Isolde Kurz
Im Zeichen des Steinbocks
Isolde Kurz

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Poesie

Um das Schöne zu schaffen, muß man das Wahre kennen.

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Der Prozeß des dichterischen Schaffens ist keine Handlung, sondern ein Vorgang. Der Dichter kann mit seinem Willen nichts dabei tun, als äußerliche Hindernisse wegräumen. Die Phantasie trägt ihn ohne sein Zutun in ihre Lande, sein Verstand hat dabei kein anderes Geschäft, als hie und da den Radschuh zu brauchen. Der Genius, der unbewußte, lenkt den Wagen; stört man ihn, so entflieht er, und will man den Wagen ohne ihn weiter führen, so kommen kleine Kobolde und führen ihn in den Sumpf. Das sind die eigentlichen Verstandesgeisterchen, die in diesem Reviere nichts zu suchen haben.

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182 Der Dichter kommt mit dem ganzen Erfahrungsschatz der Menschheit zur Welt.

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Das schaffende Prinzip ist immer dasselbe, ob es sich über die ganze Erde ausbreitet oder sich zu einem kleinen Punkt zusammenzieht. So auch der Dichter. Ob sein Stoff groß oder klein, tut nichts zur Sache, es fragt sich nur, ob im Kleinen das Große enthalten ist. Die Einheit der Dinge muß durchscheinen.

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Die schönen Dinge liegen mehr an der Oberfläche, als man glauben sollte. Es braucht die feine und leichte Hand der Glücksstunde, um sie zu heben. Bei zu großer Mühe gräbt man leicht zu tief und bohrt eine falsche Schicht an.

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Poetische Wahrheit ist die unwillkürliche Auslese und Verschmelzung vieler Wirklichkeiten mittels der Phantasie.

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183 Jeder Stoff, der von der Poesie berührt wird, verwandelt sich aus dem Einmaligen ins Absolute. Die Todtenklage, die dem geschiedenen Freund gedichtet wurde, gilt bereits dem Freund nicht mehr, sondern allen Gestorbenen und allen, die noch sterben werden. Daher die Allgültigkeit und Allverständlichkeit der Poesie. Aber das Individuelle muß die Wurzel sein, aus der das Typische herauswächst, sonst erscheint das ganze Gewächse als ein künstliches.

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Alles Erlebte ist so vieldeutig, daß dem Dichter sein eigenes Lebensschicksal genügt, um alle erdenklichen Lebensgeschicke daraus zu formen.

Aber nicht auf die Menge der äußeren Ereignisse kommt es an, sondern was einer innerlich davon aufnimmt. Es gibt Leute, die essen und immer essen, aber es schlägt nicht an, sie bleiben dabei spindeldürr. Ebenso ist es mit der Psyche auch. Es kann einer die Erde umschiffen, um etwas zu erleben, und doch mit leeren Händen zurückkommen, 184 wenn ein anderer einen Spaziergang über die Hügel macht und neue Welten nach Hause bringt.

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Der Dilettant steigert sich gern in eine dumpfe Begeisterung hinein und springt kopfüber in die Wogen der Sprache, ohne einen Schwimmgürtel mitzunehmen, der ihn über Wasser hielte.

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Immer spricht der Dilettant den Künstler als Bruder an. Der Künstler mag sich dies ruhig gefallen lassen – er hat keine Pflicht der Aufrichtigkeit gegen ihn.

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Manche dichterischen Erzeugnisse haben uns, so lange sie neu waren, zur Bewunderung hingerissen, aber als wir sie zehn Jahre später wieder hervorholten, sahen wir mit Schrecken, daß ihre Haut bereits zu schrumpfen begonnen hatte. Abermals zehn Jahre, und wir können sie gar nicht mehr zur Hand nehmen, so welk und runzlig sind sie unterdessen geworden.

185 Es sind die Hoffräulein des Rübezahl, die einen Tag lang im Sonnenlicht mit der Prinzessin lachen und spielen und von ihr für lebendige Wesen gehalten werden, wenn aber der Abend kommt, so liegen sie tot und eingeschrumpft als welke Rüben da.

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Tendenz. Der Dichter hat gar nicht nötig, sich ernsthaft mit den Vorurteilen herumzuschlagen. Das macht viele der nordischen Schriftsteller so schwerfällig und ungenießbar für feinere und freiere Geister, denen ihre Probleme gar keine Probleme mehr sind.

Der echte Künstler nimmt getrost den Sieg einer lichteren und höheren Weltanschauung voraus, und auf diesem Boden, den er nicht mehr zu erobern braucht, der sein ist, steht er gelassen und lächelnd. An den Tageskämpfen braucht er schon deshalb keinen Teil zu haben, weil ihre Fragen für ihn seit Jahrhunderten abgetan sind.

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Warum ein Dichter immer zur Öffentlichkeit reden muß und mit einem einzelnen 186 noch so liebevollen Hörer nicht zufrieden sein kann? Weil ein Kunstwerk zahlloser Deutungen fähig ist, und darum von dem Einzelnen nicht ausgeschöpft wird. Ein Werk, das nicht in die Allgemeinheit gedrungen ist, hat nie existiert. Unter Allgemeinheit verstehe ich aber nicht die große Herde, die das Abc gelernt hat, sondern die Allgemeinheit der Denkenden, die zusammen einen ganzen Menschen bilden. Ein einzelner, und sei er noch so geistesstark, ist in diesem Sinne niemals ein ganzer Mensch, was jeder Künstler mir zugestehen wird, wenn er sich sein edelstes Publikum im einzelnen vergegenwärtigt: dem einen fehlt der bildliche Sinn, dem anderen das Ohr für den Rhythmus, dem dritten das Organ für den Naturlaut, und so herunter in die feinsten Schattierungen, daß der Schöpfer des Werkes sich von keinem einzelnen völlig verstanden fühlt, und natürlich desto weniger, je reicher und tiefer sein Werk.

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Der Deutsche legt im Grunde gar keinen Wert auf das Talent. Ihm kommt es vor 187 allem auf die Gesinnung an. Man lese nur die Kritik einer Dichtung in den Tagesblättern. Da gibt sich der Rezensent saure Mühe, den Charakter des Dichters und seine Anschauungen in bezug auf Religion, Moral, soziale Fragen und Gott weiß was alles zu ergründen. Hat er glücklich einen Ausspruch entdeckt, der ihm auf irgend eine der ihm bekannten Kategorien zu deuten scheint, so nimmt er seinen Mann beim Schopf und bringt ihn flugs in der betreffenden Rubrik unter, ohne zu bemerken, daß er ein paar Seiten später vielleicht ebenso gut zu dem gegenteiligen Resultat kommen könnte. Es wird wohl mehr als ein Autor gestaunt haben, wenn er sich plötzlich wie ein Schmetterling auf einem Stück Papier mit der Nadel im Rücken aufgespießt und klassifiziert fand. Denn in der Natur des Dichters, wie in der der Menschheit liegen die Widersprüche beisammen, weil er in allem ist und alles in ihm, daher er als ein Proteus in allen Lebensformen sich bewegen kann und muß. Der Dichter ist zugleich Christ und Heide, Zweifler und Gläubiger, Bekenner aller 188 Religionen und keiner, ein Kind der elementaren Volkskraft und der aristokratischen Verfeinerung, Freund des Starken und Beschützer des Schwachen, Verkünder der rücksichtslosen Gewalt und der heiligen Sympathie. Er kann sich im selben Augenblick für das übermenschliche Genie Napoleons und für das menschliche Heldentum der Befreiungskriege begeistern. Ihn entzückt der heilige Zorn Luthers und die geistreich überlegene Indifferenz Leos X. ebenfalls. Das alles gehört zu den Grundbedingungen seines Wesens, die ihm ohne weiteres zugestanden werden müssen, die die Kritik gar nicht im einzelnen herauszuklauben braucht. Sie hat sich nur mit der Form zu befassen, unter der sein Wesen jeweils in Erscheinung tritt. Aber gerade das, was vor seinen Augen liegt, die Gestaltung, übersieht der Kritiker gewöhnlich ganz. Redet er je von Form, so meint er immer die äußere, wohl gar die metrische, und die – versteht er meistens erst recht nicht.

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189 Roman und Novelle. Viele glauben, daß die Novelle ein kurzer Roman, der Roman eine lange Novelle sei. Das ist grundfalsch. Der Ursprung der Novelle ist die Anekdote, wie man bei Bocaccio noch deutlich sieht. Die Novelle darf ihre einfache anekdotische Grundform nicht verleugnen, sonst wirkt sie leicht kleinlich. Man muß den mündlichen Erzähler noch durchfühlen, das erhält ihr die Frische und den ursprünglichen Reiz. Mit hinreißender Meisterschaft hat dies Maupassant durchgeführt. Um die Anekdote recht deutlich durchfühlen zu lassen, erzählt er zumeist in erster Person oder legt die Geschichte einem fingierten dritten in den Mund, hinter dem er selbst versteckt ist. Dieses Vorschieben des mündlichen Erzählers macht die Handlung konzentrierter und alle Darstellung lebendiger. Naturgemäß muß er aus diesem Grunde die langen Dialoge vermeiden, in direkter Rede gesprochen wird bei ihm bloß das unmittelbar zur Handlung Gehörige und was zugleich den Sprechenden charakterisiert. Es war ein Unfug der verflossenen 190 Dichterschulen, aus der Novelle einen kleinen Roman mit eingeschalteten Episoden und endlosen dramatischen Dialogen zu machen, die häufig gar wie im Drama die Exposition zu übernehmen hatten, was die eigentliche Form der Novelle ganz verwischte.

Der Ursprung des Romans ist im Epos, in der Rhapsodie, daher sein völlig anderer Charakter. Der Rhapsode trug nicht das Selbsterlebte und -gehörte, sondern etwas Gedichtetes und auswendig Gelerntes vor. Dadurch waren die breiten Episoden, die langen Dialoge und die Freiheit der Anordnung möglich. Das Epos rollt ein großes, verschlungenes Teppichmuster auf, in dem die verschiedensten Fäden durcheinander laufen, der mündliche Übermittler hätte die ganze Ordnung nicht übersehen können, wäre nicht jedes einzelne Teilchen genau fixiert gewesen. Der Rhapsode hatte zu seinem Vortrag nicht einmal die Reihenfolge nötig, er konnte einzelne Gesänge herausnehmen und für sich vortragen. Diese epische Grundform ist dem Roman verblieben, und es ist angenehm, sie durchzufühlen. Selbst die 191 Einteilung in Kapitel, die der Einteilung des Epos in Gesänge entspricht, ist dem Leser, wie einst dem Hörer, eine Wohltat und als Ruhepause höchst wünschenswert. Aus den besten Romanen, wie zum Beispiel den »Promessi sposi«, kann man ebenso gut wie aus den alten Epen ein einzelnes Kapitel herausnehmen und für sich genießen.

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Die katholische Kirche, die für die bildenden Künste so fördernd war, ist es keineswegs für die Poesie. Shakespeare und Goethe konnten nur protestantischen Ländern entstammen, sie brauchten zu ihrer Entwicklung ungehemmte Geistesfreiheit und weiteste Menschlichkeit. Wie eng und unfrei steht daneben Dante mit all seiner Titanengröße. Selbst bei dem edelsten Dichter des neueren Italiens, bei Manzoni, weht nicht die reine Bergluft der germanischen Dichter, man fühlt eine katholische, nicht eine menschliche Moral. Bei der Poesie der lateinischen Völker wird einem nur da von Herzen wohl, wo sie im Heidentum wurzelt.

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192 In einem Tyrannenstaat können wohl große Künstler heranwachsen, aber keine großen Dichter, denn der Dichter muß die Wahrheit sagen können oder was er dafür hält. Darum brachte die italienische Renaissance nur Höflingspoesie hervor. Die damaligen Dichter konnten nicht einmal auswandern, denn in der Fremde waren sie Bettler.

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Von Shakespeare. Die Schöpfungen des großen Unbekannten geben, wie die der Natur, immer neue Rätsel auf. Jede Generation sucht sie mit den ihr eigenen psychologischen Werkzeugen zu lösen. Denn seine Charaktere sind kompliziert wie lebende Menschen, voll von Widersprüchen, Unerklärlichkeiten, Lücken, Zweckwidrigkeiten. So ist Hamlets verstellter philosophierender Wahnsinn dem, was er bezweckt, eigentlich entgegen. Er zieht damit die Aufmerksamkeit auf sich, statt sie abzulenken; um den König zu täuschen, hätte er gedankenlose Fröhlichkeit heucheln müssen. 193 Jeder rechnende Dichter hätte ihn so gezeichnet, aber Shakespeare fand im Stoff schon die Verkehrtheit vor und nahm sie ruhig in sein Werk herüber, denn Verkehrtes gehört zur Menschennatur. Daher wickelt das ganze Stück sich ab wie ein Traum, in dem immer das Unerwartete, Widersinnige geschieht und wo dennoch alles einen tiefen Sinn hat, freilich einen Sinn, der erst beim Erwachen ausgelegt wird. Um die Herstellung logischer Charaktere kümmert Shakespeare sich so wenig, wie die Natur selber, und unüberlegt, selbstverständlich fließen die menschlichen Elemente, das heißt die Widersprüche, in seine Schöpfung hinein.

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Shakespeare zerstört lieber den äußeren Zusammenhang einer Figur, als daß er um seinetwillen einen Zug unterdrückte, der typisch ist. Die Gräfin Capulet fühlt sich durch den Tod der Tochter an ihr hohes Alter erinnert, während man nach ihren eigenen früheren Angaben ihr Alter auf etwa 28 Jahre berechnen muß. Der Dichter will in dem Schmerz der Mutter allen 194 Elternschmerz zeichnen, und dazu braucht er, um stark zu wirken, die hohen Jahre. Das wirkliche Alter der Gräfin ist ihm dabei etwas Äußerliches, Unwichtiges. Und sollte das auch nur Vergeßlichkeit sein, so wäre diese Vergeßlichkeit schon sehr bedeutsam. Die wirkliche Gräfin Capulet könnte noch einen Haufen Kinder bekommen und brauchte darum nicht zu verzweifeln. Aber schon ist dem Dichter der Einzelfall gleichgültig geworden, und er läßt ihn hier am Schluß der Tragödie, wo die Wogen am höchsten gehen, von der Flut des Allgemeinen, Ewig-Menschlichen verschlungen werden.

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Ebenso wenig scheut er sich, der stärkeren Wirkung zu liebe seine Personen so reden zu lassen, wie sie, menschlich genommen, aus ihrer Haut heraus im Augenblick gar nicht reden könnten. Julia, in ihrem Erwartungsmonolog, redet über die Unschuld, die in allem ist, was Liebe tut – aber die Unschuld denkt nicht über sich selber nach, und eine wirkliche Julia könnte 195 solche Dinge erst Jahre später in der Erinnerung an diese Nacht sagen. Sie geht dabei aber nicht, wie es den Schillerschen Figuren häufig zustößt, über ihre eigene Persönlichkeit, sondern nur über ihren augenblicklichen Zustand hinaus. Darum wirken ihre Worte auch nicht als unwahr, denn die Geschöpfe der Poesie haben ein anderes Gesetz, als die des Lebens. Da sie in einer idealen Zeit stehen, können sie die eigenen künftigen Erkenntnisse vorausnehmen.

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Hamlet und Orestes. Hamlet ist der Spiegel des modernen, komplizierten, nordischen Menschen. Solcher Charaktere hat die Muse des Nordens noch mehrere umrissen, die nur ihres Shakespeare harren, zum Beispiel den »Held Vonved« der dänischen Ballade und den Gunnlaug Schlangenzunge der isländischen Saga. Auch bei ihnen ist das Gleichgewicht gestört durch das Überwiegen der inneren Hemmungen, die zu einer tragischen Schicksalsmacht werden: der düstere Vonved, der über seine eigenen 196 Rätsel nicht wegkommt, und der schlagfertige Gunnlaug, der dennoch nirgends fertig werden kann, sind Hamlets leibliche Brüder. Bei Hamlet liegt die Hemmung eigentlich in der Beweglichkeit des Geistes, der die Vorstellung des Verbrechens nicht in völliger unmittelbarer Deutlichkeit festhält, daher die Zweifel, das Ausweichen, die Entschuldigungen vor sich selbst, die Gedankenflucht, in die er sich absichtlich stürzt, um auszuruhen. Wäre er Zeuge des Verbrechens gewesen, so hätte er wie ein Wetterstrahl den Schuldigen getroffen, denn daß er handeln kann, so gut wie seine beiden nordischen Brüder, beweist er durch das ganze Stück, sobald etwas Gegenwärtiges ihn aufregt. Das Rascheln hinter der Tür genügt ihm schon dazu. Die Aufführung des Schauspiels dagegen hat diese Macht nicht, sie gibt zwar die ersehnte geistige Gewißheit, aber die Phantasie ist doch nicht stark genug, um den dargestellten Mord mit dem wirklich begangenen zu identifizieren. Es braucht die Realität des Giftbechers, um endlich den Blitz der Tat zu entzünden.

197 Wie anders ist dagegen Orest, der einfache antike Mensch. Als Kind von Hause entrückt, wächst er fern vom Ort der Missetat auf. Agamemnon, das Netz, das Beil können für ihn nur eine Sage sein, so sollte man nach heutiger Denkweise meinen. Hat er Kindheitserinnerungen, so müssen sie ihm die einst liebende und zärtliche Mutter zurückrufen. Das dauernde Leiden der Schwester hat er nicht mit angesehen. Den lange abwesenden Vater hatte er kaum gekannt. Lange Jahre sind seit der Tat verflossen; für einen Menschen von heute wäre Gras darüber gewachsen. Nun erscheint er, ganz in seine Rachepflicht wie in einen ehernen Panzer eingehüllt. Als wäre es gestern geschehen. Agamemnons Blut, das heilige, klebt für ihn noch an der Schwelle, und unbedenklich, unbarmherzig vollzieht er das Gericht. Das ist antike Art. Orest ist die verkörperte Rache, die unauslöschliche Erinnerung einfacher Naturen, über die die Zeit keine Macht hat. Solche Menschen leben sogar heute noch, an einsamen Orten, wo die Tage nichts Neues bringen, wo man 198 weder lesen noch schreiben kann, besonders auf italienischen Inseln, wie denn überhaupt der einzige Anhaltspunkt sich den Griechen wenigstens von ferne noch vorzustellen, der Italiener ist. Hamlet, der in Wittenberg studiert hat, der über Sein und Nichtsein philosophiert, kann kein Rächer sein, es schieben sich ihm zu viele Gedankenreihen dazwischen. Und doch sind seit dem Tode seines Vaters erst zwei Monate verflossen. Aber zwei Monate können für den zerstreuten, grübelnden Geist des modernen Menschen zwei Jahrhunderte bedeuten.

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Meisterwerke im Wandel der Zeit. Es ist frappierend zu sehen, wie auch die großen Meisterwerke der Literatur mit der Zeit ihr Gesicht verändern. Varnhagen schreibt einmal an Rahel, die Figuren im Wilhelm Meister seien so unendlich lebensnah, ein Schritt weiter, und man stünde im Leben selbst. Nichts kann dem heutigen Leser fremder sein, als dieses Urteil. Für uns sind die Figuren so lebensfern, so sehr 199 in eine andere Sprache übersetzt, durchgeistigt und durchscheinend von der Idee, daß das körperliche Gewand, das sie einhüllen soll, fast ganz geschwunden scheint. Man kann sie nicht leibhaft sehen, sie erinnern an keinen Lebendigen mehr. Hat uns der neuere Roman an eine so viel größere Lebensnähe gewöhnt? Oder sind es ausgestorbene Typen? Vielleicht beides. So viel ist sicher: ich kenne persönlich nicht einen mehr, Philine ausgenommen und ein paar Unterfiguren, auch die nur, wenn ich meine Kindheitserinnerungen zu Hilfe nehme. Heute hätte auch Philine ein anderes Gesicht. Solch gutmütigen Flattersinn ohne alle Berechnung gibt es nicht mehr. Auch die Aurelien sind ausgestorben, nicht zu unserem Schaden. Diese Aurelie muß einmal sehr wahr gewesen sein, ich erinnere mich noch dunkel solcher Gestalten, solcher ewig klagenden, von Erinnerungen verzehrten, sie ins Schaufenster legenden. Heute weiß eine Verlassene, daß sie mit Klagen den Freunden im besten Falle lästig fiele und auch von ihnen in den Winkel gestellt würde, 200 wahrscheinlicher noch zöge sie sich Spott und Schadenfreude zu. Deshalb nimmt man sich jetzt in solchen Fällen zusammen. Aber damals gefielen die Seelenergüsse, man sah gern die zuckenden Herzfasern bloßgelegt und zwang sich mitzufühlen, fühlte wohl auch wirklich mit. Welch ein festes und hartes Geschlecht sind wir neben diesen Gefühlsschwelgern. Wir bergen unsere Empfindungen hinter einer Eisrinde, wo sie freilich allmählich erstarren.

Serlo kann ich noch wie im Nebel wahrnehmen. Lothario, Natalie, Therese sind völlig zu Schemen geworden wie viele andere, eine ausgestorbene Welt. Der Harfner und Mignon hatten niemals Blut in den Adern, sie sind ein Stück blässester Romantik. Die Mignon ins Lebendige übersetzt heißt Meretlein. Kurz, das Leben ists gerade, was ich gar nicht in dem Buche finden kann, nur eine aus der Zeit gezogene Quintessenz des Lebens, bis zur Entkörperlichung destilliert. Die höchste, göttlichste Weisheit eines Sehers und Beichtvaters.

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201 Nur die Griechen und Shakespeare mit wenigen anderen verändern ihre Züge nicht. »Nothing in you that doth fade«. Ihre Grenzen, sind so weit, daß jede neue Kulturperiode darin Raum hat.

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Indeß wer weiß? Vielleicht werden in ferner, ferner Zeit auch Shakespeare und der Faust einmal sterben, wie Dante gewißlich sterben wird. Alle Dichter der neueren Ära tragen wie ein Muttermal einen Punkt an sich, der sie als Kinder ihrer Zeit bezeichnet. Dieser Punkt hat sie einst ihrer Zeit zugänglich gemacht, er ist es auch, wo sie sterblich sind, wo die Wasser des Styx sie nicht berührt haben. Von da aus kann das Welken und die Vergänglichkeit über sie kommen, die sie vielleicht einmal ganz noch verzehren.

Es könnte zum Beispiel eine Zeit kommen, wo man das Motiv des Othello, Rache für scheinbar beleidigte Gattenehre, gar nicht mehr verstände, weil man eingesehen hätte, daß Untreue der Gattin nichts mit der 202 Ehre des Gatten, sondern einzig mit seinem Gefühl zu tun hat. Ja, ich bin überzeugt, wir hören schon heute den Othello mit etwas anderen Ohren an, als Shakespeares Zeitgenossen ihn hörten. Wir sehen in ihm nur den beklagenswerten, verblendeten Mörder, nicht den übereilten Richter, und es braucht für eine feinere Seele schon die göttliche Kunst eines Salvini, um die widerwärtige Vorstellung des angemaßten Richteramts über dem tragischen Mitleid zu vergessen. Je mehr der tragische Dichter seine Stoffe aus der Welt der Konventionen wählt, statt aus der Natur, auf desto mehr Punkten ist er der Vergänglichkeit ausgesetzt.

Die großen Griechen allein sind frei von allen Malen der Sterblichkeit geblieben.

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Von der griechischen Tragödie. Im griechischen Drama staunen wir nicht mehr die Schöpfung einzelner Dichter, sondern das fleckenlose Werk einer ganzen Kultur, die angesammelte Kraft und den Adel des gesamten Griechenvolkes an. Darum 203 sind die wenigen erhaltenen Werke des Aeschylos wahrer und größer, als die Shakespeareschen, die neben diesen Werken der Notwendigkeit wie das Werk individueller Willkür erscheinen. Wer kann unmittelbar nach dem Agamemnon oder den Persern ein Shakespearestück lesen, ohne das barbarische, barocke und wüste, was es notgedrungen mitführt, als wilde Phantasterei zu empfinden?

Man denke sich aber auch das Publikum des Aeschylos. Nicht nach staubiger Tagesarbeit müde und sensationsbedürftig, nicht um die stumpfen Nerven wieder anzuregen, wozu das gröbste Mittel das beste ist, nicht des Abends in überhitzter Luft bei künstlichem Licht und falschem Flitterputz, sondern am hellen Tageslicht im Grünen, mit dem Blick auf Meer und Berge, an den höchsten Fest- und Weihetagen des Landes kommt das höchste, feinste, genialste und kultivierteste Volk der Erde, um über die Werke seiner großen Dichter zu richten, deren Stoff einem jeden geläufig ist. Da gibt es keine grobe Spannung, den Ausgang 204 kennt ein jeder, nur auf das Wie, auf das wahrhaft Poetische ist der Sinn gerichtet. Auch der Sinnenkitzel ist ausgeschlossen, die Tragödie als Staatsangelegenheit hat nicht nötig, einem zahlenden Publikum zu schmeicheln. So schreiten die überlebensgroßen und überlebenswahren Gestalten als das Ewigmenschliche, Allverständliche über die Bühne, begleitet von Gesang und Tanz, die für ihre symbolische Würde Zeugnis ablegen.

Wird ein Werk wie Die Perser jemals wieder geschaffen werden? Ein Stück aus der Tagesgeschichte, noch vibrierend von der Erschütterung des Selbsterlebten und doch schon vom Licht der Ewigkeit durchleuchtet. Von einem Salamiskämpfer geschrieben und aufgeführt vor den Veteranen von Salamis und vor den Jünglingen, die jene großen Tage wenigstens noch vom Hörensagen kannten.

Ehrfurcht erfaßt uns, nicht vor dem Dichter, sondern vor dem Volk, dem der Dichter dieses Geschenk bieten durfte, denn es ist die Sache des besiegten Feindes, die hier 205 vom tragischen Mitleid verklärt wird. Der Tragiker macht von dem höchsten Dichterrecht Gebrauch, für den »überwundenen Mann« zu zeugen, und mit welcher Weihe umgibt er die Gefallenen, welche Gerechtigkeit läßt er dem Besiegten widerfahren, mit welchen Ehren sind die Häupter der Unglückseligen umkränzt, die »das Antlitz gen Athen« von den spöttischen Wellen dem Strande von Salamis zugewälzt werden. Und die Züge dieser Gesichter waren den Zuschauern noch bekannt, sie waren noch vor kurzem das Schreckgespenst griechischer Mütter gewesen!

Man unterbreche einen Augenblick dieses Bild durch ein anderes. Man denke sich einen deutschen Aeschylos, der in den Jahren, die auf den Siebziger Krieg folgten, auf einer deutschen Bühne dem überwundenen Gegner solche Trauerehren hätte erweisen wollen, man male sich das Bild seines Empfangs vor einem deutschen Publikum aus, um den ungeheuren, nicht auszudenkenden Abstand zu ermessen, der uns Heutige von den Hellenen, dem einzigen 206 Kulturvolk, das jemals gelebt hat, trennt. – Ich führe mit Absicht nur die Deutschen an, denn die Deutschen sind, in ruhigen Zeiten, wenn das Gleichgewicht nicht schwankt, noch immerhin das einzige Volk, das einem anderen Volke gerecht werden kann. Aber der Grieche war der Kunst gegenüber immer im Gleichgewicht, er sah auch den Todfeind durch das Glas der Dichtung nur sub specie aeterni.

Wie wohltuend ist es, daß in den Trauergesang der Besiegten kein trunkenes Triumphlied der Sieger hineintönt. Der hellenische Genius hätte dem Dichter diese grellen Kontraste verwehrt, wenn sie nicht schon durch die Beschränkung der Bühne unmöglich gewesen wären. Und von welcher Würde ist die Beschwörung des toten Darius! Feierliche Schauer, keine grassen Schrecken, schweben um die Gruft, die sich auftut, den Schatten des Königs zu entlassen. Gegen diese Größe gemessen, scheint der Geist im Hamlet mit seinem unterirdischen Versteckensspiel und Hamlets: »Brav, alter Maulwurf!« plump und klein. Es ist 207 wiederum Sache eines ganzen Volks, nicht eine persönliche Angelegenheit, was den Toten ans Licht zwingt – nur die Beschwörung der toten Wala in der Edda, wo es sich um ein ganzes Weltgeschick handelt, geht darüber noch hinaus. Auf die Frage des Toten: »Unser Weg ist schwer – warum zwingt ihr mich zu kommen?« folgt die schicksalsschwere Antwort: »Dein ganzes Reich ist vernichtet«, und die Klagen der Greise fallen ein: »Dein ganzes Heer! Die ganze Jugend! Alle, alle!« Es ist wie ein Ozean von Jammerrufen, wo jede Welle aufschreit: Alle! und ein langes Echo trägt es fort: Alle! Dein ganzes Volk, dein ganzes Heer, alle, alle deine Schiffe!«

Die herrlichste Schöpfung aber ist der Agamemnon. Er hat den vollkommensten Aufbau, die stärkste Wirksamkeit in der von Szene zu Szene sich steigernden Handlung bei den wundervollsten, die Phantasie zur Mitarbeit nötigenden Einzelheiten. Es ist ein unvergleichlicher Anfang, wie durch die Vorstellung der sich fortpflanzenden Feuerzeichen das Bild des ganzen Landes mit 208 seinen Bergen und Meerbusen als ein unendlich reicher Hintergrund auftaucht – die Poesie tut hier mit ihren eigensten Mitteln, was später Aufgabe des Theaterdekorateurs wird – wie dann der Bote die Heimaterde küßt, und, nachdem man aus dem Mund der Greise die Leiden der Daheimgebliebenen kennen gelernt, die Anschauung von der Not der Ausgezogenen mitbringt. Und die Gestalt der Klytemnestra, so fein in ihrer Heuchelei, so königlich in ihrer Bosheit, daß man sie beinahe lieben muß. Das ist keine niedrige Verbrecherin, der Dichter, der sie so reich mit Schlechtigkeit ausstattet, hält ihr jeden Zug fern, der sie zum Zerrbild oder zum Ungeheuer machen könnte – nur in der Lady Macbeth hat diese dämonische Gestalt ihresgleichen gefunden. Dann Agamemnons Empfang! Als höchste Symbolik die rote Bahn, auf der er ins Haus schreitet. Wie gewaltig mußte dieser rote Teppich, der sich plötzlich wie ein Blutstrom über die Szene verbreitet, auf die Phantasie der Wissenden wirken. Und wissend waren ja 209 die Zuschauer alle, die Geschicke der Atriden lebten in jedem Herzen. – Goethe spricht einmal im Wilhelm Meister über die erhabene Wirkung des Symbolischen im Drama, wofür er als höchstes Beispiel die Wegnehmung der Krone vom Bett des sterbenden Königs in Heinrich IV. bezeichnet. Aber was will die Wegnehmung der Krone gegen die »rote Bahn« des Atriden bedeuten! – Und wie weise erdacht ist Agamemnons Weigerung, den Prachtteppich zu beschreiten, um nicht durch so triumphalen Einzug die Götter zu reizen: das Volk soll den König, den es gleich verlieren wird, noch in seiner Weisheit, Mäßigung und Götterfurcht lieben lernen, er soll durch dieses Maßhalten im Glück, die von den Griechen so hochgehaltene »Sofrosyne«, dem Zuschauer noch werter werden – aus den homerischen Gesängen hatte er solchen Kredit nicht mitgebracht –, und zugleich erhält die zungenfertige Klytemnestra Gelegenheit, ihre ganze Heuchelkunst zu entfalten. Vom edelsten Takte ist wieder sein leises Zurückweisen ihrer übertriebenen Rhetorik, das sich doch 210 zu vornehm hält, ein Mißtrauen zu verraten. Und nun folgt auf diese gewaltige Vorbereitung noch eine letzte und höchste Steigerung in der Kassandraszene, der Krone des ganzen Stücks. Die Seherin scheut zurück vor der blutbefleckten Schwelle. Wie ein Jagdhund wittert sie altvergossenes Blut. Die Gestalten des Vergangenen erscheinen für sie, dem Zuschauer unsichtbar, auf der Schwelle und regen den Blick ins Künftige auf, in das Künftige, das soeben schon zur Wirklichkeit wird. Sie sieht durch die Mauern, durch die geschlossenen Türen hindurch das Bad, das Netz und die Axt, die auch für sie geschliffen ist. Und nach dem erschütterndsten Weheruf über die Opfer, zu denen gleich sie selbst gehören wird, faßt sie sich zusammen und schreitet, vom Chor der Greise vergeblich zurückgehalten, wissend und dem Unabwendbaren sich beugend, ihrem Geschick entgegen. Dieser höchste, bis in die Wolken ragende Gipfel ist von der tragischen Kunst niemals wieder erstiegen worden, und auch für den Dichter der Oresteia selbst gab es hier kein 211 Verweilen. Im »Totenopfer« sinkt die dichterische Kraft, um sich erst in den »Eumeniden« und hier mehr durch die Macht der sittlichen Idee, als durch die der dramatischen Mittel noch einmal auf die gleiche Höhe zu schwingen.

Diese großen Werke stehen da als ein ewiger Pegel, wie hoch einmal der Wasserstand der Kultur gewesen; die heutige kann keine Schiffe von solchem Tiefgang mehr tragen.

 

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