Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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III

»Was ist das? Ach so, der Kontrakt; gut . . .«, sagte Jekaterina Petrowna zum Dienstmädchen, das eben ins Zimmer getreten war. Sie sah das Papier an und wandte sich an ihren Mann, der etwas abseits saß: »Ich ließ den Mietskontrakt auf meinen Namen schreiben; das ist ja ganz gleich, und du hast dann weniger Sorgen, außerdem bin ich in solchen Dingen vielleicht tüchtiger als du: man muß dabei sehr auf der Hut sein.«

»Gewiß, gewiß«, bestätigte jener.

Das Dienstmädchen sagte noch:

»In der Küche wartet auf den gnädigen Herrn irgendein Mann mit einem Brief.«

»Wer? Ein Dienstmann?«

»Ich weiß es nicht, er hat einen Brief und muß ihn persönlich abgeben.«

»Geh, schau nach, Joseph, es wird wohl irgendein Wohltätigkeitsbettel sein: ein Taubstummer oder etwas Ähnliches.«

»Nein, er hört alles und spricht gut«, bemerkte das Mädchen lachend.

In der Küche saß ein schlanker, blonder Bursche in Schaftstiefeln und Schirmmütze auf dem Schemel. Als Jossif eintrat, brach er einen Satz ab, über den die mit den Töpfen klappernde Köchin laut lachte, stand auf und zog die Mütze.

»Sie haben einen Brief für mich?« sagte Pardow, näher kommend.

Der Bursche fragte, ohne den Brief hervorzuholen:

»Sind Sie der Papa von Viktor Michailowitsch?«

»Was für ein Papa? Ich habe keine Kinder.«

»Ich weiß nicht, aber Viktor Michailowitsch hat mir gesagt, daß ich den Brief seinem Papa abgeben soll.«

»Was für ein Viktor Michailowitsch?« fragte Jossif erstaunt.

»Ihn hat der junge Herr hergeschickt, Jossif Grigorjewitsch«, bemerkte die Köchin.

»Ach so, der Viktor! Ja, ich bin sein Stiefvater.«

»Ob Vater oder Stiefvater ist uns ganz gleich«, sagte der Bote, lustig um sich blickend und ein zusammengeknülltes Papier hervorholend. Er reichte es Jossif und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu: »Heute abend bittet er Sie in die ›Donau‹ zu kommen: er muß Sie sprechen.«

»Ja«, antwortete der Hausherr, aus irgendeinem Grund gleichfalls die Stimme dämpfend, »und wo ist die ›Donau‹?«

»In der Jamskaja.«

»Ich werde kommen.«

»Kommen Sie, bitte. Und nicht zu spät: so gegen neun. Leben Sie wohl. – Wassili Kudrjawzew!« schloß er laut.

»Jossif Pardow!« sagte der Hausherr und reichte ihm die Hand.

»Sehr angenehm!« entgegnete Wassili, seine Locken schüttelnd.

Viktor, der schon seit vier Tagen verschwunden war, teilte in seinem Brief mit, daß er bei einem gewissen Broskin in der Nikolajewskaja-Straße wohne. Er bat Jossif, ihm seine notwendigsten Sachen, die er zu Hause zurückgelassen, hinüberzuschicken und wiederholte die von Kudrjawzew mündlich ausgerichtete Einladung für den heutigen Abend. Jossif hielt es nicht für angängig, den Inhalt des Briefes vor seiner Frau zu verheimlichen, die halblaut mit der eben angekommenen Sonja sprach. Er verschwieg nur seine Absicht, in die ›Donau‹ zu gehen.

»Will Viktor gar nicht heimkehren?« fragte Sonja.

»Darüber schreibt er nichts.«

Katja ging schweigend auf und ab; endlich blieb sie stehen und sagte:

»Du kannst dir denken, was du willst, Joseph, aber ich bin sehr froh, daß Viktor nicht mehr bei uns wohnt. Er fühlt sich freier, und wir haben unsere Ruhe; seine Lebensweise würde uns doch nur stören, verstehst du? Das sage ich für dich. Aber ich mache mir Sorgen, wie er sein Leben gestalten wird: daß er nur nicht gänzlich versumpft. Du mußt ihn unbedingt ab und zu besuchen, Joseph, und beobachten. Er liebt dich, und du brauchst dich auch nicht zu genieren, mit ihm an solchen Orten zusammenzukommen, wohin ich nicht gut gehen kann. Du kannst ihn vor Üblem bewahren, und an dir bleibt, wie ich überzeugt bin, nichts Schlechtes haften.«

»Gut.«

»Du tust es für mich: ich bin doch immerhin seine Mutter.«

»Ich will es auch für mich selbst tun.«

»Und für Viktor. Ich danke dir!« Sie küßte ihn, wobei sie die Augen niederschlug und seltsam errötete.

Sonja, die mit dem Abpflücken der dürren Blätter von den Blumenstöcken beschäftigt war, sagte, ohne sich umzuwenden:

»Sag ihm auch, daß ich ihn bitte, mich möglichst oft zu besuchen; ich weiß nicht, ob es gehen wird, daß ich ohne besonderen Anlaß zu ihm komme. Wenn es aber unbedingt notwendig ist, gehe ich natürlich überallhin.«

»Das hätte ich von ihr nicht erwartet«, sagte Jossif, als Katja hinausgegangen war.

»Was denn?«

»Daß sie mich selbst zu ihm schickt.«

»Mir ist diese ganze Geschichte überhaupt sehr unangenehm!« sagte Sonja, das Gesicht verziehend. »Auch Ljolja macht mir große Sorgen . . .«

»Was ist denn mit ihr los?«

»Sie ist krank und hat sich eingebildet, daß sie in Sergej Pawlowitsch verliebt sei . . .«

»Vielleicht ist sie tatsächlich in ihn verliebt?«

»Das glaube ich nicht, aber im Grunde genommen ist es ganz gleich.«

»Und er?«

»Es ist sehr schwer, fremde Gefühle zu beurteilen, wenn er sie aber, und wenn auch nur eine ganz kurze Zeit, lieben könnte – dann Gott mit ihnen, obwohl das für andere ein Unglück wäre.«

»Für wen?«

Sonja seufzte auf und pflückte weiter die gelblichen, trockenen Blätter von den Blumenstöcken.

»Eine schwere Zeit ist angebrochen, Sonja. Ich hatte mir das neue Leben in Petersburg ganz anders vorgestellt!«

»Werde nur nicht trübselig, Joseph, in jeder Lage muß man das tun, was notwendig ist. Ich werde dich nicht verlassen. Es ist wohl notwendig, daß wir das alles durchmachen.«

»Willst du schon fort?« fragte Jossif, als Sonja den Hut aufsetzte.

»Ich will zu Ljolja; wirst du heute Viktor sehen?«

»Vielleicht.«

»Vergiß nicht, ihm auszurichten, was ich dir gesagt habe.«

»Du bist so blaß, Sonja! Fehlt dir was?«

»Mir fehlt nichts. Es kommt dir nur so vor.«

Das Unwohlsein der Frau, die mit Migräne im Schlafzimmer lag, gab Jossif die Möglichkeit, sich ohne Schwierigkeiten in die weitab gelegene ›Donau‹ zu begeben. Als er die ausgetretenen, vereisten Stufen in die im ersten Stock gelegene Abteilung für bessere Gäste hinaufgegangen war, umfing ihn der Geruch von angebranntem Fett und billigen Zigaretten, das Röcheln eines Grammophons und ein Durcheinander vieler Stimmen. Erst nach einiger Zeit entdeckte er Viktor, der mit drei jungen Leuten, die wie Kommis aussahen und unter denen er ohne Mühe Kudrjawzew erkannte, am Fenster saß. Die beiden andern waren ausländisch gekleidet. Der eine von ihnen, ungewöhnlich hellhäutig, mit runzligem und zerknittertem Gesicht, war der Schnittwarenkommis Senka, der andere, ein großer, stämmiger Bursche mit rundem Gesicht und großen grauen, frechen Augen, war Alexander Broskin, bei dem Viktor jetzt wohnte. Sie begrüßten den neuen Gast, auf dessen Erscheinen sie offenbar vorbereitet waren, freudig und ungezwungen. Der Schnittwarenkommis schloß gerade seine Erzählung. »Also sage ich ihm: Was wollt ihr denn noch für Gesindel, wenn die ganze Iwanowskaja sowieso in unseren Händen ist?« Durch den Saal schlendernde Mädchen in Schals und Hüten küßten im Vorbeigehen den flachsblonden Kopf des Erzählenden und sagten: »Senka, Senitschka, Sahnekopf! Und dabei war er lange nicht im Bad, sonst wär er ganz wie Sahne!« Und sie lachten, wobei sie Jossif anblickten.

»Setz dich zu uns, Linde!« sagte Broskin zu einem hageren Jungen mit jüdischem Gesicht und roten Flecken auf den Wangenknochen.

»Sie gestatten?« wandte sich dieser an Jossif.

»Bitte sehr!«

»Du schleppst alle Kavaliere an deinen Tisch, Schurka!›Schurka‹, ›Schura‹, ›Sascha‹, ›Sanja‹ sind Koseformen von ›Alexander‹. Oder lockst du deine Kundschaft in den Gasthäusern an?« schrie ein hochgewachsenes Frauenzimmer im Kopftuch, mit breitem, stark geschminktem Gesicht, großem rotem Mund und grauen, schmachtenden, gleichsam trunkenen Augen. Linde, der sich als Buchdrucker vorstellte, unterhielt sich leise mit Jossif, ohne auf die Schreie der andern zu achten. Broskin hatte aber, ohne es zu zeigen, aufmerksam das Geschimpfe verfolgt. Plötzlich stand er auf, ging mit einem Zeitungshalter in der Hand auf den Nebentisch zu, schlug einen der Männer, die da saßen, auf den Rücken und sagte: »Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, bester Herr! Das Aas will ins Bett!« Alle sprangen auf, und im allgemeinen Lärm war nichts mehr zu unterscheiden. Der ganze Saal beteiligte sich, zumindest mit Geschrei, an dem Skandal; das Frauenzimmer hielt sich die Wange, die noch röter geworden war, und der dicke unrasierte Kellner flehte: »Herrschaften, bitte keinen Skandal, Alexander Alexejewitsch, Iraïda Dmitrijewna, das ist wirklich nicht schön!«

»Das wird dir nicht geschenkt werden, Schurka!«

»Ist schon gut. Wir sprechen später darüber; komm morgen früh: hast lange keine Prügel gekriegt!«

»Warum kränken Sie sie?« fragte Jossif, während ein Teil der Männer eine Schlägerei begann. Der Schnittwarenkommis, der jemand verprügelt hatte, stellte sich besinnungslos betrunken und wurde mit den Füßen nach vorn hinausgetragen, während man vergebens versuchte, ihm den eingedrückten steifen Hut in die Stirn zu drücken.

Jossif wußte nicht, wie spät es schon war, als sie auf die Straße traten. Er hatte seit langem nicht getrunken und war nicht mehr nüchtern, und nebelhaft wie im Traum entsann er sich, daß sie noch irgendwo gewesen waren, daß er geweint und Viktor ihn getröstet und umarmt hatte. Er ging mit Viktor Arm in Arm durch die nasse, dunkle und leere Straße; Wassili und Broskin folgten, laut singend, hinterher.

»Komm unbedingt morgen!« redete ihm Viktor etwas unsicher zu. »Hat sie nicht geschimpft? Hat sie dich gehen lassen? Hast du sie um Erlaubnis gefragt?«

»Sie hat mich selbst geschickt.«

»Es sieht so aus, als ob sie Hintergedanken dabei hätte; ich weiß aber ein Mittel, um ihr beizukommen! Ich habe dir vieles zu sagen, Joseph, du weißt gar nicht, wie ich dich liebe. Glaub nur nicht, daß ich ein verlorener Mensch bin. Und was ist schließlich ein verlorener Mensch? Sie aber werde ich schon bändigen!«

Die beiden hinter ihnen sangen nicht mehr, sondern sprachen davon, daß dem Wassili im vorigen Jahr zu Ostern vom Glockenturm der Wladimirkirche die Mütze vom Kopfe geflogen war; Wassili behauptete übrigens, daß dies nicht ihm, sondern Broskin passiert wäre.

»Sonja bittet dich, daß du zu ihr kommst.«

»Gut, ich werde kommen.«

»Wenn du wüßtest, Viktor, wie schwer ich es habe!«

»Macht nichts, Joseph, macht nichts: wir werden nicht verlassen sein.«

»Gebe es Gott.«

»Fräulein, gestatten Sie, daß ich Sie begleite! Lassen Sie doch Ihren Herrn Papa laufen; wozu diese bemerkenswerte Strenge?« Wassili machte sich an irgendein weibliches Wesen heran, das in Begleitung eines schlanken Greises aus einem Torweg trat. Sie war in einem Kaufmannspelz und im Kopftuch; als sie auf die Straße getreten waren, bekreuzigten sie sich dreimal und beschleunigten ihre Schritte, um der lustigen Gesellschaft zu entrinnen; die jungen Leute blieben aber nicht zurück. Der Alte wandte sich schließlich um und sagte leise: »Soll ich vielleicht einen Schutzmann rufen?« Die Frau hörte nicht auf die Scherze, zupfte ihren Begleiter am Ärmel und sagte: »Lassen Sie, Onkelchen, wir sind ja schon da.« Sie standen schon in einem andern Torweg, der gar nicht weit von ihrem Haus entfernt war; im Hof sah man Gerüste und eine Reihe hölzerner Häuschen, in deren Fenstern Lämpchen brannten. Jossif blieb stehen und sah ein von einem schwarzen Kopftuch eingefaßtes blasses Gesicht mit Augen, die nichts zu sehen schienen. Die Frau fuhr zusammen, blickte ihm ins Gesicht, flüsterte: »Bist du es, Pawel?«, und verschwand mit dem Alten im Torweg.

»Da gehen sie, die Langschößigen, ihre Psalmen näseln!« sagte Wassili.

»Viktor, mir scheint, es war Marina.«

»Was für eine Marina?«

»Parfens Tochter.«

»Es ist möglich: sie wohnt hier irgendwo in der Gegend«, entgegnete gleichgültig Viktor und brachte die Rede auf etwas anderes.

Jossif schwieg und hörte zerstreut seinem Stiefsohn zu. Es regnete nicht mehr; der Wind zerstreute die Regenwolken, und unter der schweren, im Frührot rosig schimmernden Wolkendecke glänzten matt die flachen Kuppeln der Wladimirkirche und des Glockenturmes, von dem am letzten Osterfest Senkas Mütze heruntergeflogen war.


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