Isolde Kurz
Florentinische Erinnerungen
Isolde Kurz

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Erdbebenerinnerungen

Auf der deutschen Erde, die ihre Kinder sicher trägt, werden nicht viele sein, die sich bei dem Untergang von Messina deutlich vorstellen konnten, wie dem Menschen zumute ist, wenn das, was er in einer Welt voll Unsicherheit als das einzig Sichere zu betrachten gewohnt ist, der Erdboden, plötzlich unter ihm wankt und schwankt. Wer lange Zeit in Italien gelebt hat, auch in den weniger bedrohten Landesteilen, pflegt dieses ganz elementare Grausen aus der Erfahrung zu kennen, denn völlig ruhig hält sich das gefesselte Ungetüm, das unter der Halbinsel angeschmiedet liegt, nirgends. Das erste Mal, dass ich an seinen Zuckungen erwachte – es war in einer Morgenfrühe zu Ende der achtziger Jahre in Florenz –, da schien es, als ob ein Schnellzug über mein Bett hinraste, von dem Boden und Scheiben zitterten. Es war ein kleines, wellenförmiges, ganz harmloses Beben, das nur durch die Plötzlichkeit, mit der man mitten im tiefsten Frieden an die schrankenlose Naturmacht erinnert wurde, ein grosses Staunen hervorrief. Aber das war nichts gegen die ungewöhnlich heftige Erschütterung, die 1895 Florenz heimsuchte, und der, wenn sie nur wenige Sekunden länger gedauert hätte, nach der Meinung der Sachverständigen die ganze Wunderstadt zum Opfer gefallen wäre.

366 Nie werde ich jenen 18. Mai vergessen. Es lag den ganzen Nachmittag ein unerträglicher Druck in der Atmosphäre. Grosse, weisslich-graue, dichtgeballte Wolken standen stundenlang ohne Bewegung über dem Talbecken. Ich erinnere mich deutlich, wie mich trotz der schwülen Hitze Frostschauer überliefen und dass ich an Kopfschmerz und nervöser Unruhe litt, die ich vergeblich durch Herumgehen zu beschwichtigen suchte. Später hörte ich, dass bei besonders sensiblen Naturen die Beklemmung, die auch ich empfand, sich zu einem unbegreiflichen Angstgefühl gesteigert hatte, während die Umgebung ganz unempfindlich blieb. Auffallend war das Verhalten der Tiere. Zehn Minuten vor Eintritt des Erdbebens gerieten die Pferde in den Ställen in Unruhe, und man hörte die Hunde auf den Strassen und Feldern heulen.

Es war schon dunkler Abend, ich sass allein mit meiner Mutter im Parterre einer hochgelegenen, völlig isolierten Villa beim Abendessen, und seltsam! – war's eine zufällige Gedankenverbindung (weil ich einmal gehört hatte, dass dem Haus ein Erdrutsch drohe), oder war's ein Vorbote des kommenden Ereignisses? – ich betrachtete eben die schwere Hängelampe über dem Tisch mit dem wunderlichen Gedanken: Wie, wenn diese Lampe von selbst zu schwingen 367 anfinge? dachte aber dabei keineswegs an ein Erdbeben, als urplötzlich unter unseren Füssen der Boden in wilde, stossende Bewegung geriet, alles schütterte und wankte, ein dumpfes Dröhnen unter uns, ein polterndes Krachen über uns – ich glaubte an ein Dynamitattentat. Es ist nicht zu sagen, wie gänzlich man sich in solchen Momenten in der Zeitberechnung täuscht, und wie unbegreiflich rasch die Phantasie arbeitet. Nach allem, was ich in dieser Zeit dachte und unternahm, hätte das Beben mindestens zehn Minuten gedauert, nach dem Seismographen waren es, wenn ich nicht irre, vier Sekunden. Allerdings hielt die Erschütterung der Mauern viel länger an als die unterirdischen Stösse, denn die Hälfte des Turmes kam krachend auf das Dach herunter, ein Kamin stürzte ein, während zugleich von den Zimmerwänden der Mörtel prasselte, schwere Bücher aus den Schränken flogen usw. Ich war gleich nach der Saaltür gestürzt, die unmittelbar auf die Plattform des Gartens führte und wollte öffnen, aber sie war schwer mit Eisenstangen verriegelt – zu unserem Heil, sonst hätten uns vielleicht im Freien die fallenden Steine erschlagen. Und noch immer wussten wir nicht, was vorging. In der Küche im Erdgeschoss befanden sich die beiden Aufseher der Villa, die einzigen lebenden Wesen, die das Haus 368 ausser uns zweien beherbergte. Bei ihnen, dachte ich, müsste etwas Fürchterliches vorgegangen sein, und von dorther erwartete ich das Eindringen einer Räuberbande oder dergleichen. Da geschah etwas, das – an sich unbedeutend – in diesem Augenblick den Eindruck des Schaurigen ins Unerträgliche steigerte: In dem grossen, leeren Hause, das abseits des Weges allein zwischen Gärten und Feldern lag, fingen auf einmal die Glocken, wie von unsichtbaren Händen gezogen, von selbst zu läuten an. Nun hielt ich die entsetzliche Spannung nicht länger aus; ich ergriff blindlings den nächsten schneidenden Gegenstand und wollte damit ins Erdgeschoss hinab dem erwarteten Schrecknis entgegen; da kamen die beiden Aufseher leichenblass und in den Knien wankend die Treppe herauf und fragten, was uns zugestossen sei. Sie hatten gleichfalls an ein Attentat geglaubt, und erst als man sich verständigt hatte, riefen alle gleichzeitig: Also ein Erdbeben!

Diese Ungewissheit über den wahren Vorgang war natürlich nur möglich, weil wir uns in den niedrigsten Räumen des Hauses befanden; in einem oberen Stockwerk wird niemand über ein Erdbeben von solcher Stärke im Zweifel bleiben.

In jener Nacht wiederholten sich die Stösse noch mehrmals, aber nur ganz schwach. Man hörte von der Stadt her das Lärmen und 369 Schwirren der aufgeregten Menschen, die sich auf den Strassen drängten oder im Freien kampierten, denn in den beschädigten Häusern war es nicht geheuer. Auch wir fanden es für gut, die Nacht in einem Ziegenstall zu verbringen; unsere Wächter legten sich mit geladenen Gewehren daneben, eine Schutzmassregel gegen Erdbeben, deren Zweckmässigkeit uns nicht recht einleuchtete. Ich fragte den Erschrockeneren von beiden, der noch den anderen Tag immerzu konvulsivisch schluchzte, wie er sich denn als Soldat im Kriege benehmen würde, wenn ihn schon ein Naturereignis so fassungslos finde. Der wackere Cesare meinte, im Kriege habe man doch seinen Offizier, der einem Mut einspreche, beim Erdbeben aber könne keiner dem andern etwas sein. Das war nun nicht gerade als Römer gesprochen, aber es zeichnete gut das hilf- und haltlose Entsetzen des Naturmenschen, wenn die Erde selber ihm untreu wird und ihn von sich abschütteln zu wollen scheint.

Wir verbrachten damals bange Stunden, bis der Morgen kam und wir die Gewissheit erhielten, dass Florenz noch stand und dass die in entfernten Stadtteilen wohnenden Angehörigen und Freunde unverletzt geblieben waren. Fast sämtliche Häuser hatten natürlich mehr oder weniger gelitten, der Dom hatte grosse Risse bekommen, 370 der herrliche Säulengang der Certosa war teilweise eingestürzt, und der Stolz der Florentiner, der Campanile, hatte so gewankt, dass man seitdem den mittägigen Kanonenschuss in einer anderen Richtung abfeuern muss, aber es gab keine Toten und nur wenige Verwundete. Die Menschen jubelten und umarmten sich, man war glücklich und gehoben: glücklich, dass man heil davon gekommen war, und stolz, ein so gewaltiges Phänomen aus der Nähe kennen gelernt zu haben. – Merkwürdig war es, im Morgengrauen die Stadt zu sehen. Das Viertel jenseits des Arno, das dem Herd des Bebens, Grassina, am nächsten war, glich einem Feldlager; die Leute hatten sich die Matratzen aus den Häusern geschleppt und schliefen zu Hunderten in den engen Strassen, dass man über sie wegsteigen musste. Andere hatten die Fiaker gestürmt und sich so weit wie möglich von der Stadt wegbringen lassen. Die Bewohner des arg mitgenommenen Galuzzo wollten gar nicht mehr in ihre Häuser zurück, sondern übernachteten während der ganzen schönen Jahreszeit in dem Barackenlager, das sie rasch erbaut hatten.

Neben dem Schaden, den der schlimme Seismos den Florentinern getan, hatte er auch neckische und sinnige Streiche gespielt. Ein Scholar war während eines Abendvortrags im Circolo 371 Filologico so wunderbar tief entschlummert, dass ihn der furchtbare Stoss gar nicht erweckte, sondern erst das Drängen und Flüchten der Menschen um ihn her. Er sah sich plötzlich inmitten einer Panik, deren Ursache ihm völlig dunkel war, und wurde im Saal und auf der Treppe von einem dem anderen zugestossen, ohne auf seine erstaunten Fragen eine Antwort zu bekommen. Da es ihm auf der Strasse, wo alles durcheinander rannte, nicht besser erging, so glaubte er, alle seine Mitbürger seien in einer Nacht wahnsinnig geworden. Ein junger Deutscher, der eben am Wirtstisch gründlichen Studien im Chiantiwein oblag, wurde mit einem Ruck zu Boden geschleudert und trollte sich hierauf gemütsruhig zu Bette, im festen Glauben, der Chianti habe ihm das getan. In einer uns befreundeten italienischen Familie, wo ein Todkranker von Mutter und Bruder gepflegt wurde, begann während des Bebens eine altmodische Spieluhr, die schon seit Jahrzehnten verstummt war, plötzlich einen wohlbekannten Walzer zu spielen und weckte so unter dem doppelten Schrecken des Augenblicks mit einemmal die Erinnerung an eine idyllische Kindheit.

Jener 18. Mai war für Florenz und Umgebung der Anfang einer Erdbebenperiode, die sich bis in den November hinein erstreckte. Die Fremden flohen in Scharen; auch viele Einheimische 372 verliessen die Stadt. Für uns Zurückbleibenden wurden in diesem Sommer die unterirdischen Zuckungen etwas Alltägliches, an das man sich am Ende gewöhnte. Wir fanden die alte Regel bestätigt, dass der erste Stoss der stärkste bleibt; aber man fühlte sich doch nach jeder ruhig durchschlafenen Nacht am Morgen von einem sonst unbekannten Dankgefühle durchdrungen:

»Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig.«

 


 


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