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Der Dichter hat seherische Kräfte, schon weil er mehr als jeder andere über die Kräfte der Sprache verfügt, die an sich die größte Seherin ist.
Die Sprache, die wir als unsere Dienerin brauchen, ist viel weiser als wir. Unaufhörlich raunt sie uns Geheimnisse zu, die wir nicht verstehen. Was der Verstand ergrübelt, was die Entwicklung ans Licht bringt, hat die Sprache längst vorausgesagt, nur sagte sie es tauben Ohren. Ihre Orakelsprüche werden erst verstanden, wenn die Erfüllung eingetreten ist.
Die tiefsten Seherkräfte scheint die alte Sprachenmutter Sanskrit zu besitzen, wenn man den Bramanen glauben darf, die versichern, daß noch niemals die Worte der Veden in ihren tief inneren Bezügen und 146 Spiegelungen von einem Abendländer richtig verstanden worden seien.
Ein philosophischer Geist waltet durchweg auch in unserer Muttersprache. Wie bezeichnend ist die Wandlung des Wortes »feige«, das im Mittelhochdeutschen den zum Tode Reifen bedeutete, in seinen heutigen Begriff. Die Sprache schloß von der Wirkung auf die Ursache und scheint uns sagen zu wollen, daß den Tapferen die Götter schirmen. Daß »Elend« einst nichts anderes war, als Verbannung, wer denkt noch daran, seit die Erde eine große Heimat geworden ist, die alle schützt? Das Wort müßte uns erinnern, daß das Elend heute keine vom Staat verhängte, sondern eine selbst gewollte Strafe ist. Und noch so manches andere geben uns die Worte zu denken. Einst war »Wunsch« die höchste Glückserfüllung, die Wonne selbst. Das Wunschland war unseren Alten das Land der Seligen, ihr oberster Gott führte selber den Beinamen des Wunsches. Aber seit die Sprache älter geworden ist und nicht 147 mehr an Märchen glaubt, hat der selige »Wunsk« sich des Besitzes entschlagen müssen und lebt jetzt nur noch in der Sehnsucht. Das Wesenhafte hat sich aus ihm verflüchtigt zum Zeichen, daß die höchste Existenz des Glückes im Wunsche sei.
Es gibt unserer Muttersprache einen tiefen und eigenen Zauber, daß so oft in einem Wort mehrere Bedeutungsschichten über einander liegen, die ein feineres Ohr, auch ohne sprachkundig zu sein, noch durchhören kann. Selbst in Kinderohren klingt, wenn sie ein solches Wort zum ersten Mal hören, noch ein Stück von seiner Vergangenheit mit herein und läßt das Wort als etwas geheimnisvoll Lebendiges erscheinen. Und auch durch ihre inneren Beziehungen und Verwandtschaften spiegeln sie einen tieferen Sinn, als sie aussprechen können, daß oft in einem angeschlagenen Tone der ganze Akkord mitklingt.
148 Darum ist unsere Sprache so ahnungsreich in der Poesie und kann oft mit so wenig Mitteln wirken, wenn sie auch an rein melodischem Reiz hinter anderen Sprachen zurücksteht.
Ein seltsames Phänomen! Der sprachliche Ausdruck verroht in allen Ländern, während die Sitte sich verfeinert. Das gilt auch von der feinsten, der italienischen. Im Quattrocento sagte man »mi saetta«, jetzt sagt man »mi colpisce«, in hundert Jahren sagt man vielleicht »mi ammazza«, um auszudrücken, daß eine Sache unsere Aufmerksamkeit erregt.
Guter Stil beruht auf einem reinen und tiefen Wahrheitsgefühl. Hinter allem schlechten Stil steckt immer eine gewisse Verlogenheit oder wenigstens Wahrheitsscheu. Selbst die unsichere Behandlung der Temporalformen bei der Mehrzahl der heutigen Schriftsteller hat keinen anderen Grund.
149 Alle die zur Feder als ihrem Handwerkszeug greifen, sollten zuvor ein Ordensgelübde auf Reinheit und Treue der Sprache ablegen müssen, bei dessen Verletzung sie des Rechtes zu schreiben verlustig gingen. Wenn unsere Schriftsteller, Journalisten, Redner noch eine Weile so fortfahren, wie bisher, so werden die späteren Geschlechter das Material, aus dem sie ihre geistige Welt aufbauen sollen, gänzlich entwertet vorfinden, und sie werden vielleicht zur Schande ihrer Vorfahren, die ihr edelstes Erbgut verschleudert haben, zu einer fremden Sprache greifen müssen, um klare und tiefe Gedanken auszudrücken.
Es ist ein Fluch der Affektation, daß sie die Schwachen zur Nachahmung reizt.
Hat ein begabter Mensch eine Grimasse an sich, so steckt er gewiß seine Umgebung damit an, und ein temperamentvoller Schriftsteller, der eine stark ausgesprochene Manier im Schreiben hat, kann ein ganzes Zeitalter mit Manierismus durchseuchen. Das ist ein 150 Feld, wo jeder seinen Charakter üben kann, indem er sich dem Weitergreifen der Unnatur widersetzt.
»Ja, wenn die Gesundheit ansteckend wäre, wie die Krankheit!« entgegnen die Gleichgültigen.
Auch die Gesundheit ist ansteckend, zweifelt nicht daran, nur daß sie sich viel, viel langsamer verbreitet. Die reichen Engländer wissen es, die, um sich von nervöser Schwäche zu heilen, einen »strong man« zur Gesellschaft nehmen, aus dessen Anblick sie Kräfte ziehen.
Sollte nicht auch der geistig Starke und Gesunde fähig sein, den schwächeren Zeitgenossen diesen Dienst zu leisten?
Unsere Kultursprachen sind alle keine vollwertige Münze mehr. Kein Wort hat für unser Ohr den ursprünglichen Klang, der gleich das frische Bild vor die Augen zaubert; es ist schon viel zu viel damit gelogen, geheuchelt, geflunkert worden.
151 Deshalb hat man auch keine richtige Vorstellung von dem, was die Poesie der Griechen war. Wenn wir zum Beispiel »Rose« sagen, so taucht mit dem Bild der Blume auch schon dunkel die Erinnerung an all den sentimentalen Mißbrauch auf, der unempfundenerweise mit dem Namen getrieben worden ist, und macht das lebendige Bild der Blume blässer. Wie muß die Rose geleuchtet und geduftet haben, weit über alle Wirklichkeit hinaus, wie muß sich zu dem Leuchten und Duften noch ein magisches Klingen gesellt haben, als sie zum ersten Mal in verklärter Schönheit von Dichterlippen fiel. All dieses Leuchten, Klingen und Duften ist ihr verloren gegangen, seitdem ihr Name durch hunderttausende von Dichterlingen aller Nationen zur hohlen Metapher geworden ist. Es braucht die stärkste Vision des Dichters, damit ich von seiner Rose sagen kann: Dies ist die wahre Rose – und von seiner Nachtigall: Ja, dieser Vogel singt wirklich in seiner Seele.
Mit Worten, die etwas Abstraktes dem Stofflichen entnehmen, sieht es natürlich 152 noch viel schlimmer aus, weil das Stoffliche aus dem Worte geschwunden ist und nur der leere Begriff zurückgeblieben, der, seit seine konkrete Herkunft vergessen ist, sich die mißbräuchlichsten und sinnlosesten Anwendungen gefallen lassen muß.
Jeden echten Dichter treibt seine Wahrheitsliebe und seine starke sinnliche Vorstellungskraft, dem Wort seinen Vollgehalt zu bewahren. Aber sein weißes Unschuldskleid gibt ihm auch der Größte nicht zurück. Es müßten sämtliche Kultursprachen untergegangen sein und neue, jungfräuliche Sprachen aus dem Chaos heraufgestiegen, ehe eine neue Jugendherrlichkeit, wie sie einst die homerischen Gesänge besaßen, die Welt entzücken könnte.