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Die längst beschlossene Abreise unserer Freunde wurde durch die zweite Beerdigung nicht verzögert, sondern beschleunigt, denn Jossif bedurfte nun noch mehr der Ruhe. Andrej, der auch Marinas Beerdigung beigewohnt hatte, besuchte jetzt Jossif jeden Tag, tröstete ihn und sprach mit ihm stundenlang.
Eines Abends, als in Jossifs Zimmer schon Sonja saß, die einen Brief von Marinas Onkel an die Äbtissin mitgebracht hatte, kam Andrej Iwanowitsch später als sonst und erklärte etwas feierlich und plötzlich:
»Meine Freunde, wir müssen noch warten und nicht ins Kloster, sondern an einen vielleicht noch heiligeren Ort fahren – nach Rom.«
»Nach Rom?« riefen Jossif und Sonja wie aus einem Munde.
»Ja, nach Rom. Ein Verwandter von mir, der dort erkrankt ist, will, daß ich zu ihm komme, und ich kann ihm diesen Wunsch unmöglich abschlagen; ebensowenig kann ich euch hier allein zurücklassen, und es fiele euch zu schwer, auf meine Rückkehr zu warten.«
»Ja, viel zu schwer«, bestätigte Jossif.
»Was denn, das kommt für uns ganz unerwartet«, begann Sonja; aber Jossif unterbrach sie:
»Nein, Sonja, wir müssen mit Andrej reisen. Es ist undenkbar, daß wir hier ohne ihn zurückbleiben.«
Andrej ging einmal durchs Zimmer und sagte:
»Ich glaube, ja, ich bin überzeugt, daß es kein bloßer Zufall ist, was uns nach Rom führt. Würde es Sie übrigens nicht interessieren, diese Stadt kennenzulernen: Sie waren noch nie im Ausland?« wandte er sich an Jossif.
»Nein.«
»In Rom war ich auch noch nicht«, gestand Sonja.
Andrej fügte hinzu:
»Je gewaltiger die Ortsveränderung, um so größer wird auch Ihre innere Erneuerung sein.«
»Vielleicht haben Sie recht.«
»Wie schade, daß Marina es nicht erlebt hat, daß sie nicht mit uns reisen kann«, flüsterte Jossif.
Andrej ging auf ihn zu und sagte laut und streng:
»Sie ist mit uns! Sie ist mit uns! Fühlen Sie es denn nicht?«
»Ich spüre den Duft von Weihrauch.«
»Ich rieche nach Weihrauch, Joseph: ich war eben in der Kirche. Aber Marina ist mit uns, kannst du denn anderes denken?«
»Sie ist mit uns!« wiederholte Fonwisin. Nach einer Weile begann er wieder:
»Haben Sie denn noch nie gehört, wie in der Kirche für die Verstorbenen gebetet wird, und hatten Sie dabei nicht den Eindruck, daß alle diese unbekannten Iwans, Pjotrs, Pawels und noch einmal Iwans in dichter Schar mit uns vor Gott treten? Haben Sie die Monatsikonen gesehen, wo die Engel, Propheten, Märtyrer, Apostel, Ehrwürdigen, Gerechten, heiligen Könige, Jungfrauen und Styliten in ihrer ganzen Herrlichkeit dastehen, und hatten Sie dabei nicht den Eindruck, daß sie uns wie ein strahlender Chor in der Kirche umgeben? Die Heiligen, wir und die Entschlafenen bilden eine einzige Kirche, die in allen lebendig und wirksam ist. Und wenn wir beten, übergeben die armen, lieben, uns verwandten Hände unser Gebet den heiligen Fürbittern, damit sie es vor den Thron bringen. Alle, ganz gleich, wer sie waren und wie sie lebten, auch Marina, auch Ihr Tantchen, haben dort untrüglich und freudvoll erfahren, was wir hier nur suchen und woran wir glauben. Sie sind mit uns, sie helfen uns und lieben uns.«
Als Fonwisin verstummte, schwiegen auch Sonja und Jossif, gleichsam lauschend, ob nicht leichte Schritte ertönten, ob die Tür nicht aufginge und eine Gestalt in weißem Kopftuch, mit einer Blume in der Hand, wie sie Marina am Morgen ihrer Kommunion gesehen hatten, einträte.
»Also nach Rom?« fragte Sonja ernst.
»Man schickt uns nach Rom«, bestätigte Andrej leise, aber bestimmt.
Er stand am Ofen, an der einzigen Stelle, die von den Strahlen der scheidenden Sonne noch erreicht wurde. Jossif erhob sich, ging auf den Offizier zu, ergriff seine Hand und fragte kaum hörbar:
»Andrej, haben Sie die Liebe?«
Jener antwortete, ohne die Augen von der nicht mehr blendenden Sonne zu wenden:
»Ich bin ein Mensch, ich lebe, ich habe den Glauben wie sollte ich nicht auch die Liebe haben?!«
»Sie sind aber an niemand durch fleischliche Bande gebunden, Sie sind unberührt?«
»Ich bin unberührt, aber durch unlösbare, irdische, sinnliche Bande gebunden.«
»An wen?« fragte Sonja noch leiser, von der anderen Seite auf den Offizier zugehend und seine freie Hand ergreifend.
»Ich liebe Sie und Joseph, am meisten aber Den, Welchen auch Sie mehr als alles Lebende lieben.«
»Von ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit allen Sinnen!« sagte Sonja.
»Von ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit allen Sinnen!« bestätigte Fonwisin.
»Amen!« schloß Jossif.
»Alle, die geliebt haben, und alle, die lieben, sind mit uns«, sagte Fonwisin und küßte beide auf den Mund.
So standen sie nebeneinander, bis das Abendrot erlosch.
Als man Viktor den Entschluß, nach Rom zu reisen, mitteilte, war er nicht erstaunt, weigerte sich aber entschieden mitzufahren.
»Auch ins Kloster wollte ich nicht fahren, um so weniger ins Ausland; glaubt nur nicht, daß ich nicht mitfahre, weil ich euch nicht liebe, nur weiß ich und sehe ich, daß es für mich noch zu früh ist, euren Weg zu gehen.«
»Bin ich denn viel älter als du, Viktor? Doch kaum um drei Jahre?« suchte ihn der Stiefvater zu überreden.
»Geht es denn um das Alter?« entgegnete jener und begann mit ihnen die Einzelheiten der bevorstehenden Reise zu besprechen.
»Sonja, wie heißt auf italienisch ›Rom‹?«
»Roma.«
»Roma? Das klingt schön; rund wie eine Kuppel.«
Und später, als Sonja und Viktor gegangen waren, trat Jossif ans Fenster und blickte auf die langen Reihen der Dächer und Häuser, die Kreuze der nahen und fernen Kirchen und den weiten Himmel hinaus. Er wiederholte: »Roma, Roma«, bis die Laute ihre Bedeutung verloren und etwas Riesengroßes seine Seele erfüllte, etwas wie der Himmel oder die Kuppel eines Domes, wo die Engel und Märtyrer als strahlender Chor standen, auch Päpste und Kirchengelehne, und die liebe Marina, das arme Tantchen, Sonja und Viktor waren da, auch Jossif selbst, und Andrej als Erzengel, der Schnee auf den Bergen, das Gras auf dem Grab und die Kreuze auf den fernen, wunderbaren und den nahen, von Kind auf vertrauten Kirchen.