären zu können. Nicht immer weist das auf dort gehabte frühere Erdenleben hin, sicher aber auf Zusammenhänge ähnlicher Art. Nicht grübeln soll man über diese Fragen und zwecklose Kombinationen erfinden, sondern sich dem Gefühl der Wahrscheinlichkeit dieser Lösung nicht einseitig verschließen, sich vorerst einmal rein theoretisch sagen, was sich Lessing sagte, daß die Wiederverkörperungslehre die einzige Möglichkeit einer Gerechtigkeit im höheren Sinne zuläßt. Nur wenn man das menschliche Dasein über weitere Spannen hinaus zu ergreifen und zu begreifen vermag, kann man einen Ausgleich, eine Harmonie, eine Evolution des Geschehens erblicken. Nicht unerwähnt will ich noch lassen, daß die vergangenen Leben auch in die Träume dazwischen hineinspielen und daß Kinder noch oft eine Erinnerung an solche frühere Existenzen bewahrt haben, nur daß man ihre dahin gerichteten Äußerungen meist nicht beachtet oder verlacht.

Nur mit wenigen Worten kann ich die indische Lehre von der Wiederverkörperung der Menschen in Tierleibern berühren, die vom nicht informierten Europäer häufig allein als Reinkarnationstheorie gewertet wird. Sie ist so wörtlich überhaupt nicht zu nehmen, denn für den menschlichen, bereits mehr oder weniger verpersönlichten Geist ist im Tierisch-Seelischen, das noch ganz oder überwiegend der Gruppenhaftigkeit angehört, keine Evolutionsmöglichkeit gegeben. Sonst aber weist diese Lehre bildlich auf unsere enge Geschwisterschaft mit den Tieren hin, die ja auch aus dem Gruppenhaften einen Evolutionsweg zur Verpersönlichung gehen, wenn auch zu einer solchen mit anderen Zielen und Aufgaben. Auch hat diese Form der Reinkarnationstheorie eine äußerst heilsame Erziehung ausgeübt im menschlichen Verhalten den Tieren gegenüber, eine Erziehung, die dem heutigen Durchschnittseuropäer nur allzusehr fehlt. Ferner wird damit angedeutet, daß ein menschliches Ich gewissen Eigenschaften tierischer Art sich nähert, gleichsam eine Welle geistig mit ihnen versklavt wird. Auch weitere, schwierigere Bedeutungen liegen darin verborgen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Jedenfalls aber sollten Vivisektoren und andere Tierschinder, die unsere vermeintliche Kultur reichlich aufzuweisen hat, nicht ganz gedankenlos an dieser alten Lehre vorübergehen: in ihr ist ein unbeugsames Gesetz der Vergeltung enthalten. Es gibt nämlich so etwas wie ein Buch des Lebens, in dem auch die kleinsten Geschöpfe stehen. Das ist eine Tatsächlichkeit, auch wenn die anthropozentrisch kleinen Scheindenker darüber lachen – selbst ihre Dummheit entschuldigt nicht jedes Verbrechen, und es kommen Stunden, in denen auch den Borniertesten das Lachen vergeht. Für unsere grundsätzliche Erörterung haben wir es aber nur mit der Wiederverkörperung menschlicher Individualitäten in menschlichen Daseinsformen zu tun.

Eine zweite Frage, die sich an die Annahme von Schicksal und Wiederverkörperung knüpft, ist die, warum das menschliche Ich jenen Niederstieg ins Grobstoffliche überhaupt unternehmen mußte, warum es dadurch in eine Evolution verstrickt wird, die unvermeidbar mit Irrtum und Schuld verbunden ist. Wir rühren damit auch an die Existenz von Gut und Böse, von Licht und Schatten, also wiederum an eine Weltanschauungsfrage, die, wie die vorhergehende, auch nur zu beantworten ist im Sinne eines Vergleiches und nur erfaßt werden kann mit einem erahnenden intuitiven Denken. Natürlich ist es unmöglich, letzte Daseinfragen mit dem Verstände allein zu lösen oder zu fassen, es wäre eine jammervoll begrenzte Schöpfung, kein Buch der tausend Naturwunder, wenn menschlicher Verstand im allein logischen, wissenschaftlich überschätzten Sinne an diese Fragen heranreichen könnte. Man muß schon etwas vom Ewig-Kindlichen, Schöpferischen in sich wachrufen, um zu erahnen, was nicht plump zu begreifen ist. Einen Weg zu solchem Erahnen könnte Ihnen vielleicht der folgende Gedanke weisen: fragt man sich, was man eigentlich weiß, so kommt man zu dem Schlusse, daß man nur von dem mit Sicherheit sagen kann, man wisse es, von dem man sich ein Erinnerungsbild zu gestalten vermag. Das trifft auch auf die einfachste Tatsache zu. Bewußt weiß man nur das, was man vergessen hat, um sich dann wiederum daran zu erinnern. Erst dann ist man sich über den Besitz einer Kenntnis klar geworden, wenn man sie nicht nur hört, sondern sich überzeugt hat, daß sie nach Ausschaltung, also nach einem Vergessenheitsstadium, in der Erinnerung wieder hergestellt werden kann. Damit hat man sich überzeugt, daß das, was man hörte oder sah, in irgendeiner Weise geistiges Eigentum geworden ist. Legt man diesen Gedanken annähernd der Frage zugrunde, warum der Mensch aus höheren, feinstofflichen Welten heruntersteigen mußte ins Grobstoffliche, so kommt man einer Ahnung des Evolutionsgeheimnisses sehr nahe. Was unbewußter Besitz war, ähnlich dem Erleben der Kindheit, wird bewußter Eigenbesitz durch einen Vorgang, der durch Vergessenheit zur Wiedereroberung auf dem Wege der Rückerinnerung führt. In diesem erahnten, mehr einer geistigen Gesinnung ähnlichen Gedanken liegt das Geheimnis des verlorenen Paradieses:

»Nieder stieg ich zu vergessen,
was ich einst im Licht besaß,
und doch nie bewußt besessen,
weil ich es noch nie vergaß.
Durch Vergeßnes muß ich dringen,
selber muß ich, geistgeweiht,
in Erinnerung erringen
meines Wesens Wesenheit.
Graben muß ich Grabeshügel,
sterben lassen, was erstarb,
bis der Freiheit Flammenflügel
sich mein eigenes Ich erwarb.
Bis die Worte in mir reden,
die ich unbewußt gewußt,
bis in mir der Garten Eden
mein wird in der eignen Brust.«

In grobstofflicher Materie die feinstoffliche Existenz vergessen, um sie sich, gleichzeitig die Materie wieder vergeistigend, bewußt und zu bewußtem Eigenbesitz wieder zu erobern im Laufe der Evolution, das ist im Sinne der esoterischen Lehren die Aufgabe der Menschen. »Man muß im Dunkel gehen, um die Sterne zu sehen,« man kann Licht nur erkennen, nur bewußt erleben, wenn es sich hindurchringt aus der Finsternis, sonst bleibt es ein unbewußtes Taumeln im Licht wie das Dasein eines Falters. Die Aufgabe der Menschheit aber soll zur Bewußtheit führen, und solche Bewußtheit, in jedem als Erinnerung an ein sonnenvolle unbewußtes Falterleben schlafend, kann nur erweckt werden durch die Gegensätzlichkeit von Licht und Schatten, von Gut und Böse, nur durch ein Hinabsteigen in dunkle Vergessenheit, um sich in ihr sehnsuchtsvoll durch Leid und Tränen zurückzuerinnern an eine Sonnenwelt, die nun im bewußten Ich geboren werden soll. »Ich muß Maria sein und Gott aus mir gebären,« sagt Angelus Silesius.

Es liegt auf der Hand, daß die heutige, durch Fleisch- und Alkoholgenuß, durch rein materialistisches Verstandesdenken unkindlich gewordene, vergröberte Menschheit von solcher Durchgottung sehr weit entfernt ist. Dunkel genug aber wird es sicher bald sein, so daß auch sehr Sternenferne Menschen vielleicht die Sterne sehen werden. Es ist in allen diesen Fragen sehr überflüssig, ein meist recht eingebildetes, akademisches Denken zu bemühen. Das reicht in seiner bescheidenen Begrenzung und seinem oft recht unbescheidenen Gebahren gewiß für eine große Zahl der Tatsächlichkeiten des Okkultismus aus, wie ich sie Ihnen im Verlauf der Vorträge angeführt habe. Für diese letzten Fragen aber, die sich in jedem nicht ganz verbohrten Menschen regen, ist schon eine Art von Selbsterleben notwendig, und an dieser Stelle besonders möchte ich noch einmal darauf hinweisen, was ich Ihnen schon bei Beginn meiner Ausführungen sagte: daß ich Ihnen nichts geben kann, was nicht in Ihnen ist, daß ich nur erwecken kann, was latent ist, daß ich erinnern kann an das, was Sie vergessen, aber selbst einmal gewußt haben oder eben noch erahnend wissen. Nur in dieser Weise kann man sich annähernd eine Vorstellung menschlicher Evolution bilden. Selbstverständlich sind in dieser Evolution inbegriffen, mitverkettet in der Kette der Dinge, alle sonstigen Lebewesen der Erde, die eine Entwicklungseinheit in all ihrer Vielheit bilden. Und wie das menschliche Ich allmählich aus der Gruppenhaftigkeit der Rassen-, Völker- und Familienseelen, aus alter und nun überwundener Standesgliederung sich langsam zum Bewußtsein seiner selbst entwickelt hat, so muß es nun, wo als Resultat solcher Einseitigkeit eine allzustarke Ichbetonung stattgefunden hat, dieses erreichte Ichleben vergeistigen und durchgotten. Daß dies nur auf dem Wege der Liebe geschehen kann, ist ebenso einleuchtend, wie es begreiflich ist, daß eine erst zu erringende Egoität auf dem Wege der Reibung, des Kampfes erstrebt werden konnte und sollte.

Wir stehen nun an der Schwelle, wo eine alte Evolution abschließt und eine neue beginnt. Die absolute und undurchgeistigte Egoität der Seelen, mögen es nun Rassen-, Völker-, Familienseelen oder einzelne menschliche Individualitäten sein, führt unbedingt ins Chaos hinein, in dem wir uns ja bereits zum großen Teil befinden. Es handelt sich hier nicht um eine vielleicht nur idealistische Utopie, sondern um Erkenntnis. Die große Liebe aber ist, wie Leonardo sagt, die Tochter der großen Erkenntnis, und man wird schon zugeben müssen, daß uns Leonardo da Vinci erheblich klüger erscheinen muß als alle die vielen und allzuvielen akademisch Klugen und die Nützlichkeitsdenker. In unserer heutigen naturfernen Zeit ist es auch nicht unnötig, darauf hinzuweisen, daß solche Erkenntnis und solche Liebe sich ebenfalls auf die Tiere als unsere Mitgeschwister, auf Pflanzen und alles sonstige Leben der Schöpfung zu erstrecken haben wird. Nur kleine Geister fühlen sich im anthropozentrischen Gesichtswinkel behaglich, kleine Geister aber werden eine neue Kultur nicht fördern. Niemals kann eine neue Kultur beschritten werden von Menschen, die in Tieren nur Ausnutzungsobjekte sehen, die sie schlachten, fressen oder sie sonstwie ihrem Eigennutz im niedrigsten Sinne dienstbar machen. Eine neue fleischlose Ernährung, die vielen heute schon selbstverständlich ist, würde die meisten sozialen und wirtschaftlichen Schäden beheben, aber sie setzt eben eine Kultur voraus, die wir nicht haben und die wir erst erreichen müssen und werden und die man wahrscheinlich erst begreifen wird durch die Not. Man verschließt sich auch dem Verständnis der Natur, wenn man alle Pflanzen, Bäume oder Blumen nur auf ihren Nutzen hin betrachtet. Der Mensch ist heute lächerlich stolz, daß er angeblich die Natur sich dienstbar gemacht habe mit allerlei Erfindungen und technischen Fortschritten. Er übersieht, daß er im wesentlichen nur Geister rief, die er nicht loswerden kann, daß er nicht Herrscher, sondern Beherrschter ist, daß er versklavt ist von seinem eigenen Nützlichkeitsdenken.

Alle diese großen Gesichtspunkte lassen sich zwar auf die Tatsächlichkeiten okkulter Forschung aufbauen, aber sie lassen sich mit dem gleichen Verstandesdenken nicht mehr messen. Sie müssen erlebt werden, und zu solchem Erleben hinzuführen, ist der Zweck meiner Vorträge gewesen. Dies Erleben ist nicht immer leicht, aber es ist unvermeidlich. Mich fragte einmal jemand nach meinen Vorträgen, wie man es nun eigentlich machen solle, an ein Schicksal zu glauben, auch wenn man alle die gewiß interessanten Daten sich angehört habe, die im Hellsehen und ähnlichen Vorgängen enthalten sind. Ich erwiderte, man müsse erleben, was ich auch erlebt habe: man müsse alles verlieren, was man besitzt, monatelang vor dem Tode und dem Verhungern stehen und nicht mehr wissen, was der nächste Tag bringt und wovon man leben wird. Man mache dann sofort die Erfahrung, was Schicksal sei. Alle die klugen Reden und Experimente sonst gewiß sehr achtbarer Forscher beweisen natürlich gar nichts als gewisse Verstandesergebnisse, mit denen allein aber sich ein wirkliches Menschenleben, das über das rein Automatenhafte hinausgeht, nicht leben läßt. Je ferner jemand einer in ihm selbst ruhenden Weltanschauungsmöglichkeit ist, umso tiefer wird das Dunkel sein müssen, in das er hinabsteigt, um die Sterne zu sehen. Es handelt sich ja im Sinne höheren Denkens gar nicht um irgendwelche plump greifbaren Ergebnisse, aus ihnen wird nie eine neue Kultur geschaffen werden, genau so wenig wie aus ihnen jemals ein Kunstwerk entstehen kann. Es handelt sich um ein organisches Wachstum menschlicher Imponderabilien, die erst allmählich und schrittweise im eigensten kulturellen Erleben ponderabil werden können. Nur dieser, den alten Mystikern selbstverständliche Vergottungsprozeß in der Erkenntnis kann zu neuen kulturellen Möglichkeiten führen, und es ist sehr charakteristisch für die heutige Fachwissenschaft, auch für diejenige, die sich mit dem Okkultismus befaßt, mit welcher Ängstlichkeit sie allem ausbiegt, was Gott oder Religion heißen könnte. Sie vergißt, so geistreich sie sein will, daß nur kleine Geister, die gottferne sind, ohne diese erahnten Begriffe auskommen können, daß aber größere und gottnahe Menschen schon darum niemals ohne Religion und Gottheitsempfinden leben und schaffen konnten, weil ihr Leben und Schaffen weit über den Horizont bescheidenen menschlichen Intellekts hinausreichte. Es ist letzten Endes eine Frage des eigenen Horizonts, ob jemand ohne Religion leben kann oder nicht, und bei dem grotesk geringen Ausmaß des heutigen Durchschnittshorizonts ist eine atheistische Einstellung sehr erklärlich.

Auch diese, die Gottheitsfrage, ist aber, wie alles Feinstoffliche, mehr geistige Gesinnungsangelegenheit, als Problem des Intellekts. Aus diesem Grunde sind auch alle theologischen und dogmatischen Streite hierüber nicht nur überflüssig, sondern gottferne. Es ist mit dem Begriff der Göttlichkeit gar nicht vereinbar, ihn menschlich messen zu können, ihn anders werten zu wollen als mit einem intuitiven Erahnen. Genau so müßig sind darum auch die beliebten und bekannten Kämpfe um den Theismus, den Deismus und Pantheismus. Wer einen Gott annimmt, muß, will er ihn nicht entgotten und vermenschlichen, zugeben, daß er sowohl in allem, als auch als Einzelwesen vorstellbar und wirksam sein kann. Es scheint mir bei dieser Erwähnung des Gottesbegriffes angebracht, noch einige Worte über das Nirwana der indischen Religion oder das ihm wesensgleiche Tao der chinesischen Lehre Lao Tses zu sagen. Das europäische Denken ist in einem sehr unangebrachten Hochmut gewohnt, die Begriffe des Tao oder das ihm geläufigere Nirwana gleichbedeutend mit einem faulen, passiven Sichaufgeben und Aufgehen im Nichts zu werten. Das ist ungefähr so geistreich, als wenn wir aus unseren Kriegen und Bruderkriegen, aus unseren Menschen- und Tierschlächtereien und unserer ganzen Geschichte von Haß und Blut den Geist des Christentums konstruieren wollten. So fern diese dem Christentum sind, so fern ist jene aus einer der europäischen ähnlichen asiatischen Korruption entstandene Nichtsvorstellung dem Nirwana oder Tao. Nicht um ein Aufgehen im Nichts handelt es sich hier, sondern um ein Aufgehen in der Gottheit, in der Harmonie des Alls, aber mit einem durchaus persönlichen Eigencharakter und zwar einer bis auf die höchste Stufe der Möglichkeit geförderten Sonderentwicklung. Auch diese Vorstellung, die ganz der Vergottung der christlichen Mystiker entspricht, wenn man sie richtig auffaßt, läßt sich am ehesten in einem Bilde erahnen. Denken Sie sich jede menschliche Geistigkeit des Einzelnen als eine Glocke. Sie wird so lange umgegossen, nicht bis sie klingt wie alle anderen, sondern bis sie die höchste Feinheit ihres Eigengeläutes erlangt hat – und alle diese bis auf ihren letzten Sonderklang gebrachten Glocken ergeben nun im Gesamten, im Nirwana, im Tao, in der Göttlichkeit ihrer Vollendung den Gesamtton ewiger Harmonie, die Übereinstimmung in sich und in Gott – nicht also einen gleichen Ton, sondern einen Akkord zahlloser Töne. Das ist, für den Einzelnen betrachtet, Harmonie des Eigenwillens mit dem Allwillen, nicht Auslöschung, sondern Vergottung des Ichs. Damit erledigt sich auch der von kirchlicher Seite öfters erhobene Vorwurf, der Okkultismus sei kirchenfeindlich. Der wirkliche Okkultismus, der, fern von engherzigem Sektentum, geistiges Erleben und Gottsuche wird, ist antikirchlich nur da, wo die Kirche antireligiös ist, wo sie versandet und erstarrt ist und eine neue Durchlichtung genau so braucht wie die heutige Menschheit.

Ich habe Ihnen, ausgehend von den Fragen nach Schicksal und freiem Willen, über die Wiederverkörperungslehre und das Karmagesetz bis zum Gottesbegriff und der Vergottung in ihm ein Bild zu gestalten versucht, wie sich ein Sinn in der menschlichen Evolution finden ließe. Es sollte nicht mehr als ein Bild sein, es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen dieses Bild irgendwie als Dogma zu empfehlen, sondern es ist ganz Ihre eigenste Angelegenheit, sich eine Tatsächlichkeit für sich selbst daraus zu formen nach Ihre eigenen Wahl und Ihrem eigenen Willen. Welcher Weg der Weiterforschung und der Weiterentwicklung Ihnen der geeignete erscheint, werden Sie ja selbst an Hand der gegebenen Daten entscheiden können. Ich bezweckte lediglich, Ihnen eine Übersicht und eine Einführung in ein schwer gangbares und schwer übersehbares Gebiet zu geben. Aus diesen Anregungen aber läßt sich leicht für jeden Einzelnen ein selbständiges Weiterbauen ermöglichen, das natürlich nicht mehr Aufgabe meiner Vorträge sein kann. Darum will ich auch, wie bisher, darauf verzichten, ausführlich auf besondere Richtungen und ihre Führer einzugehen. Ich habe schon einmal betont, daß ich mich mit keiner der bestehenden Gesellschaften einverstanden erklären kann. Ich habe gewiß bei diesem oder jenem der heutigen geistigen Führer viel Gutes gefunden, neben manchem, das ich nicht mitzumachen vermag oder ablehne, aber sie alle haben ihre Ideen meist auf eine sehr breite Basis gestellt, und nach den bisherigen Erfahrungen führt solch eine Verallgemeinerung oft sehr komplizierter esoterischer Erkenntnisse, die vielfach strittige, wenn auch interessante Spezialforschungen sind, bei allen nicht genügend charakterlich gefestigten und geistig vorbereiteten Menschen zum fanatischen Dogmatismus und zum sektiererischen Dünkel. Ich bin nicht der Ansicht, daß uns damit geholfen ist. Ganz abgesehen von den Schäden, die solchen Gesellschaften selbst entstehen, wird auch den Ideen damit meist mehr geschadet als genützt. Ich habe die Erfahrung gemacht, auf die ich schon einmal hinwies, daß die schlimmsten Feinde solcher Führer und ihrer Ideen keineswegs die mehr oder weniger sachlichen Gegner sind, sondern ihre fanatischen Anhänger. Dagegen sollte die elementare, jedem faßliche Kenntnis des Übersinnlichen in weiteste Kreise getragen werden.

Notwendige Grundlage für solche Wiedererweckung übersinnlicher Erkenntnisse und unerläßliche Vorbedingung für das Werden einer neuen Kultur aber ist Charakterschulung, Reinheit der Gedanken und vertiefte ethische Gesinnung, die Liebe zu allen Geschöpfen in sich trägt. »Wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten« lautet die goldene Regel jeder wahren Geheimwissenschaft, wie sie Rudolf Steiner in seinem Werk »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« anführt. Auf dieses Buch, das ich schon früher namhaft machte und das ich weit über alle anderen Bücher des Verfassers stelle, möchte ich in dem Sinne nochmals hinweisen. Ich habe hierbei nicht seine letzten Kapitel im Auge, die ich nicht nachprüfen kann, die mir aber Sondererleben allzusehr zu verallgemeinern scheinen – ich glaube kaum, daß der Eintritt in die höheren geistigen Welten durchaus so verlaufen muß, sondern daß dabei viele Möglichkeiten vorliegen. Aber die Charakterschulung dieses Buches, auf indischer und altchristlicher Weisheit aufgebaut, ist mit größter Schönheit und Klarheit gestaltet. Hier sind wundervolle Werte enthalten, die jeder sich aneignen sollte, gleichviel, welchen geistigen Weg er sonst einzuschlagen beabsichtigt. Leider kann man von den vielen blinden Nachbetern Steiners nicht behaupten, daß sie dieser Charakterschulung des genialen Forscher folgen, den sie nur allzuoft im Dünkel gegen alles andere zum unfehlbaren Sektenapostel erniedrigen. Auch hier hat es sich wieder einmal gezeigt, daß man schwierige geistige Erkenntnisse nicht, ohne nach Graden zu stufen, auf eine breite Basis stellen kann. Auch die von Steiner in letzter Zeit ins öffentliche Leben gesetzten, viel umstrittenen Experimente haben meist nicht Vertreter gefunden, die seinen Erkenntnissen der höheren Welten gerecht werden. Noch mehr trifft das bei seinen künstlerischen Versuchen zu, die ich zum größten Teil für wenig glücklich halte – um sie hat sich, von einigen Ausnahmen abgesehen, ein Regiment geräuschvoller Dilettanten gesammelt. Es ist – ganz allgemein gesagt – eine notwendige Forderung, daß sich geistige Führer von solchen Elementen freimachen, wenn sie ihre Aufgabe nicht ernstlich gefährden wollen.

Für eine solcher Charakterschulung und geistiger Gesinnung angepaßte physische Ernährung scheinen mir die Ernährungslehren der Masdasnangesellschaft empfehlenswert, vorausgesetzt, daß man ihren schroffen Radikalismus vermeidet und ihren nur Richtlinien entnimmt, die man im jeweils persönlichen Sinne ausbaut. Auch die vorzüglichen Werke über Ernährung von Dr. von Borosini seien hier genannt und Jaskowskis schöne »Philosophie des Vegetarismus«. Denn eine künftige vergeistigte Kultur kann und wird keine Unkultur der Schlachthäuser, Schnapsbrennereien und Bierbrauereien sein, so unbequem diese Erkenntnis den Vielen und Allzuvielen sein mag, die an unserem groben Materialismus hängen oder Nutzen aus ihm ziehen. Die Zeit der gegenwärtigen Kulturwende pflegt zu erzwingen, was die Menschen nicht begreifen können oder nicht begreifen wollen. Auch eine neue Kleidung auf hygenischer und ästhetischer Grundlage ist selbstverständlich, ebenso eine sorgfältige Körperpflege.

Wenn ich am Schluß persönlich eine Ansicht äußern darf, in welcher Richtung ich am ehesten neue Wege zu einer neuen Kultur zu sehen vermag, so möchte ich sagen, daß ich sie am wahrscheinlichsten denken könnte in vielen kleinen kulturellen Gruppen, die sich dann allmählich in gegenseitigem Austausch ihrer Arten ausgleichen und ergänzen und so aus lauter Ringen eine Kette bilden, die eine Einheit aus lauter Verschiedenheiten aufbauen könnte. Innere Kultur ist eben eine Frage der Qualität und nicht der Quantität. Das wäre vielleicht ein langsamer Aufbau im zusammenbrechenden Chaos dessen, was nicht mehr zu retten ist.

Eins aber ist sicher: daß keine dogmatisch erstarrten oder erstarrenden Kenntnisse eine neue Kultur bahnen und bilden werden, sondern daß Kenntnisse nur Anregung und Anstoß sein dürfen zu eigenem Wachstum und eigenem Erleben. Freilich zu solchem Erleben, das nicht mehr Halbleben ist, das sich klar darüber ist, daß der Mensch Bürger zweier Welten ist, daß sich die Menschheitsevolution gestalten muß aus dem Geistigen über das Materielle wieder ins Geistige hinein, nicht daß, wie bisher, eine absolutistische Vorherrschaft des rein Materiellen immer weiter in eine chaotische Diktatur des Irrsinns hineinführt. Wie sich all jene Kräfte und Gegenkräfte auswirken werden, darüber möchte ich an dieser Stelle keine Erörterungen anschließen, die doch nicht mehr als Vermutungen sein könnten. Sicher aber stehen wir an einer der gewaltigsten Kulturwenden der Menschheit, an einer, deren Ausmaße keine historisch uns noch faßbare Parallele haben. Entscheidend wird sein, wohin sich die Menschheit wendet, zum Geistigen oder zum Materiellen. Es mögen viele Wege aus dem Chaos führen, die noch gesucht, gefunden und begangen werden – ausgehen aber müssen sie alle von einem Bekenntnis der Menschheit zum Geistigen. Wie sich dann solch ein Bekenntnis im Einzelnen auswirkt, ist jedem in eigene Wahl gestellt, und noch mehr als das, in sein eigenes Erleben.

Zu solchem Erleben wollte ich Sie heranführen und solchem eigenen Erleben möchte ich Sie nun überlassen mit den Worten aus dem wundervollen »Cherubinischen Wandersmann« des Angelus Silesius:

»Freund, es ist auch genug – und willst du
mehr noch lesen,
so geh und werde selbst das Wort und selbst
das Wesen.«


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