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Modern! – Wenn ich meiner Zeit auch nur um ein einziges Jahr vorauslebe, so habe ich das Recht, was heute in Paris oder Berlin modern ist, schon abgetan und veraltet zu nennen.
Die Mode liebt zwar das Unechte, aber sie wechselt damit.
Wenn einer sich die Mühe nähme, alle die verschollenen Werke einer Literaturperiode, die zu ihrer Zeit hoch geschätzt waren, nacheinander durchzulesen, müßte es ihm nicht den Eindruck machen, als träte er in eine Morgue, wo ihm Leiche an Leiche fahl und entstellt entgegenstarrte? Und doch, einst hat man diese Toten nur wenig unterschieden von den Unsterblichen, die ihre Zeitgenossen waren. Ebenso wird es der Nachwelt mit vielen der hochbewunderten Produkte unserer Tage ergehen. Aber welchen Anstoß erregt der Unglückliche, der 246 von Natur gezwungen ist, schon heute mit den Augen der Nachwelt zu sehen!
Literarische Courtoisie. Wenn man vom Auslande kommt, fällt einem in der deutschen Literatur und Kritik vielfach ein unchevaleresker Ton, ein Mangel an guter Sitte auf. Ein ritterlicher Duellant salutiert den Gegner, wenn er auf die Mensur tritt. So halten es alle alten Kulturvölker. Wäre es nicht an der Zeit, daß unsere Landsleute bei den Nachbarn ein wenig Unterricht in der literarischen Courtoisie nähmen?
Waschet eure Herzen und Hände und werdet rein. Keiner betrete das Heiligtum der Kunst, der nicht ein Festkleid anhat. Haltet die Ellbogen an den Leib, macht kein Geschrei, wir sind nicht auf dem Markte. Den Neid laßt draußen. Der Ruhm, um den sie sich katzbalgen, ist die klingende Schellenkappe eines Narren. Wer eine Gabe zu bringen hat, der trete vor, ohne Lärm, ohne Rippenstöße gegen den Nachbar. Die ihr 247 vor ihm da waret, macht ihm freundlich Platz, ihr verliert nichts durch ihn, ihr könnt nur gewinnen. Denn im Hause der Kunst sind viele Wohnungen.
Ruhm. Noch nie ist der Ruhm so wohlfeil gewesen, wie in unserer Zeit. Bald wird unberühmt zu sein für eine Auszeichnung gelten. Wir kommen am Ende noch in eine ähnliche Lage, wie die Mondbewohner in jener Operette, wo alle Menschen mit Dekorationen geboren werden und wo man den Verdienstvollen zum Lohn für jede Leistung einen Orden abreißt, bis sie völlig ohne Band und Stern zur allgemeinen Bewunderung dastehen.
Dekadenz. Wie kann ein so kerngesundes, noch formloses und halb barbarisches Volk, wie die Deutschen, sich weiß machen lassen, es sei auch in der Dekadenz, wie seine viel kulturreiferen Nachbarn! Das erinnert ja an den Backfisch, der Essig trinkt, um interessanter auszusehen, oder seine 248 roten Wangen unter einer weißen Schminke versteckt.
Der Konjunktiv. Wenn ich einen neuen Roman oder eine Zeitschrift zur Hand nehme, so kann ich kaum eine Seite lesen, ohne auf Sätze zu stoßen wie diese: »Ihm schien, daß er auf hohem Berge stand« – »Da wars, als ob eine Stimme zu ihr sprach«, oder: »Er machte eine Bewegung, als verdroß ihn ihr Vertrauen«. Ahnt der Verfasser je, was ein kultiviertes Ohr bei solchen Sätzen leidet? Es ist ja nicht nur das ästhetische Gefühl, das sich empört – o nein, die Beleidigung geht tiefer. Man sieht der Muttersprache Wunden schlagen, die vielleicht in kurzem unheilbar sein werden, und muß wehrlos zusehen. Wenn es noch aus Unwissenheit geschähe! Aber man fühlt in den meisten Fällen eine Absicht durch, man merkt, daß der Schriftsteller, der, wie mir auffiel, fast immer vom Norden stammt, sich gewissermaßen vor dem Konjunktiv geniert, gleichsam als ob er ihn zu reserviert, zu 249 aristokratisch fände, denn man geht ja gerne so recht gemütlich in Hemdärmeln. Oder erscheint ihm der vornehme alte Herr vielleicht nicht laut, nicht »schneidig« genug, hält er ihn wohl gar für einen armen Schulmeister, daß er meint, ihn mit dem Ellbogen vom Trottoir stoßen zu dürfen? So viele Opfer an grammatischen Formen, auf denen doch die Kraft und die schmeidige Sicherheit einer Sprache ruhen, hat uns die Demokratisierung der Literatur schon gekostet. Und nun soll gar der Konjunktiv fallen? Will man denn das Deutsche zur Negersprache machen? Der geistig gesunde Mensch unterscheidet doch zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, zwischen dem tatsächlichen und dem eingebildeten Vorgang. Soll dieser Unterschied aus der Sprache verschwinden? Fühlt man denn nicht, welche Verarmung und Verrohung es ist, wenn man immer mehr Begriffe durch dieselbe Form ausdrückt und immer mehr Nüancen verwischt? Und daß dabei am Ende auch der Geist seine Unterscheidungsfähigkeit verliert und zusammen mit der 250 Sprache abstumpft? Warum dachten die Griechen so fein und scharf, als weil sie eine so fein und scharf unterscheidende Sprache hatten! Und warum hatten sie diese Sprache? Weil sie so fein und scharf unterschieden. Ihre Denkkraft und ihre Sprache förderten sich wechselseitig, schon das geringste sprachliche Versehen zog den öffentlichen Hohn nach sich. Diese Sprache war ihr heiligstes Palladium; an welcher Küste ihre Auswanderer landeten, da konnten sie mit ihr ein neues Griechenland bauen, das dem Ansturm der Barbarei gewachsen war. Ja, bauen, denn die Sprache, dieser wunderbare und doch so gesetzmäßige Bau mit den geheimnisvollen, unzugänglichen Substruktionen ist zugleich selber die große Baumeisterin, die jedes menschliche Gemeinwesen gründet.
Man klagt so viel über die Verrohung der Massen, und eine politische Partei schiebt die Verantwortung dafür der anderen zu. Was soll man aber zu denen sagen, die das Werkzeug des Denkens selber abstumpfen und so die Verrohung durch alle 251 Schichten der Gesellschaft tragen? Wer eine notwendige, grammatische Form aus seiner Muttersprache zu entfernen strebt, der begeht ein Attentat auf die Seele seiner Nation. Auch bei uns sollte sich die wahre Vaterlandsliebe im Kult der deutschen Sprache zeigen. Mit wem sie rein und unverstümmelt durchs Leben geht, der hat nicht nötig, mit den Sohlen am Boden der Heimat zu kleben, er kann, wie jene Griechen, sich an jeder Küste niederlassen; wo er steht, da steht er auf deutschem Grund.
Allen, die sich als Deutsche fühlen, möchte ich zurufen: Habet Acht! Die Barbarei klopft an die Tore. Tretet zusammen und rettet den Konjunktiv. Noch steht er in vollem Lebenssaft. In den süddeutschen Gauen geht er bis heute leibhaft im Volksmunde um. Aber es muß bewußt für ihn eingetreten werden. Sonst wird der Geist der Nachäffung alles dessen, was vom Norden kommt, sehr bald die süddeutschen Schriftsteller ergreifen, und auch sie werden den Konjunktiv preisgeben, mit jenem unbedachten Eifer, der sie schon so manches 252 Mal das Bessere preisgeben ließ. Und dann können wir künftig singen:
Mir ist es, als ob ich die Hände
Aufs Haupt dir legen – muß,
Betend, daß Gott dich erleuchte,
Du deutscher Genius!
Chinesisches. Die Chinesen, die die vollendeten Papiermenschen sind, verachten uns, daß unsere Schriftsteller noch am Laute hängen. Die ihrigen drücken eine Nüance des Gedankens durch eine Modifikation der Schriftzeichen aus. Daß wir von wohlklingenden Worten oder gar Sätzen sprechen, erregt ihr Kopfschütteln. Wort und Satz werden bei ihnen nur durch das Auge schön. Ein Druck oder Schwung des Pinsels vermehrt Kraft oder Schwung des Gedankens, eine Schattierung der Linie gibt dem Worte Feinheit, Schalkheit, und was weiß ich! – es wird versöhnlich oder schroff, je nach den runden oder eckigen Formen, mit denen es gemalt ist, der Strich, der es umzieht, ist seine Straffheit und 253 Sicherheit. Augenscheinlich ist bei den Chinesen das Sprachgefühl erstorben, – an seiner Stelle hat sich ein eigenes, feines Organ für die Schriftzeichen entwickelt; auf einer Art von Buchstabensymbolismus beruht ihre literarische Kunst. Durch eine Schwingung des Buchstabens versetzt der chinesische Dichter das Herz des Liebenden in Mitschwingung, und wenn ein neuer Schnörkel auf dem Papier gefunden ist, so läuft ein Schauer des Entzückens durch das Reich der Mitte.
Sind wir vielleicht auf dem Wege zu einem ähnlichen Chinesenzopf? Mit was für sonderbaren Mitteln suchen viele unserer Lyriker heute zu wirken! Nicht durch sprachliche Gestaltung, noch durch die Magie des Rhythmus und der geheimnisvollen Cäsuren, die, wie Heine sagt, das leise Atemholen der Muse sind, sondern durch größtmöglichen, unter keiner rhythmischen Bedingung stehenden Wechsel in der Absetzung der Zeilen, durch Weglassung der Interpunktion, was, indem es dem Leser Mühe macht, als Tiefsinn erscheint, durch 254 Gedankenstriche an Stelle der Gedanken und ähnliche seltsame Versuche soll der Eindruck besonderer Kühnheiten, Zartheiten, Feinheiten u. s. w. erreicht werden. Der größte Trumpf sind die Minuskeln am Anfang der Verszeilen, die zwar niemand was zu Leide tun, aber auch ganz gewiß keinen Hund vom Ofen locken. Was sagt das alles nun dem Ohr – und durchs Ohr der Seele? Es ist ja nur auf dem Papier vorhanden; sollte man nicht meinen, daß es eine Poesie für Taubstumme sei! Wenn sie lieber gleich eine neue Bilderschrift einführten, damit wenigstens das Auge ein wirkliches Vergnügen hätte, statt daß nur ein unbestimmtes Verlangen nach, ich weiß nicht was, erregt wird. Und dieses geschnörkelte, papierne Chinesentum sollte uns den magischen Wohlklang der Poesie ersetzen können? Nein, keine Sorge, daß der Deutsche, wie der Chinese, in einer Dekadenzperiode erstarre. Er braucht nur als großes Kind, das er ist, jedes Jahr ein neues Spielzeug.
All diesen Moden gegenüber gibt es nur 255 ein Mittel: sie behandeln, als ob sie schon vorüber wären. Dann hat man sie mit ihrer eigenen Waffe geschlagen, denn übers Jahr gibt einem die Mode selber Recht.
Es ist immer eine gute Taktik gewesen, vom Feinde, der noch steht, mit lauter Stimme zu sagen, daß er schon geschlagen und in voller Flucht sei.
»Wer flieht? so fragen alle, schon wankt es hier und dort.«
Der Prophet. Es lebte einmal ein großer und guter Mann, dem stieg die Not der Zeit rings wie Wasser an den Hals. Da glaubte er, daß Eisen die Not heile, er preßte sein Herz zusammen und rief, Gewissen und Mitleid seien Sklaventugenden, und das Recht des Stärkeren müsse wieder gelten auf Erden. Der Mann war ein Dichter und träumte von einem königlichen Menschengeschlecht, das er den Siegesweg über die Trümmer morsch gewordener Ideale führen wollte.
256 Werdet hart, o meine Brüder, rief er, aber von dem schrillen Mißklang dieses Wortes zerriß seine eigene, zart geschaffene Seele, und sein Haupt verfiel der Nacht, der er es geweiht hatte. Das war sein Lösegeld an das Gewissen.
Es war aber nicht das Schlimmste, was ihm geschah. Denn es ging dem Propheten, wie es den Propheten zu gehen pflegt: Als er seinen Triumph mit dem höchsten Preis bezahlt hatte, da verkehrte sich das Rettungswerk in sein völliges Gegenteil. Seine Bücher fielen in die Hände des Pöbels im Geiste, und der Pöbel im Geist glaubte, mit dem Bruder, der hart sein solle, sei er gemeint. Und der Pöbel ward hart, er tat von sich das Gewissen und das Mitleid und alle Sklaventugenden, nur die Sklavenlaster, die behielt er bei. Da wurden unsere stillen Gärten niedergetrampelt und die Axt an tausendjährige, heilige Eichen gelegt. Die Nacht aber schützte mitleidig das Haupt des unglücklichen aristokratischen Träumers, daß er seine Gefolgschaft nicht mehr zu sehen brauchte.
257 Macht des Erfolgs, was machst du aus der siegenden Idee. Die Religion der Liebe brachte Folterkammer und Scheiterhaufen, und an das blumenbesteckte Gastmahl des letzten Dionysosjüngers setzen sich mit aufgekrempelten Ärmeln die Heloten, spuckend und zähnestochernd.
So wäre das ganze Werk dieses großen Lebens nutzlos? Keineswegs. Wer die gebundenen Geister vom Druck des geistigen Herkommens befreit, erweist ihnen eine Wohltat, die auf die Länge jeden Schaden aufwiegt. Nicht umsonst ist ihr Dank so groß. Er hat Bewegung in die stockenden Lüfte gebracht. Er hat gezeigt, wie man alles Gedachte wieder umdenken kann, und hat damit das Denken in Fluß gesetzt. Das ist der Wert seiner Lehre, wie jeder neuen Lehre. Und wenn sie sich selbst widerspricht, nur um so besser. Man darf vom Denker keinen unumstößlichen Gedankenbau erwarten. Alles Philosophieren ist ein Geduldspiel, bei dem man mit denselben 258 Würfeln die verschiedensten Bilder zusammensetzen kann. Der Zweck der Arbeit ist das Werkzeug, womit sie verrichtet wird: daß es blank und biegsam erhalten werde, daß der Geist sich ja nicht fixiere, sondern zu immer neuem Umdenken des Gedachten fähig bleibe. Auch Paradoxen sind eine Wohltat für den reifen Geist; sie heben für einen Augenblick die Notwendigkeit, der wir uns beugen, auf. Sie sind erquickend, wie jene Träume, in denen man etwas völlig Neues, nie Gesehenes, sieht, das jeder Erfahrung Hohn spricht, zum Beispiel eine Landschaft, wo ein breiter Strom auf Bergesgipfel fließt, oder ein Meer, das höher liegt, als die Küste und auf Treppen erstiegen werden muß. Ein Übel sind sie nur für die Unmündigen, die sie für ewige Lebensregeln halten.
Der böse Geist der Menschheit hat es gewollt, daß der Genius im Leben allein sei. Zwar leben immer gleichzeitig auch seine Verwandten auf Erden, aber sie sind weit 259 verstreut, und selbst wenn er ihnen begegnet, so fehlt häufig das Erkennungswort. Erst wenn der Geist des Körpers ledig geworden ist, eilt er auf Windesflügeln durch die Welt und reißt aus allen Enden die Geister der Lebenden an sich – die ihm gehören und die ihm nicht gehören. Aber nun ist er nicht mehr der liebevolle, der gütige Befreier, der er im Leben gewesen, er ist ein harter, freudeloser Überwinder geworden, der seine Gedanken der Menge aufzwingt, ohne die Süßigkeit des Sieges zu kosten, und der die wohltätige Rückwirkung der anderen auf sich selbst nicht mehr erfahren kann. Mit diesem Dämon rechnet dann die Nachwelt ab, ohne mehr des Liebenden, Gütigen zu gedenken, von dem jener sich losgewunden hat.
»Er war euch ein brennendes und ein scheinendes Licht, und ihr wolltet eine Weile fröhlich sein in seinem Lichte«. Aber nun wird es Zeit, daß der Größere komme.
260 Der neue Baccalaureus. Gott grüße dich, unsterblicher Baccalaureus, da bist du wieder, und »verwegen wie nicht einer«! So vollkommen hat dich selbst dein Meister Goethe nicht gekannt. Welche Freude hätte er an dir, wenn er dich heute sehen könnte. Seine Zeit brachte dich ja noch gar nicht in so monumentaler Größe hervor. Erst mußten Nietzsche und Stirner geschrieben haben und mißverstanden sein, ehe man sich so »grenzenlos erdreusten« konnte.
Wie geht es zu, daß kein Land, außer dem deutschen, den Typus des Baccalaureus erzeugt? Ich glaube, weil der Deutsche von Natur zurückhaltend ist; fängt er einmal an, sich vorzudrängen, so verliert er alles Maß, er beherrscht nicht die Anmaßung, sondern die Anmaßung beherrscht ihn und führt ihn, wohin sie will. Ferner, weil wir keine Gesellschaft haben, die die Unbequemen in ihre Grenzen verweist.
Daß die Jugend sich gerne etwas laut macht, ist ihr Recht, das man ihr nicht mißgönnen soll. Bei den lateinischen Stämmen 261 hält die Grazie, bei der angelsächsischen die Erziehung diese Vordringlichkeit in den Schranken des Anstands. Nur bei den Deutschen artet sie so fürchterlich aus. Da will jeder den anderen an Originalität überbieten. Jeder will der »Eigene«, der »Einzige mit seinem Eigentum« sein, und so entsteht das wunderliche Zerrbild, das in unserer neuen Literatur und in der Gesellschaft spukt – der wiedergeborene Baccalaureus. – Original, fahr hin in deiner Pracht! Nur statt »Original« sagt man heute: Individuum.
Die Baccalaurea. Das Schönste aber ist, daß der neue Baccalaureus, dank den Auswüchsen der Frauenbewegung, auch sein Weibchen gefunden hat, die Baccalaurea, denn es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Sie braucht durchaus nicht doktoriert zu haben, im Gegenteil, die höhere Töchterschule bringt den Typus noch reiner hervor. Da ich im Ausland lebe, kannte ich die Existenz der Baccalaurea bisher fast nur aus Zeitschriften. Vor kurzem aber hat 262 sie sich mir schriftlich im eigensten Entzücken vorgestellt.
Kühn war ihre Handschrift, unermeßlich ihr Selbstvertrauen. Was sie mir geschrieben hat, werde ich nicht verraten; aber ich zweifle nicht, daß von ihrem Wink der Wandel der Gestirne abhängt, und ich sage ihr für ihren wohlwollenden Gruß auf diesem Wege meinen Dank.
Gott grüße auch dich, Baccalaurea! Ich habe mich gefreut, deine Bekanntschaft zu machen. Denn ich sehe wirklich nicht ein, weshalb die Abgeschmacktheit für alle Zeit ein männliches Privilegium bleiben soll.
Das Individuum. »Platz da, ich bin ein Individuum! Meinesgleichen gab es noch nie«, ruft es heute aus allen Ecken und Enden, und in Gruppen zu einem Dutzend und mehr, einer dem andern zum Verwechseln ähnlich, treten die Individuen auf den Plan und garantieren sich gegenseitig die Echtheit ihrer Individualität.
Sonst dachte man, die starken Persönlichkeiten entständen durch die starken 263 Gegensätze. Die Griechen, die die eigentlichen Schöpfer der Persönlichkeit waren, schufen sich auf jedem Gebiete die strengsten Formen, um ihre feurigsten Kräfte da hinein zu gießen. Sie schlossen alle Willkür aus und machten die Gesetzmäßigkeit, aus der ihr Schaffen sich entwickelte, zum Prüfstein des Individuums, das stark sein mußte, um daneben dennoch seine volle Freiheit und sein eigenes Gepräge zu bewahren. Aus dem Zusammenwirken des organisch Notwendigen mit der persönlichen Freiheit entsprangen ihre Individualitäten, die so gewaltig waren, daß jede in sich die ganze Menschheit darstellt.
»Nous avous changé tout cela.« Unser modernes »Individuum« steht unter anderen Lebensbedingungen. Wie wild es sich mitunter auch gebärde, es ist ein zartes Pflänzchen, das vor jeder rauhen Luft behütet werden muß. Es hat allen Vorschub, alle Schonung von außen nötig, denn jedes Hindernis behindert seine Individualität. Es muß sich, wenn es dichtet, den rhythmischen, wenn es denkt, den logischen, wenn es redet, 264 den grammatikalischen Gesetzen entziehen dürfen, weil sie alle seiner Individualität schaden. Und die Allgemeinheit gesteht ihm diese Ausnahmsrechte zu, sie sieht ein, daß das Individuum sonst nicht gedeihen könnte, und eine moderne Nation, die etwas auf sich hält, bedarf des Individuums, um ihr Selbstgefühl daran stärken und der Welt verkünden zu können: Habemus Pontificem! Wir haben es, wir haben das Individuum!
Sobald ein Mitglied einer Familie in sich den Hang zur Individualität entdeckt, wird es durch besondere Rücksichten vor allen anderen ausgezeichnet. Hat zum Beispiel die junge Frau eines Morgens erklärt: »Ich will ein Individuum sein, gebt mir Raum, daß ich ein Individuum werde«, so kämmt sie zunächst ihre Haare in breitem Bausch über die Ohren und streckt sich mit geringelter Schleppe auf das Kanapee. Der Gatte trägt ihr die neuesten Romane zu als Futter, an dem ihre Individualität sich stärkt. Die Kinder haben keine Ansprüche mehr an sie zu erheben; die Mutter nimmt ihr diese und andere lästige Pflichten ab, die Brüder und 265 Schwäger verkündigen es mit Triumph: »Unsere Schwester, beziehungsweise Schwägerin, wird ein Individuum«. Alle heben und hegen das Wachstum ihrer Individualität, wie ein Bienenstaat das der königlichen Puppe, denn es ist eine Ehre für die ganze Familie, ein Individuum in ihrer Mitte zu haben. Wenn sie endlich selber Eingebungen empfängt und beginnt, sie aufzuzeichnen, so stehen Mutter und Gatte abwechselnd vor ihrer Tür Wache, um jede Störung fernzuhalten, damit ihre Offenbarungen der Welt nicht verloren gehen.
Man glaube aber ja nicht, daß das Individuum nun ein leichtes Leben habe. Keine Frohn ist saurer als die seinige. Es darf in nichts mehr seiner Natur und Gewohnheit folgen. Es muß Schreibunterricht nehmen, wie ein Abcschütz, um seine alte Handschrift ab- und eine neue, »individuelle« anzulegen. Es darf sich nicht mehr kleiden, darf nicht mehr stehen und gehen, wie bisher. Es muß das Grüne blau sehen, und zum Kamel muß es Zebra sagen. Es darf nicht einmal richtig deutsch sprechen oder schreiben, weil schon 266 darunter seine Individualität Not litte. Es muß sich das Hirn zerbrechen, um alle die fühllosen, widernatürlichen Wortbildungen auszuhecken, wodurch ein Individuum das andere zu übertrumpfen hat.
Das arme Individuum! Wie es sich plagen, was es sich versagen muß! Der ärmste Teufel, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot ißt, darf doch am Abend ausruhen. Das Individuum niemals. Tag und Nacht muß es auf dem Platze sein und fort und fort rufen: »Seht mich an, mich, das Individuum!« Denn wenn es aufhören würde zu rufen, oder wenn es sich von der Stelle, wo es Parade steht, entfernte, so wüßte ja gleich kein Mensch mehr, daß es ein Individuum ist.
Hat nun das Individuum von seinem Rackerleben einen Vorteil? O ja, einen großen – ganz abgesehen von der Anerkennung, die die Gesellschaft ihm für seine Bemühungen entgegenbringt. Sobald nämlich das Individuum in irgend einer Kunst produktiv wird – und das wird es unter allen Umständen – so kann es eines großen 267 Erfolges gewiß sein. Wenn es vielleicht auch kein Talent hat, so hat es doch ganz gewiß nunmehr eine »Eigenart«. O, die Eigenart, sie ist eine herrliche Sache, so schön wie das Wort, das sie sich eigens erfunden hat! Mit ihr kann man an jede Unternehmung herangehen. Man malt ein Bild, ohne zu wissen, was Farbe ist, man macht Verse, die keinen Sinn und keinen Rhythmus haben, man schreibt Bücher, ohne einen einzigen Gedanken darin. Ist das Produkt fertig, so wird es mit der Marke »eigenartig« gezeichnet, und nun tritt es unmittelbar neben die großen Meisterwerke. Sein Recht dazu läßt sich auf der Rechentafel nachweisen: Nämlich:
Das Meisterwerk trägt den Stempel des Individuellen.
Folglich war sein Schöpfer ein Individuum.
Der des Produkts ist es gleichfalls.
Individuum ist gleich Individuum.
Die gleiche Ursache hat die gleiche Wirkung.
Folglich ist das Produkt gleich dem Meisterwerk.
268 Heil sei der Eigenart und ihrem Besitzer, dem Individuum!
Aber Geduld! Noch um ein weniges, so geht es auch mit dem Individuum zur Neige. Schon ist der Übermensch vorangegangen, er hat sich aufgeblasen, bis er platzte. Das Individuum wird ihm nachfolgen, es wird an Entkräftung sterben. Dann wird man lange Zeit das arme, zu Tode gehetzte Wort nicht mehr brauchen können, bis unsere Übergangszeit mit ihren Schrullen vergessen ist.
Die Erziehung des Weibes.
(Aus den Papieren eines Schulmanns.)
Ich bin ein Deutscher und somit konservativ. Wenn ich höre, daß etwas anders wird, als ich es seit Kindesbeinen gewohnt bin, so ist mir das an sich zuwider. Da ich aber als ein gebildeter Mann nebenbei einem gemäßigten Fortschritt huldige, so widme ich mich in den Stunden, die mein Beruf mir freiläßt, der Lösung von Kulturproblemen, und zur Zeit arbeite ich 269 an einem maßgebenden Werk über die sogenannten »Frauenrechte«. Ich habe soeben die Aufschrift meines zwölften Kapitels geschrieben: Die Erziehung des Weibes geschieht durch den Mann. Da wird mir die Zeitung auf den Tisch gelegt, in der sich wieder einmal eine Petition der Frauen an den preußischen Landtag befindet. Die Damen sind nicht zufrieden, daß sie auf den Hochschulen geduldet werden, sie fordern auch das Recht der Immatrikulation. Nun, dazu habe ich als Schulmann auch ein Wörtlein zu sagen. Ich werde mir gestatten, mich mit den Damen recht sachlich, wie es meine Art ist, auseinanderzusetzen.
In Italien, wo ich einige Jahre als Hauslehrer zubrachte – es ist übrigens ein schönes Land, von dem ich als guter Deutscher den Wein und die Gesänge zu schätzen weiß – in Italien habe ich so recht gesehen, wie es geht, wenn man die Dinge nicht an ihrer prinzipiellen Wurzel faßt, sondern nur die angeborene Läßlichkeit walten läßt. Die Leute leben nämlich dort ganz ohne 270 Theorien, daß unsereinem die Haare zu Berge stehen. Schreibt dort zum Beispiel eine Frau ein gutes Buch, so wundert sich niemand darüber, und die Kritik tut sogar, als verstände sichs von selbst, daß auch einer Frau so was passieren kann; sie macht gar keine andere Mundeinstellung, als wenn sie das Werk eines männlichen Autors bespricht. Da sind zum Glück wir Deutsche wissenschaftlicher. Ich selbst, der ich lange Zeit Kritiker von Profession gewesen bin, hatte für diese Fälle ein eigenes Schema, nach dem ich zwanzig Jahre gearbeitet habe. Ich begann jedesmal mit einem Exkurs über die Stellung des Weibes in Natur und Gesellschaft, worin ich zwar dem brutalen, jetzt überwundenen Standpunkt entgegenzutreten pflegte, daß das Gewicht der Hirnmasse über den Grad der Intelligenz entscheide, aber gleichwohl geistige Stärke, wenn sie sich am einzelnen Weibe manifestierte, in die Gattung des Monströsen verwies. Von all dem haben sie, wie gesagt, jenseits der Alpen keinen Dunst. Sie reihen solche Phänomene ohne weiteres unter ihre Erfahrungen ein 271 und bilden danach ihr Urteil, statt wie sichs gehört, mit dem Urteil den Anfang zu machen.
Ebenso leichtsinnig sind sie mit der Frage des Frauenstudiums verfahren. Sobald ein paar überspannte Weiber die Zulassung zu Gymnasien und Universitäten verlangten, und ein paar gedankenlose Männer ihnen Recht gaben, antwortete die Regierung gelassen: Probieren wirs, – und plötzlich, wie aus den Wolken gefallen, war die Sache da, und was noch schlimmer ist: sie hält sich. Na, sehe jeder, wie ers treibe! Wir sind ja für andere Völker nicht verantwortlich. Im Lande der Denker geht man Gott sei Dank bedächtiger zu Werke, und ich hoffe, der preußische Landtag wird wissen, was er zu tun hat. Ich mein' es ja nur gut mit den Damen. Du lieber Gott, wenn ich denke, was das Studium seinerzeit mir für Mühe gemacht hat und wie schwer mir mitunter heute noch das Begreifen fällt, der ich doch ein Mann bin – wie soll das erst mit den Weibern werden! Darum ist mein Spruch: Voll Dampf zurück! Daß auch sehr bedeutende Männer für die sogenannten Frauenrechte eingetreten sind, geht mich nichts an, ich bin kein bedeutender Mann, sondern vertrete den Mittelstand der deutschen Intelligenz und bin stolz darauf.
Mein Mietsherr Nielsen, der Korrespondent einer Stockholmer Frauenzeitung, der ein Stockwerk höher wohnt als ich, schwört, es noch erleben zu wollen, daß die Frauen an der Gesetzgebung Teil bekommen. Natürlich, der Mann hat eine Frau, die ihm seine Artikel schreiben hilft, und ist, wie sich von selbst versteht, unter dem Pantoffel. Dafür bekommt seine Gnädige von mir die Wahrheit zu hören. Meine liebe Frau liegt mir zwar mit Eifersucht in den Ohren, denn sie behauptet, es habe eine Zeit gegeben, wo die schwarzen Augen der Schwedin mich nicht ganz kalt gelassen hätten, doch das ist ein Irrtum. Jedenfalls ist sie mir jetzt durch unsere vielen Debatten zuwider geworden. Ich sage ihr: das Weib ist schwach, es ist beschränkt und unproduktiv – sie antwortet mit Beispielen und Namen aus der 273 Geschichte und Literatur, worauf ich mich natürlich nicht einlasse; es paßt mir nicht.
Neulich las sie mir gar einen Abschnitt aus Garibaldis Memoiren vor, worin dieses große Kind behauptet, die Frau sei nicht nur hingebender, aufopferungsfähiger als der Mann, sondern auch entschlossener, tapferer. Nun, daß die deutsche Frau wenigstens nicht tapfer ist, das sehe ich an der meinigen, die an keiner Kuh vorbeigehen kann, ohne zu zittern, und was die Hingebung betrifft, davon könnte ich ein Liedchen singen, ich bin nicht umsonst Ehemann.
Aber was antwortet mir das dreiste Frauenzimmer auf diese Entgegnung?
»Die deutsche Durchschnittsfrau«, sagt sie, »steht hinter der Durchschnittsfrau anderer Länder zurück. Sie kann als Hausfrau und Weltdame sich nicht mit der Französin messen, an Bildung, Charakter und Weltblick nicht mit der Engländerin, die Russin ist ihr wenigstens im Naturell überlegen, die Amerikanerin an unbefangener Freiheit der Bewegung.«
274 Heiliger Gott, das im Lande des Dichters, der ein Gretchen erschaffen hat!
»Ja,« sagt sie darauf, »das Gretchenideal ist es eben, was die deutsche Frau im Rückstand gehalten und der ganzen Nation geschadet hat.«
Bitte, erklären Sie mir das.
»Dem Deutschen ist es nur wohl, wo er sich keinen Zwang antun muß. Auch die Leidenschaft will bei ihm in Schlafrock und Pantoffeln gehen und sich vor der Geliebten nicht zu genieren brauchen, so ist ihm denn ein »arm unwissend Kind« im Hause immer am bequemsten gewesen. Darum fehlt es ihm aber auch den anderen Völkern gegenüber an Form, denn alle Schuld rächt sich: wie die Mutter, so der Sohn.«
»Da ist es nur schade,« sagte ich höhnisch, »wenn hochstehende Frauen keine Söhne haben.«
Das saß! Denn ihre Kinderlosigkeit ist ein Pfeil, der immer still in ihrem Herzen schwärt, so behauptet wenigstens meine liebe Frau. Der plötzliche Stoß hat ihr so wehe 275 getan, daß sie sogar ihre gewohnte Schlagfertigkeit verlor. Und das war ein Glück. Sie hätte mich sonst nur daran zu erinnern gebraucht, daß mein liebes Weib und ich ja auch keine Kinder haben. Ich ließ also schnell den Gegenstand fallen und ging auf etwas anderes über.
Dieser Nielsen aber ist doch ein Schwachkopf, daß er seiner Frau keine anderen Ansichten beibringt.
Zwölftes Kapitel: Die Erziehung des Weibes geschieht durch den Mann – – –
»Heinrich, was machst du da?«
»Ich nummeriere meine Manuskriptbogen, Kind.«
»Es paßt mir nicht, daß du die Blätter im ganzen Zimmer herumstreust.«
»Siehst du, ich gebrauche dazu nur einen einzigen Stuhl.«
»Wozu denn aber den Stuhl?«
»Daß die Blätter da trocknen, denn auf dem Schreibtisch ist nicht Platz genug.«
276 »Nun meinetwegen. – Heinrich!«
»Was, Schatz?«
»Hast du von den frischgebügelten Taschentüchern eins weggenommen?«
»Kann sein, ich weiß nicht.«
»So denke darüber nach, es fehlt eins vom Dutzend. – Du weißt, ich will Ordnung haben in meinen Sachen!«
»Warum bist du denn so schlecht aufgelegt?«
»Die Motten sind in deine neuen Strümpfe gekommen. Jetzt kann ich wieder einen halben Tag sitzen und flicken; ist das ein Leben!«
So also – die Erziehung des Weibes geschieht – –
Entschieden soll es heute mit dem Arbeiten nichts werden. Denn jetzt fängt sie schon wieder an:
»Heinrich, mach doch das Fenster auf.«
»Warum denn?«
»Weil du geraucht hast und ich das am Morgen nicht leiden kann.«
»Liebchen! Ich bin doch in meinem 277 eigenen Zimmer, da hab' ich noch immer rauchen dürfen.«
»Aber ich muß jetzt deinen Wäscheschrank ordnen.« (Sehr scharf): »Bin ich dir vielleicht lästig?«
Meine liebe Frau hat heute ihre Nerven, da muß man Rücksicht nehmen. Ich öffne also das Fenster. Gleichzeitig macht sie die Tür auf, um dem Mädchen zu rufen, ein Windwirbel fährt ins Zimmer und verstreut meine Blätter auf den Boden. Ich laufe hinter den Blättern her, aber einige sind zum Fenster hinausgeflogen, ich muß ihnen auf die Straße nach, und als sie endlich geordnet sind, zeigt sichs, daß eines fehlt. Ich suche durchs ganze Haus, im Garten, umsonst, das Blatt ist fort und nicht zu ersetzen. Im Manuskript bleibt darum eine Lücke. Ich weiß nicht mehr, was ich über die Erziehung des Weibes durch den Mann habe sagen wollen.
Und das alles wegen der Nerven meiner Frau. Ein solches Geschlecht will sich immatrikulieren lassen! Du guter Gott!
Wenn sie nur wenigstens bei Nielsens nichts von dem Intermezzo gemerkt haben! 278 Droben kommt so etwas freilich nicht vor. Das ist auch kein Wunder. Eine Frau, die selber schreibt, hat natürlich vor dem Geschriebenen Respekt. Nun, dafür ist mein Weib ein echtes Weib, ein deutsches Weib, eine Musterhausfrau und ordnet sich mir unter. Denn »er soll dein Herr sein«, und damit basta!
Vom Tanzen.
(Ballsaal. Älterer Herr mit kahlem Kopf und goldenem Kneifer einer Dame, die soeben in ein Fauteuil gesunken ist, eine Erfrischung bringend): Gestatten Sie, daß ich Ihnen diese Eislimonade anbiete, gnädige Frau, Sie scheinen erhitzt zu sein.
Dame: O – Sie sind sehr gütig – ich danke Ihnen.
Herr: Bitte, das ist die Pflicht des Alters, wenn sich die Jugend für uns bemüht hat. 279
Dame: (lächelnd, indem sie das Glas zurückgibt): Für Sie bemüht hat? Sie glauben wohl, es werde zu Ihrer Unterhaltung hier getanzt?
Herr: Zu meiner Unterhaltung nicht, aber zu meiner Belehrung.
Dame: Bitte, wie verstehen Sie das?
Herr: Ich sehe hier nach dem Barometerstand unseres Kulturlebens, um mich zu orientieren, was für Strömungen definitiv abgetan sind und in welcher Richtung der Geist während der nächsten zehn Jahre wehen wird.
Dame: Diese Orientierung finden Sie im Ballsaal?
Herr: Nirgends besser, gnädige Frau. Es gibt immer Augenblicke in der Weltgeschichte, wo die kommenden Ereignisse vorausgetanzt werden. In Paris tanzte man seinerzeit 280 Aufklärung und Menschenrechte, lange bevor die Republik erklärt und die Göttin der Vernunft auf den Thron gesetzt wurde. – Oder glauben Sie, nur die Tänze der wilden Völker mit ihrem Suchen und Fliehen hätten eine Symbolik? Die Tänze der zivilisierten Welt sind ebenso sprechend und haben dazu das allerabwechslungsreichste Thema. Jene tanzen immer dasselbe Stück Naturgeschichte, wir aber tanzen jeweils ein neues Stück Zeitgeschichte. Wenn das auch vielleicht nicht ganz so schön ist, – Sie verzeihen, daß ich so aufrichtig bin, das zu sagen – es ist doch ebenso interessant. Nur im Ballsaal kann man sich auf einen Blick über politische, soziale, philosophische, ästhetische Strömungen unterrichten.
Dame: Das ist mir völlig neu. Darf man vielleicht einiges von Ihren Beobachtungen erfahren?
Herr: Wie hoch würden Sie mein Alter schätzen, gnädige Frau? 281
Dame: Nun, ich würde Ihnen wohl einiges über Vierzig, aber noch lange keine Fünfzig geben.
Herr: Nehmen wir an, Sie hätten Recht. – So will ich Ihnen vom Tanz des letzten Vierteljahrhunderts erzählen. O, ich weiß noch gut, wie der Übergang sich vorbereitete. Lebhaft erinnere ich mich an gewisse reifere Damen, die dazumal in den Kontretänzen das junge Volk zu heimlichem Lachen reizten durch die kunstvollen Pas, die noch aus der Zeit ihrer Jugend stammten. Das war so gefühlsam, so schäfermäßig, man dachte an die Wertherzeit, an vergilbte Albumblätter und sentimentalische Poesie. Die Jugend – ich selber habe nie getanzt – schritt ihre Touren gehend, in rhythmischer Bewegung ab, und diese hüpfenden Respektspersonen wirkten unwiderstehlich erheiternd auf meine grünen Altersgenossen. Mich machten sie melancholisch, als sähe ich einen Totentanz. 282
Dame: Das kann ich wohl verstehen.
Herr: Als ich zehn Jahre später die zivilisierte Welt im Ballsaal wiedersah, da erstaunte ich, sie ganz verwandelt zu finden. Ich kam mir vor wie Rip van Winkle, der sich die Augen reibt. Man gab sich nicht einmal mehr die Hand wie sonst, sondern hob zuvor den Ellbogen spitz in die Luft und fuhr mit der Hand von oben herunter, indem man die dargereichte Rechte wie eine Schraube nach innen drehte. Dem Uneingeweihten – das war ich damals – erschien die Gebärde als das Übermaß linkischer Roheit, aber man teilte mir mit, sie sei das Freimaurerzeichen, woran die eleganten Leute aller Nationen sich einander kenntlich machten.
Dame: Ist es möglich?
Herr: O, gnädige Frau, es ist vieles möglich. – Und gar das Tanzen selbst! Vorüber die Zeit, wo man seine Glieder dem Rhythmus hingab! Vorüber jede Erinnerung an Stil 283 und Form. Jetzt mußte man, um chic zu sein, immer ein paar Takte zu spät kommen, wie ein zerstreuter Schauspieler, der sein Stichwort überhört hat. Dann rannte man eilig in die Reihe, wobei man möglichste Unordnung zu stiften suchte. Wer so kühn war, durch sein Dreinfahren die Figuren des Tanzes ganz zu zerstören, der fühlte sich auf der Höhe der modernen Zivilisation. Statt der tiefen Verbeugungen ein burschikoses, halb widerwilliges Kopfnicken, wodurch angedeutet wurde, daß man diese, wie überhaupt jede Form verachtete. Die Ellbogen drückten, sogar beim schönen Geschlecht, durch ihre Stellung aus, daß man im Kampf ums Dasein auch Püffe auszuteilen verstand, der Tritt mußte schwer sein und von ferne das Schreiten der Arbeiterbataillone ahnen lassen.
Dame (sich die Hände vor die Ohren haltend): Schrecklich!
Herr: Ja, es war ein lehrreicher Abend. Ich war mitten in die Revolution der Materie 284 gegen Geist und Form geraten. An jene Zeit erinnern Sie sich natürlich nicht, Sie sind zu jung dazu.
Dame: Ich war wohl noch nicht ballfähig; es muß schon eine Weile her sein.
Herr: Für mich ist es gestern gewesen. Es war das letzte Mal, daß ich einen Ballsaal besuchte vor dem heutigen Tag. Da las ich auf Einen Blick die Signatur der Zeit. Sie hieß Kraft und Stoff, Survival of the fittest, Struggle for life. Der Abend überhob mich der Lektüre von Marx und Darwin, von Zola und Ibsen. Ich ließ mir die »Entstehung der Arten« – auch die der Unarten nebenbei – das »Assommoir«, die »Gespenster« einfach vortanzen. Ein unvergeßlicher Abend. Durch die Musik ging es zuweilen wie Dynamitexplosionen; das war der Anarchismus, der an die Türen klopfte. Freilich, die jungen Leute, die so unbefangen in voller Naturflegelei einherschlenkerten oder rasten, hatten keine Ahnung, was sie taten. Sonst hätten sie lieber das Tanzen ganz aufgegeben, denn 285 man kam damals nicht gern in den Verdacht, Phantasie zu haben. Sie glaubten nur den Stoffwechsel zu beschleunigen. Daß man lauter Allegorien tanzte, das wußte man damals so wenig wie heute.
Dame: Nun, und was für Allegorien haben wir Ihnen heute vorgetanzt?
Herr: Sie tanzen heute eine neue Wende der Zeiten. Götter- und Götzendämmerung. Dekadenz, das heißt Untergang einer alten Weltanschauung und den Aufgang einer neuen. Genau läßt sie sich noch nicht erkennen. Es sieht alles noch so verworren aus. Aber Materialismus, Naturalismus haben Sie zu Grabe getanzt, das ist gewiß. – Sehen Sie hier das Paar, das sich soeben mit einem Händedruck trennt. Des Jünglings Ellbogen weisen noch immer nach außen, aber es ist nicht mehr das banausische von ehedem. Es sieht jetzt etwa aus, wie auf dem berühmten Reiterstandbild des Colleone zu Venedig. Das bedeutet Nietzschetum, Herrenmoral, blonde Bestie, modernes 286 Renaissanceideal, freilich fast schon ein wenig passé. Nun betrachten Sie auch die Dame, sie ist besonders instruktiv, denn sie ist schon etwas weiter vorgeschritten. Im Reformkleid, dünn, fast körperlos, lang und schwank, müde und schmachtend, mit schlangenhaften Wendungen. An Schmuck und Kleidung alles phantastisch und schnörkelhaft, ohne Anfang und Ende, wie ein Gedicht von Gabriele d'Annunzio. Das ist die Rache der Form an der Materie. O, und sehen Sie, hier kommt noch eine, die die erste überbietet. Die geringelte Schleppe, die langen Bänder, der gestreckte Hals, die dünnen Arme, alles endlos, auf mystische Fernen deutend. Form ohne Körper – und ohne Geist. Nein, auch keine Form mehr, nur noch eine Linie, die ins Unendliche weist. Es ist klar, wir stehen vor einer Periode des Übersinnlichen, wir sind vielleicht schon drinnen. Aber da kommt auch bereits die Reaktion. Heute ist eben alles kurzlebig, auch die Kulturperioden. Sehen Sie den jungen Mann mit dem lachenden Gesicht und den behenden Gliedern, der seine Schöne im Sturmschritt daherträgt? 287 Das ist der wahre »Europäer von übermorgen«. Der tanzt Kraft und Schönheit, Natur und Kunst, »Loves coming of age«, der tanzt die Kultur der Zukunft. Er wischt sich die Stirn, der Gute. Ich glaube es gern, es mag saure Mühe sein, so ein Kapitel Kulturgeschichte vorauszutanzen.
Dame: O, Sie sind spaßhaft.
Herr (sich verabschiedend): Gnädige Frau – es war ein genußreicher Abend, ich danke Ihnen. In zehn bis zwanzig Jahren hoffe ich wieder das Vergnügen zu haben. Bis dahin empfehle ich mich.
Andere Dame: Was war das für ein Herr, der eben von Ihnen wegging?
Erste Dame: O, ein Sonderling, der den Geistreichen spielte. Er sah etwas semitisch aus. Übrigens hat er mir seine Karte gegeben. Sehen wir, wie er sich schreibt: – – Dr. Ahasverus, Berichterstatter »Unseres Jahrtausends«.