Michail Kusmin
Der zärtliche Jossif
Michail Kusmin

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IV

Es wurde immer wärmer und wärmer, die Tage wurden länger, und in den hellen Abenden und den Trauergottesdiensten der Karwoche lag schon die Verheißung der Freude des nahen Osterfestes. Es war noch kühl, aber heiter, und Marina saß lange am Fenster, ohne Licht zu machen, auf die langen Reihen der Häuser, Dächer und Kreuze und auf den Himmel hinausblickend, der aus Rosa allmählich in ein zartes Grün überging, in dem als bebender Punkt der erste Stern strahlte. Sie war allein zu Hause, denn auch Jossif war zur Abendmesse gegangen, und als die Klingel ertönte, mußte sie selbst aufmachen; nirgendwo war Licht, nur die ewigen Lämpchen brannten in allen Zimmern, und sie erkannte Sonja nur an der Stimme und der buckligen Figur.

»Darf ich zu Ihnen? Sie sind allein, wie bin ich froh, ich muß mit Ihnen so vieles besprechen.«

»Bitte, ich freue mich sehr.«

Sie traten in den Salon, und Sonja fragte:

»Können wir zu Ihnen gehen, Marina?«

»Gewiß, kommen Sie.«

Sie setzten sich und Sonja begann:

»Ich habe eine Frage oder eigentlich eine Bitte an Sie, Marina: wenn Sie wiederhergestellt sind, so nehmen Sie doch mich und Jossif in eines Ihrer Klöster mit: er muß von hier fort, um zu Kräften zu kommen und auszuruhen. Sie sind ja in den Klöstern bekannt, und ich verspreche Ihnen, daß wir das klösterliche Leben durch nichts stören werden.«

Marina antwortete mit einem Lächeln:

»Davon ist natürlich nicht die Rede: schon nach einigen Tagen werden sich alle sehr über Sie freuen, warum wollen Sie aber nicht in ein rechtgläubiges Kloster?«

»Wir möchten gern mit Ihnen sein, und dann ist es ja doch nicht dasselbe.«

»Ja, vielleicht. Aber, liebe Sofja Karlowna, Sie mögen mir glauben oder nicht, vielleicht sündige ich auch, aber ich muß Ihnen sagen, daß es mir kaum beschieden sein wird, die Reise mit Ihnen zu machen.«

»Warum? Weil Sie noch zu schwach sind? Man kann ja auch noch warten, obwohl, je früher, je besser.«

»Nein, ich gehe ganz weg, ich sterbe bald. Aber ich will Ihnen einen Brief an die Äbtissin mitgeben, damit man Sie aufnimmt. Eine der Nonnen wird hier die ganze Osterwoche verbringen, und wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie mit ihr hinfahren.«

»Sehr gut, aber ich hoffe dennoch, daß Sie mit uns mitkommen.«

Marina sagte darauf nichts. Nach einer Weile begann sie leise:

»Sofja Karlowna, lieben Sie Jossif Grigorjewitsch? Verlassen Sie ihn nicht, damit mir das Herz nicht weh tut; wenn er sich an Andrej Iwanowitsch und an Sie hält, wird ihm Gott seinen Frieden schenken.«

»Ich liebe Joseph, das wissen Sie, Marina.«

Marina beugte sich zu ihr und fragte noch leiser:

»Würden Sie ihn, wenn Sie mit ihm nicht so nahe verwandt wären, heiraten?«

»Was fragen Sie danach? Ist es denn wichtig? Ich liebe ihn von ganzem Herzen.«

»Das ist nicht das Richtige. Ob man heiratet oder nicht heiratet, ist vielleicht nicht wichtig, vielleicht ist es auch besser, unverheiratet zu bleiben, wie Andrej Iwanowitsch, aber zur Heirat bereit zu sein. Man muß ohne Scheu lieben. Viele heilige Frauen waren ja in der Jugend Buhlerinnen, andere bewahrten ihre Jungfräulichkeit von Geburt an, Gott aber machte sie alle reich an der Liebe, die einen den Grashalm, das Morgenrot, den Menschen und den Schöpfer mit Leib und Seele lieben läßt. Jeder hat seinen Weg, wenn nur ein lebendiges Feuer im Menschen brennt. Dann hat man auch Freude. Jossif Grigorjewitsch ist so einer; er kannte nur seinen Weg nicht und tastete blind wie ein neugeborenes Kätzchen herum, aber er wird sehend, gelobt sei der Herr Jesus.«

Sonja flüsterte:

»Auch ich kannte den Weg nicht, ich glaubte, ich sei stark, war aber schwächer als der Schwächste. Ich habe absichtlich mit meinem Herzen gekargt, ich fürchtete mich und wußte nichts.«

Marina streichelte Sonja und sprach:

»Es wird alles kommen, der Herr sieht Sie.«

»Ich liebe Jossif so sehr, daß ich auch dazu bereit wäre, wovon Sie sprechen. Ich liebe auch Andrej, und Sie, und Viktor.«

Marina kniete vor Sonjas Sessel nieder, küßte sie und sagte:

»So ist es gut, der Frühling wird das Eis zerschmelzen, auch ich liebe Jossif Grigorjewitsch und Sie, Sonja, und ich weiß, daß ich Sie nicht verlasse, auch wenn ich sterbe, ebenso wie mich mein Pawluscha nicht verlassen hat.«

Sonja beugte sich über Marina, schmiegte sich mit ihrer kleinen Brust an ihren hageren und heißen Körper und sagte unter Tränen:

»Es ist geschmolzen, es ist geschmolzen, der Herr verzeihe mir! Ich aber glaubte, daß Sie mich nicht lieben und mich verurteilen.«

»Wofür denn, Sonjuschka?«

»Weil ich bei jener Gemeinde war, Sie wissen doch?«

»Was soll man daran zurückdenken? Nicht jeder kennt seinen Weg – wer kann seinen Nächsten richten? Das Leben ist aber ohne die Sakramente tot, und die Sakramente sollen von Priestern, die in der Kirche dazu geweiht sind, vollzogen werden.«

Sonja fragte:

»Kennen Sie unsere Priester?«

»Ich kenne sie, aber die göttliche Gnade wird dadurch nicht verringert. Wir lesen ja auch im ›Prolog‹, daß ein unwürdiger Priester gefesselt in einer finsteren Ecke lag, während ein feueräugiger Engel die Sakramente an seiner Statt vollzog, der Gemeinde aber schien es, daß ihr Priester, den sie als einen sündigen und schwachen Menschen kannten, sich erdreistete, ihnen den Leib und das Blut Christi zu reichen. Die Unwürdigkeit des Priesters ist eine Sache zwischen ihm und Gott, aber die Sakramente, die er vollzieht, sind unabänderlich und heilig!«

»Dann sind die Gebete dasselbe wie Beschwörungen, und Sakramente wie Zauberei, sie kommen nicht von der Heiligkeit und der Offenbarung?«

»Was ist größer, weiser und heiliger als Jesus? In den Gebeten liegt eine große anrufende Kraft, und wenn sie auch ein Zauber ist – was ist dabei? Sie ist heilig und geheimnisvoll: ein Sakrament. Man bedenke nur: Der Mensch wird durch die Taufe zum Leben geboren, durch die zweite Taufe – die Sühne – wiedergeboren, durch die Ehe für die Liebe bereitgemacht, durch die Kommunion für die Vereinigung mit Gott, das ist so groß und wahr und freudvoll! Wenn Sie Rat suchen, wenden Sie sich an gute und kluge Menschen, wenn Sie geistige Aufklärung wollen – an jemand, der in den Heiligen Schriften belesen ist, und wenn Sie das Lebensnotwendige, die Sakramente, brauchen – an einen dazu geweihten, den Segen besitzenden Priester. Die Verantwortung des Priesters vor Gott ist groß, aber für uns ist seine Kraft grenzenlos.«

Sonja weinte nicht mehr und schwieg, dann entgegnete sie:

»Sie haben aber wohl auch gelesen und wissen, daß die Gnade zuweilen auch den nicht Geweihten zuteil wird, so daß sie sehend werden und prophezeien können.«

»Das schon, aber sie können keine Sakramente vollziehen! Es ist gut, wenn solche Auserwählte auch noch die priesterliche Gewalt bekommen, dann ist ihre Heiligkeit unsagbar, aber durch das Prophetentum allein kann man sich nicht retten.«

»Und Sie glauben, daß es auch heute solche Auserwählte geben kann?«

»Die Gnade versiegt nicht. Es gibt sie auch heute, man muß nur einen scharfen Blick haben.«

»Unter den Priestern?«

»Wohl auch unter den Priestern, und unter den Laien ebenfalls. Der Geist weht, wo er will und wo er ein bereitetes Gefäß findet.«

Sonja schwieg wieder, dann küßte sie Marina, die müde geworden war und gleich ihr schwieg, und flüsterte:

»Danke, liebe Schwester, Mutter Marina.«

»Was sagst du da, Sonjuschka, der Herr sei mit dir!«

»Du hast mich lieben, leben und glauben gelehrt!«

»Hör auf; lieben hat dich dein Herz gelehrt, und leben – der Wille Gottes. Jossif Grigorjewitsch wird den Weg anfangs schwankend gehen, wie ein kleines Kind von Stuhl zu Stuhl trippelt, dann aber voller Freude zu seiner Mutter läuft und ruft: ›Ich kann gehen!‹, und die gute Mutter lacht, ohne ihm entgegenzukommen, damit seine lieben, flinken Beinchen kräftig werden, damit ihm die Angst vergeht.«

Marina verstummte und sagte nichts, als Sonja sie beim Namen rief. Sonja zündete eine Kerze an, die Kranke saß blaß, mit geschlossenen Augen da.

»Was ist mit dir? Soll ich dir Wasser geben?«

»Es ist nichts, ich bin sehr müde, und noch etwas . . .«

»Sprich nicht mehr. Es ermüdet und regt dich auf und kann dir schaden. Ich danke dir für alles.«

»Nein, es ist etwas anderes. Sag, leidet Jossif Grigorjewitsch keine Not?«

»Wie meinst du das?«

»Hat er eigenes Geld außer jener Erbschaft?«

»Ja, ein wenig, warum?«

»Dann sollte er die Erbschaft seiner Frau abtreten – er hätte seine Ruhe und würde sie nicht zur Sünde verführen.«

»Ja, ich will es ihm sagen, er hat etwas Geld, auch ich habe etwas: für uns drei und Viktor wird es reichen.«

»Das wäre sehr gut, denn von diesen Dingen kommt besonders jetzt eine große Unruhe, er braucht aber Frieden.«

»Gut, ich will es ihm sagen. Warum kam es uns nicht selbst in den Sinn?«

»Sprich mit ihm, Täubchen. Da kommen schon die Unsern, ich will mich hinlegen.«

Aus dem Nebenzimmer erklangen wirklich Stimmen, und ein Lichtschein drang herein. Sonja ging durch die andere Tür und den Korridor hinaus. Sie war ganz zerschlagen, aber glücklich, und spürte ihre Müdigkeit gar nicht.

Jekaterina Petrowna war nach einigen Tagen nicht wenig erstaunt, als man ihr Jossifs Visitenkarte überreichte; sie saß gerade über den Papieren und Briefschaften der Gemeinde, in der sie jetzt eine führende Rolle spielte und sogar Tante Nelli etwas verdrängt hatte. Sie blickte den Eintretenden etwas unruhig an und sagte: »Nehmen Sie Platz.«

Jossif begann stotternd:

»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen: die Erbschaft, die ich dieser Tage bekommen soll . . .«

»Ja?« sagte Frau Pardowa gespannt.

»Ich habe die Absicht, dieses Geld auf Ihren Namen einzutragen, oder, wenn Sie es vorziehen und wenn es weniger Formalitäten erheischt, auf die Erbschaft zu Ihren Gunsten zu verzichten.«

Der Vorschlag kam Jekaterina Petrowna sehr unerwartet, und sie schien eine Falle zu wittern. Sie hörte unruhig zu, was ihr Mann sagte; stammelnd, aber mit der gewohnten Naivität entwickelte er seinen Plan. Als er endlich fertig war, ging Katja auf ihn zu und fragte:

»Sie wollen sich von mir scheiden lassen?«

Jossif blickte sie erstaunt an.

»Nein, daran habe ich nicht gedacht, aber wie Sie wollen; ich werde mich kaum zum zweitenmal verheiraten.«

»Sie sind ein edler Mensch, Jossif Grigorjewitsch, und ich bin tief in Ihrer Schuld. Ich weiß und sehe, daß ich Ihrer unwürdig bin, aber was soll man machen, wer hat in seinem Leben nie geirrt? Auch ich möchte Ihnen etwas vorschlagen und Sie um etwas bitten: ich weiß, daß Sie das Geld selbst brauchen.«

»Nein, nein, genieren Sie sich nicht«, versuchte sie Jossif zu unterbrechen.

»Nein, ich weiß es; behalten Sie also von der Erbschaft einen gewissen Teil, der Ihre finanzielle Lage etwas erleichtern könnte. Außerdem möchte ich, daß dies alles unter uns bleibt.«

»Gut, mir ist es ganz gleich.«

»Ich wußte, daß Sie darauf eingehen würden und daß Sie nicht deshalb großmütig handeln, damit alle von Ihrer Großmut sprechen. Ich danke Ihnen. Ich hörte, Sie verreisen bald?«

»Es ist noch sehr unbestimmt . . .«

»Gebe Gott, daß sich Ihr Leben so gestaltet, wie Sie es wollen und wie Sie es verdienen. Reist auch Fonwisin mit Ihnen?«

»Ja, auch Sonja, wahrscheinlich auch Marina.«

»Ach, auch sie?«

»Was wundert Sie daran?«

»Nein, nichts.«

Jekaterina Petrowna sollte nicht so bald aus dem Staunen herauskommen, denn bald nach Jossifs Besuch erschien unerwartet Ljolja bei ihr, die sehr krank und elend aussah und weder von ihrem Aufenthalt im Ausland noch von den Gründen ihres Zerwürfnisses mit Bessakatny vernünftig zu erzählen wußte. Sie sprach zusammenhanglos und unterbrach ihre Rede mit Tränen und Aufschreien.

Als Ljolja fort war, versank Jekaterina Petrowna in tiefes Nachdenken, und als später Nelli und Pjotr Pawlowitsch erschienen, ließ Frau Pardowa die Bemerkung fallen:

»Wir sollten unsere Aufmerksamkeit Ljolja zuwenden.«

»Warum?«

»Sie kann leicht ein nützliches und tatkräftiges Mitglied unserer Gemeinde werden.«

»Glauben Sie?«

Jekaterina Petrowna nickte mit Kennermiene.

»Ich vertraue Ihrem Scharfblick, meine Liebe«, sagte Nelli.

Beim Abschied versetzte Katja wie nebenbei:

»Ja, ich werde die Klage gegen meinen Mann zurückziehen – soll er leben, wie er will, und fremdes Geld brauche ich nicht.«

»Sie sind gar zu großmütig«, bemerkte Nelli trocken.

Pjotr Pawlowitsch wollte fragen:

»Wie ist es dann mit Ihren guten Vorsätzen?«

Frau Pardowa unterbrach ihn aber:

»Der Mensch denkt, und Gott lenkt.«

Nach einer Pause fügte sie hinzu:

»Zu Ostern spende ich den Armen unserer Gemeinde tausend Rubel, ich werde das Geld durch Sergej Pawlowitsch schicken, er ist ja jetzt unser Sekretär.«

»Gewiß, gewiß, Ihr Sekretär«, entgegnete Pjotr Pawlowitsch.

Nelli kam erst auf der Straße zur Besinnung und fragte laut:

»Was sagt man dazu?«

»Ja, allerdings«, erwiderte jener gedehnt.


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