Isolde Kurz
Florentinische Erinnerungen
Isolde Kurz

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Edgar Kurz

Ein Lebensbild

Mag wider mich sich Unheil türmen,
Ich weiche nicht, ich denke still:
Zwei Worte trotzen allen Stürmen,
Es siegt mein Wahlspruch doch: ich will.

        (Aus den Jugendgedichten von Edgar Kurz.)

Als ich vor wenigen Monden die Lebensgeschichte meines längst dahingegangenen Vaters zu schreiben anhob, da ahnte ich nicht, dass es mir bestimmt sein würde, die meines Bruders Edgar, der auf der Höhe des Lebens stand, noch voranzuschicken. Vielmehr hoffte ich, dass in der Stille der Sommerferien der rastlos Tätige einmal Zeit finden würde, sich mit mir in die gemeinsame Vergangenheit zu versenken und meinen unvollkommenen Erinnerungen mit seinem eigenen vortrefflichen Gedächtnis nachzuhelfen. Es hat nicht sein sollen. Mitten aus Kampf und Arbeit wurde er herausgerissen, ein Opfer nie ermattender Berufstreue. Darum eile ich sein Bild festzuhalten, ehe die Asche der Zeit es verschleiert, denn eine so seltene und vorbildliche Gestalt gehört der Allgemeinheit an.

Zwar nahm er in der Welt eine weithin sichtbare Stellung ein, und sein Wirken war der Oeffentlichkeit in Deutschland wie in Italien wohlbekannt. Allein seinen ganzen inneren Reichtum machte erst der Tod offenbar: der Schweigsame hatte einen grossen Teil seines geistigen Ichs lebenslang für sich behalten. Als Mann der Wissenschaft und als Mann der Tat war er von den Freunden geehrt, von den Feinden gescheut. Man wusste auch, dass er mit seiner Person die höchste 156 Kultur vertrat, und man spürte wohl, wie er trotz der strengsten Wissenschaftlichkeit die Welt mit dichterischen Augen ansah, ein Zeichen, wie nahe in einer genialen Natur die Wissenschaft der Kunst stehen kann. Aber seine poetischen Erzeugnisse hielt er fast ganz geheim. Selbst in der Familie kannte man ihn fast nur als witzigen Gelegenheitsdichter, als feinen Uebersetzer und Sprachkünstler, von dem Lyriker in ihm wusste man so gut wie nichts. Erst sein Nachlass hat den Schatz zutage gefördert: viele Hefte mit Gedichten, gewissermassen ein poetisches Tagebuch, das er vom siebzehnten Jahre an führte. Sie bilden den Schlüssel zu seinem tief verborgenen, für die Umgebung oft so rätselvollen Wesen und zeigen ihn zum Teil als einen Nochniegekannten, so dass die Freude an dem Neugefundenen mitunter fast die Trauer um den Verlorenen zurücktreten lässt. Eine Auswahl der poetisch wertvollsten unter diesen Gedichten hoffe ich bald in einem Sammelbande der Oeffentlichkeit übergeben zu können.Diese Gedichte sind unterdessen im Herbst 1904 bei Cotta erschienen.

Vor allem aber liegt mir ob, sein Leben zu erzählen, das mir neben dem des Vaters fast wie eine Vergütung des Geschicks erscheinen will. Was Hermann Kurz einst einem neugeborenen Neffen als Wunsch in die Wiege legte, dass vor 157 ihm der alte Unstern des Hauses weichen und das Glück ihm gewähren möge, was es den Vorfahren umsonst verheissen hatte, das ist an seinem eigenen Sohne in Erfüllung gegangen. Zwar ein Glücklicher ist auch Edgar Kurz nicht gewesen – dazu fehlte ihm lebenslang die innere Ruhe – aber ein vom Schicksal ebenso wie von der Natur Begünstigter. Sein war, woran es dem Leben des Vaters so ganz gebrach, das äussere Gelingen. Viele Mächte vereinigten sich ihm das zu sichern: die glückliche Mischung des väterlichen Bluts mit dem der Mutter, die Gunst der Zeiten, die äusseren Verhältnisse, die schwierig genug waren, ihn zur Entfaltung seiner ganzen Energie zu spornen, aber doch nicht so schwierig, dass sie ihm wie dereinst dem Vater jeden Weg versperrten, vor allem aber sein Wahlspruch von Jugend an, die zwei Worte: »Ich will«, die ich als Motto über sein Leben setzen darf.

Edgar Konrad Kurz, Sohn des Dichters Hermann Kurz und der gleichfalls dichterisch begabten Freiin Marie von Brunnow, kam am 16. Januar 1853 in Stuttgart zur Welt als Erstling einer aus tiefer Neigung geschlossenen Ehe. Im ersten Lebensjahr befiel ihn eine Hirnentzündung, die ihn dem Tode nahe brachte und von der ihm während seiner ganzen Kindheit eine äusserst reizbare Konstitution zurückblieb, daher die zärtliche 158 Mutter ihn überängstlich hütete. Als ein auffallend schönes, fürstlich feines Kind wurde er auch gerne von ihr mit kostbaren Stoffen und anderen altvererbten Herrlichkeiten phantastisch aufgeputzt und überhaupt immer ein wenig anders behandelt als der jüngere kräftigere Nachwuchs. Das schöne vergeistigte Gesicht, der überstarke Glanz der Augen, die blendende Weisse der Haut, von der ein kleines blaues Aederchen zwischen den Augenbrauen, im Volksaberglauben »Kirchhofblümchen« genannt, sich auffallend abhob, liessen die Sorge um ihn nicht zur Ruhe kommen.

Allein wie die Begabung so trat auch der Wille frühzeitig an dem Knaben hervor. Sobald das Bewusstsein in ihm erwachte, lehnte er sich gegen das mütterliche Verweichlichungssystem auf, und es entspann sich ein viele Jahre dauernder, täglich erneuter Kampf um wollene Tücher, Schals und Mäntel, der jedesmal damit endete, dass das verhasste Wollenzeug zu Boden flog und der Knabe mit blossem Hals ins Freie lief. So früh begann er seinen von Natur zarten Körper zu stählen und zu jener zähen Widerstandskraft zu erziehen, die ihn in späteren Jahren als gegen jeden schädlichen Einfluss gefeit, als körperlich unangreifbar erscheinen liess.

Nicht lange blieb er allein. Schon nach elf Monaten war ich gekommen, den Platz mit ihm 159 zu teilen als ein lachendes kleines Stück Gesundheit; wir sassen einander im Kinderwägelchen gegenüber und teilten uns zuweilen unter Schreien und Strampeln, noch öfter aber in Eintracht und Freudigkeit die ersten Eindrücke vom Leben mit. Wir liebten uns zärtlich, erzählten uns unaufhörliche Geschichten und besassen eine Welt ganz für uns, zu der die Grossen keine Türe hatten.

Als das Lernen begann, da war es nur ein lustiger Wettlauf zu zweien unter den Augen der Mutter, zuerst nach dem Abc, dann nach Schillerschen und Uhlandschen Balladen oder lateinischen Deklinationen. Wir lebten damals wie Zwillinge, denn wir hatten nicht nur die gleichen Neigungen und Instinkte, sondern fast auch die gleichen Gedanken und dieses Tête-à-tête dauerte noch längere Zeit fort, als schon die jüngeren Geschwister sich kräftig mit ihren Eigentümlichkeiten nachdrängten.

Noch schöner wurde das Leben, als im Frühjahr [1859] die Familie nach Ober-Esslingen bei Esslingen übersiedelte. Dort verbrachten wir die Tage im Freien und badeten des Abends im offenen Neckar. Die Mutter machte uns mit den Gesängen der Ilias bekannt, und diese füllten nun für lange Zeit unsre Vorstellungswelt aus. Mit hölzernen Lanzen und goldschimmernden Helmen und Schilden aus Papier bewehrt, Sandalen an 160 den Füssen und Panzerhemden aus Leinewand auf dem Leib, so rasten wir unter Schall und Widerhall in dem grossen Garten und auf der Wiese umher, indem wir die Kämpfe um Troja aufführten. Wir bewegten uns ganz und gar in der Homerischen Gedankenwelt und der Homerischen Ausdrucksweise und glaubten fest an das, was wir vorstellten. Dieses Spiel, das von uns mit heiligem Ernst betrieben wurde, verwickelte uns in eine fortgesetzte, nicht ganz ungefährliche Feindschaft mit der ob so ungewöhnlichen Auftretens und Gebarens befremdeten Dorfjugend, und wir Geschwister – wir waren allmählich unser fünfe geworden, obwohl der Jüngste eigentlich noch nicht mitzählte – fochten Seite an Seite manchen wackeren Strauss für unser vermeintliches Griechentum aus, bis der Umzug nach Kirchheim u. Teck, wo eine Stadtwohnung gemietet werden musste, der schönen Zeit ein Ende machte. Aber diese Art, die grösste Dichtung aller Zeiten, nicht zu lesen, sondern selbst zu erleben, ganz so wie sie vor zweitausend Jahren die noch glücklicheren Griechenkinder erlebt haben mögen, blieb lebenslang für unsere ganze geistige Richtung entscheidend.

In Kirchheim wurde Edgar nach kurzem Privatunterricht in die Lateinschule geschickt, was ihn nun allmählich von der Schwester entfernte; 161 doch wirkte sein Lernen noch insofern auf mich zurück, als die Mutter seine Lektionen für sich nachstudierte und sie mir dann auf diese Weise eintrichterte, wobei freilich bei der Unregelmässigkeit dieses Unterrichts und meiner geringen Aufmerksamkeit zunächst nicht viel hängen blieb.

In der Schule unter den Kameraden stach nun die starke Begabung und die Frühreife des Knaben erst recht hervor, er war fast immer der Erste in seiner Klasse und setzte Lehrer und Mitschüler durch seine Fassungsgabe in Erstaunen. Das Schöne war aber, dass er gar kein eigentlicher Lernkopf und auch durchaus nicht besonders fleissig war, sondern indem er rasch auffasste und leicht kombinierte, entstanden durch eine glückliche Mischung von Phantasie und Verstand die Dinge in ihm von selbst. Sein feuriger und doch so stetiger Wille, seine innere Lebensfülle trieben ihn immer vorwärts. Neben der Freude an den klassischen Sprachen und der Poesie lag ihm der Sinn für die Naturwissenschaften im Blut. Er beobachtete mit leidenschaftlichem Eifer das Tierleben, und wo er tote Vögel, Katzen und dergleichen fand, nahm er sie mit nach Hause und sezierte sie. Doch das heftige und gefährliche Temperament liess ihn des Lebens nicht froh werden und hielt auch seine Umgebung beständig in Atem. Mit dem zweiten Bruder Alfred schlug 162 er immer erneute, grimmige Schlachten und versöhnte sich nur mit ihm, wenn es galt, gemeinsam gegen einen äusseren Feind vorzugehen. Die lange Fehde der beiden feindlichen Brüder liess die geängstete Mutter oft für die Zukunft das Schlimmste fürchten, aber kaum, dass beide herangewachsen waren, so schloss gemeinsame Berufswahl und herzliche Neigung gerade diese beiden aufs engste zusammen, und sie wurden sich gegenseitig für das ganze Leben die allertreuesten Freunde.

In Tübingen, wohin der Vater mittlerweile an die Universitätsbibliothek berufen war, absolvierte Edgar schon im Frühjahr 1870 das Gymnasium, was nur dadurch möglich war, dass er in Kirchheim zweimal eine Klasse übersprungen hatte, und trat nun in die Hochschule ein, als siebzehnjähriger Student von zarter mädchenhafter Schönheit. Er war damals klein von Wuchs und blieb es – zu seinem grossen Leidwesen – noch mehrere Jahre, da er erst nach dem zwanzigsten mit einem plötzlichen Schuss zu der erwünschten Höhe aufwachsen sollte. Seinen philologischen Neigungen folgend, in denen er auf dem Gymnasium von seinem trefflichen, durch die Sophoklesübersetzungen in weiten Kreisen bekannten Lehrer, Prof. Th. Kayser bestärkt worden war, liess er sich zunächst in der philosophischen 163 Fakultät immatrikulieren, aber schon im zweiten Semester wurde ihm der philologische Kleinkram zuwider, der alte Hang zu den Naturwissenschaften brach durch, und mit raschem Entschluss wandte er sich dem Studium der Medizin zu.

Ein glücklicher Genius hatte diese Wahl geleitet, denn hier war der rechte Boden für seine tatkräftige Natur, für die Eigentümlichkeit seines Geistes, der sich so glücklich aus durchdringendem, messerscharfem Verstand und reicher lebendiger Intuitionskraft mischte, wie auch für seinen starken Unabhängigkeitstrieb. Zunächst freilich war ihm das Studium nicht das Wichtigste, er wollte vor allem leben, erleben, sich ausleben, und dazu gab die studentische Freiheit allen Spielraum. Von dem Verbindungstreiben hielt er sich zwar fern, denn er hasste sein Leben lang alles Schablonenhafte, Uniformierende, aber er schuf sich einen nahen Kreis von Freunden, wie er es schon am Gymnasium getan hatte, denen er seine Interessen und Liebhabereien mitteilte und die er sich völlig unterwarf, denn das zwingendste Bedürfnis seiner Natur war zu herrschen, in allem der Erste zu sein. Unter Tollen der Tollste, zu jedem Streiche aufgelegt (wenn es nur kein plumper war), Gefahren herausfordernd, den Jünglingsfreundschaften mit Leidenschaft zugetan und der zuverlässigste Kamerad, aber doch immer von seiner 164 Umgebung unbefriedigt, immer suchend, sich selbst verzehrend, so steht er mir aus jenen Jahren im Gedächtnis. Sein Wesen war wie ein immer gespannter Bogen. Schon in jener Zeit begann er die aufreibende Lebenseinteilung, an der er bis zu seinem Ende festhielt: Tagsüber angestrengte gewissenhafte Tätigkeit, des Abends, ja die halbe Nacht hindurch, Geselligkeit und Lebensgenuss, den in späteren Jahren die mitternächtliche Studierlampe ablöste. Kam er spät bei Nacht aus der Studentenkneipe, wo er getollt, gezecht, gesungen und Verse improvisiert hatte, nach Hause und wurde von der Mutter mit ängstlichen Vorstellungen empfangen, so machte er spornstreichs kehrt und streifte bis zum Morgen im Freien umher oder er nahm wohl gar sein Waldhorn vom Nagel, um sich mit einem frischen Lied den Unmut von der Seele zu blasen, denn leidenschaftlich in seine Subjektivität versponnen, dachte er in solchen Fällen gar nicht an den Schrecken der Schläfer, die er aus ihren Träumen riss. Ganz anders gestaltete sich die Begegnung, wenn er bei so später Heimkehr statt auf die Mutter auf den Vater traf. Dieser nahm ihn ganz still mit sich hinauf in seine Mansarde, teilte mit ihm sein letztes Restchen Wein aus der Flasche und liess sich seine Studentenstreiche erzählen, dabei mit Heiterkeit der eigenen Jugend gedenkend.

165 Noch immer übten wir beide gegenseitig eine starke Wirkung aufeinander, sowohl durch die Gegensätze als durch die Aehnlichkeit. Aber wir standen uns in den Jahren zu nahe, denn das Mädchen entwickelt sich ja naturgemäss wenigstens bis zu einer gewissen Periode immer noch rascher als selbst der begabteste Knabe. Der Umstand, dass er herrschen musste und ich nicht zu beherrschen war, weil ich beim besten Willen so wenig wie er von meiner Persönlichkeit aufgeben konnte, beeinflusste die beiderseitige Entwicklung: wir wurden beide innerlich einsam. Dazu kam noch von beiden Seiten der Jugendehrgeiz, keine Empfindung zu äussern. Diese Scheu vor dem Wort als etwas Zudringlichem, Unedlem, blieb ihm lebenslang eigen, es war ein Zug, der vom Vater stammte, während sonst seine geistige Physiognomie vielfach das Gepräge von der Mutter hatte. Der Hang zum Aparten, ja Bizarren, den Adolf Hildebrand in seinem vortrefflichen NekrologBeilage der Allg. Ztg. vom 4. Mai. sehr richtig hervorhebt, war damals schon stark ausgesprochen, bei Antipathien ging er mitunter bis zur Idiosynkrasie und duldete keinen Widerspruch. So begann während seiner Gymnasialzeit bei grösster gegenseitiger Liebe zwischen uns ein leises Auseinanderrücken, das beiden innerlich schwer zu schaffen machte, das aber 166 vielleicht notwendig war, wenn beide sich frei auswachsen sollten. Wir suchten beide, suchten aneinander vorüber den verstehenden Gefährten. Nur dass er als der viel Illusionsfähigere auf Schritt und Tritt die blaue Blume der Freundschaft oder der Liebe gefunden zu haben glaubte und so von Enttäuschung zu Enttäuschung schmerzlich gerissen wurde, während ich von vornherein in meinem Phantasieland wie hinter einer Waberlohe eingeschlossen blieb. Doch in all den leisen unausgesprochenen Dingen, die sich von selber mitteilen, wie den heimlichen Untergründen der Sprache, den leisen Nebenschwingungen eines Worts, der magischen Tonwirkung eines Verses, der Lust an Sage und Volkslied fanden wir uns immer augenblicklich wieder, ja wenn er mitunter in mir den Hang der Phantasie zum Geheimnisvollen etwas schroff bekämpfte, so war es nur, weil er ihn im eigenen Blute fühlte und ihn der exakten Wissenschaft zuliebe unterdrücken musste. Das zeigt sich an den vielen von ihm gedichteten Gespensterballaden, worin sich eine burleske Komik oft mit echtem Grausen mischt.

In seine heimlichen poetischen Versuche liess er mich so wenig blicken, wie ich ihn in die meinigen. Wohl aber überraschte er seine Angehörigen dann und wann durch höchst gelungene 167 Gelegenheitsgedichte mit witzigen Pointen und Anspielungen oder es drang wohl auch aus seinem Freundeskreis mitunter ein solches kommersbuchartiges Produkt von ihm in die Familie. Immer fiel dabei sein erstaunliches Form- und Reimtalent, der kecke und virtuose Tanzschritt und -sprung seiner Sprache auf, aber er schien diese Gabe nur für den momentanen schlagenden Kneipenwitz oder sonst für den Anlass des Augenblicks zu benützen. So trat er jedesmal bei des Vaters Geburtstag mit einem heiteren Glückwunschgedicht hervor, das er dem jüngsten Bruder Garibald in den Mund legte und worin dessen Ruf- und Kosenamen Balde zu den lustigsten Reimkombinationen verwendet war; das Namenreimen blieb immer seine besondere Stärke. Seine ernsteren Eingebungen aber verheimlichte er auch vor den Eltern aufs strengste. Es war eine Ueberraschung, als einmal bei gelegentlichem Ausräumen der Zimmer ein ganz mit Versen vollgeschriebenes Heft in die Hände der Mutter fiel. – Merkwürdig war es dabei, dass er gerade die grösste Sicherheit und Freiheit in solchen künstlichen Formen zeigte, die er eigentlich nicht leiden konnte. Er hasste z. B. das Ghasel, die Makame (und wenn er hasste, so war sein Hass gründlich!), aber er wetteiferte mit Rückert in der hinreissenden Handhabung dieser Formen. 168 Mit glücklichem Takt gebrauchte er sie jedoch fast bloss zur Satire, zur Travestie, und so schien alles immer nur auf einen guten Witz hinauszulaufen. Er konnte sich gegen seine Mutter, die die orientalischen Formen wegen ihrer technischen Schwierigkeiten bewunderte, heftig ereifern, wie er überhaupt in Geschmacksfragen eine Abweichung sehr ungern duldete; die armen Ghaselen wurden dann sein Stichblatt, das er gar nicht mehr losliess, und um ihre rechte Nichtswürdigkeit zu erweisen, fabrizierte er sie sogleich zu Dutzenden – aber ganz vortrefflich! Gelten liess er eigentlich nur die ganz schlichten und naiven volksliederartigen Weisen, in denen es ihm selber damals noch nicht gelang originell zu sein, vielleicht, weil sie eine grössere Vertiefung und Erweiterung des Persönlichen zum Allgemeinen erfordern, als es sein starkes Augenblicks- und Ichgefühl ihn zu jener Zeit erschwingen liess; wogegen er dann später gerade im Volksliederton sein Gelungenstes geben sollte.

Wir junges Geschlecht hatten in Tübingen keine leichte Stellung. Es ging in unserm Hause so ganz anders zu als anderwärts. Denn die Mutter, die mit den Traditionen eines alten Adelsgeschlechtes gebrochen hatte, war nicht geneigt, sich dafür den bürgerlichen Vorurteilen zu beugen, und die Frage, wie ihr Erziehungssystem 169 den lieben Nachbarn gefalle, war ihre geringste Sorge. Die Universitätsstadt aber war damals ausserhalb der akademischen Kreise (und auch innerhalb derselben, so weit es das weibliche Geschlecht betraf) noch etwas rückständiger als die übrigen Landesteile. Unser ganzes Sein und Treiben konnte also nur die tiefste Missbilligung erwecken. Diese Missbilligung warf sich aber nicht auf den Vater, der allen eine schweigende Ehrfurcht einflösste, auch nicht auf die Mutter, die man einfach nahm wie sie war, sondern ausschliesslich auf die Kinder, die in einer so ungewöhnlich scheinenden Weise erzogen wurden. Den Brüdern schuf das im ganzen wenig Not. Wurden sie bedrängt, so schlugen sie drein, bis sie sich Frieden erzwangen. Daher kühlte das Philisterium sein Mütchen noch lieber an der Schwester, der ihr Geschlecht verwehrte, sich solche Erleichterung zu schaffen. In solchen Fällen trat die verborgene Zusammengehörigkeit, besonders der zwei ältesten Geschwister hell zutage: der Bruder fühlte deutlich, dass er in der Schwester seine eigene Welt zu verteidigen hatte.

Als ich nun gar die Reitschule der Universität zu besuchen begann und dieses frevlerische Unterfangen den Groll gegen mich auf höchste steigerte, da fand ich in dem ritterlichen Bruder meinen besten Kämpen. Er war schon 170 immer gerne geritten, obwohl eine zweimal gebrochene und schlecht verheilte Kniescheibe ihm bei allen körperlichen Uebungen Schwierigkeiten machte, jetzt nahm er gleichfalls sorgfältigen Reitunterricht, und wir ritten nun zusammen aus, ohne nach dem Grimm der Nachbarn zu fragen.

Unvergesslich bleibt mir ein solcher Ritt, bei dem wir die ganze Nacht im Sattel verbrachten. Wir ritten in früher Abendstunde zu dreien – denn ein anderer lustiger Gesell hatte sich angeschlossen – von Hause weg, durchstreiften unter allerlei heiteren Zwischenfällen die nahen Ausläufer des Schwarzwalds bis zum Bade Immnau, wo uns Tanzmusik empfing; dort führten wir die Pferde in den Stall ohne abzusatteln, tanzten selbst wie wir gingen und standen, die Herrn mit Sporen, ich im langen Reitkleid, ein paar Quadrillen mit, stiegen dann wieder zu Pferd, und heimwärts ging es durch die stillen mondbeschienenen Täler und Bergwälder, längs der murmelnden Schwarzwaldbäche hin, an schlafenden Dörfern vorüber, wo der Hufschlag unserer Pferde die Hunde aufweckte, bis wir kurz vor Sonnenaufgang die Stadt erreichten, trunken von Naturpoesie, Jugendkraft und einer köstlichen, alle Nerven ausspannenden, taumelerregenden Ermüdung. Und auch das unerfreuliche Nachspiel, das der 171 schönen Nacht folgte, löste sich durch Edgars Eingreifen in Heiterkeit auf. Das schwächere Damenpferd hatte nämlich, so anhaltender Leistung ungewohnt, einen Satteldruck davongetragen, der Pferdeverleiher war wütend und drohte mit einem Prozess. Da übernahm der junge Mediziner selbst die Behandlung des Tieres und schon wenige Tage später konnte er mir nach München, wohin ich unterdessen gereist war, in einem, ich weiss nicht aus welcher Laune, lateinisch geschriebenen witzigen Brief die gelungene Kur des Pferdes und den glimpflichen Ausgleich mit dem Bereiter mitteilen. Erst kürzlich geriet mir dieser Brief unter alten Papieren wieder in die Hände und hat mir die halbvergessene Episode aufs neue lebendig gemacht; sie fiel übrigens schon in die Zeit nach unseres Vaters Tode.

Die Fachstudien, die häufigen Freundschafts- und Liebesbande, das ganze ziellose Jugendschwärmen vermochten aber dieses heisse Herz nicht zu befriedigen. Er brauchte noch ein grösseres Ideal, für das er sich einsetzen konnte, und so begann er in sehr früher Jugend auf Anregung eines französischen Freundes, der bald darnach im Kommuneaufstand eine Rolle spielen sollte, sich mit der sozialen Frage zu beschäftigen. In den auf den siebziger Krieg folgenden Jahren führten ihn sein Idealismus, seine ritterliche 172 Teilnahme für die unterdrückten Klassen, vor allem der Abscheu gegen das allmählich sich breitmachende Geldprotzentum in die Reihen der sozialistischen Partei. Doch blieb er bei allem Demokratismus ganz wie der Vater immer von Herzen Aristokrat und war im Grunde mit seiner innern Selbständigkeit und seinem verletzlichen Feingefühl so wenig wie dieser für das Parteileben geschaffen. Er zog sich auch mit der Zeit wieder auf sich selbst zurück in der Erkenntnis, dass seine Aufgabe anderswo lag, aber nicht ohne dass ihm bureaukratischerseits die damals noch stark verpönten sozialistischen Tendenzen heimlich ins Wachs gedrückt worden wären, was er zwar in stolzer Unbekümmertheit missachtete, was ihm aber doch eine Reihe von Schikanen zuzog, die auch in sein späteres Leben noch dann und wann herübergriffen.

Seine innere Unruhe und die absolute Subjektivität seiner Auffassung in den persönlichen Verhältnissen machten ihn für die nächste Umgebung oft ausserordentlich schwierig. Denn die Stärke des Lebensgefühls steigerte sich bei ihm zum Schmerz, zur Qual, oft wurde die Spannung so gross, dass er aus Ueberfülle des Lebens die Ruhe der Toten beneiden musste. In einem Jugendgedicht schildert er einen nächtlichen Besuch auf dem Friedhof. Er sieht dort »die kleine Lust, das 173 grosse Weh zu End«, aber kein Friede weht ihn an:

»Kein Todesschauer dämpft den Lebensmut,
Noch heisser über Gräbern kocht mein Blut.
Wer kühlt die mich verzehrt die wilde Glut?
Wie glücklich sind die Toten!

Schon die Vielseitigkeit seiner Anlagen brachte ein beständiges Ringen und Wühlen in seinem Innern hervor: Welten die sich bekämpften. In einem andern Jugendgedicht schildert er, wie er in solchen Momenten zur Schenke muss, die Kämpfenden mit Wein begiessen, damit sie untereinander Frieden halten. Noch lieber aber sucht er sich einen äusseren Feind, und indem er gegen diesen alle seine Kräfte einsetzt, wird er ein in sich selber Einiger, geniesst er für einen Augenblick die Wohltat der Harmonie:

Denn der Kampf das ist mein Leben,
Und im Kampfe find' ich Ruh.

Immer wieder in unzähligen Variationen kehrt in den Gedichten aus jener Periode der Wunsch wieder, dieses kochende Blut im Kampf, im Pulverdampf für eine heilige Sache zu verspritzen, vorher aber noch alle Reize, alle Wonnen des Daseins auszukosten. Und er hat sie gekostet wie wenige. Wie eine Flamme zuckte er durch das Leben, rastlos und unstet, die Gegenstände seiner Leidenschaft mit raschem Feuerschein 174 beleuchtend, nicht erhellend, denn dies glühend erfasste Leben in seinen Armen verwandelt es sich fort und fort in Phantasmagorie, in Traumbild, in ein heilig-ernst genommenes Spiel. Die Frauen, die er rasch geliebt und rasch besungen hat, er konnte sie wohl selber im Lauf der Jahre nicht mehr zählen, aber immer sind es dieselben Züge, ein Phantasiebild, dem er rastlos nachjagte, die eine ideale Geliebte, die er in hundert Verkleidungen zu finden glaubte. Denn im Gefühlsleben, im Genuss wollte er ganz Dichter, nichts als Dichter sein. Derselbe Geist aber verwandelte sich merkwürdig, sobald er einen Augenblick stille hielt, um eine Sache zu ruhiger Untersuchung vorzunehmen: welche Schärfe des Blickes dann, welche genaue Beobachtung, welche intuitive, durch keine Zweifel beirrte Sicherheit des Urteils. Das Problem gewährt ihm die innigste Lust, denn er weiss, es muss seinem Verstande weichen.

Auch die Freude an der Mechanik, der er zeitlebens nachging, gehört zu seinem geistigen Bilde. Schon als Knabe war er an keiner Maschine vorbeizubringen, bevor er ihre Konstruktion sich klar gemacht hatte. Und so blieb er. Mehr als über die gelungenste Kur konnte er sich auch in reifen Mannesjahren freuen, wenn er irgend einen schwierigen Apparat repariert hatte, mit dem die florentinischen Mechaniker nicht zuwege kamen; 175 und zu solchen Gefälligkeiten gab er sich für jedermann her. Die elektrische Leitung in seinem Hause legte er selbst, und wenn er von einer neuen Erfindung hörte, verbiss und verbohrte er sich darein und liess nicht ab, bis er die Sache ergründet hatte. Daher er sich über solche Dinge ärgerte, die immer noch ein Fragezeichen zurücklassen, wie die metaphysischen Gebiete, die er nie betrat; alles, wo er nicht hoffen konnte, ganz auf den Grund zu kommen, liess er missmutig abseits liegen. Dafür hielt sich die unterdrückte Phantasie gern in seinen Träumen schadlos und liess ihn da oft genug die seltsamsten Dinge aus den von ihm so heftig bekämpften übersinnlichen Reichen erleben. Einen solchen Traum, der in seine letzten Lebensjahre fällt, kann ich mir nicht versagen, hier einzuschalten, da er sein ganzes Wesen mit allen Schattierungen so deutlich darstellt.

Ihm träumte, er befand sich am hellen Nachmittag in Florenz auf seinem Sprechzimmer, als ein sehr unerwarteter Besuch ins Zimmer trat: ein auf Urlaub befindlicher preussischer Offizier, der vor kurzem an einer Duellverwundung gestorben, dann von ihm obduziert und zu Grabe geleitet worden war. Der Verstorbene, der seine Kopfnaht unter einem schwarzseidenen Mützchen verbarg, trat mit der chevaleresken Art, die ihm im 176 Leben eigen war, auf seinen Arzt zu und bat, einen ihm gehörigen Gegenstand an sich nehmen zu dürfen. Es war dies sein Herz, das in Spiritus auf einem Schränkchen stand. Der Arzt, noch viel mehr beleidigt als entsetzt über diesen Bruch der Naturordnung, suchte dem Gespenste aufs energischste klar zu machen, dass es gar keine Möglichkeit und somit auch kein Recht habe, hier zu sein, weil ja, abgesehen von dem zuvor schon eingetretenen Tode, die blosse Abwesenheit dieses Muskels ihm alle und jede Verrichtung, somit auch das Wiederkommen und das Einfordern desselben verbiete. Der Revenant aber lächelte überlegen und sagte mit spöttischem Nachdruck: »Ja, lieber Doktor – Eigenschwingung der Gewebe!!« – Von diesem niegehörten Wort, das ganz neue Gesichtskreise zu eröffnen schien, blieb der Arzt einen Augenblick erschüttert und gelähmt. Der Tote wollte schnell den Moment ersehen, sein Eigentum an sich zu bringen, da warf jener sich dazwischen, sie wurden handgemein, in der Erbitterung riss Edgar seinen Degen von der Wand, das Gespenst, jetzt mit einem Male auch bewaffnet, parierte, und ein furchtbarer Kampf entspann sich, wobei der Tote eine klaffende Schädelwunde erhielt, aus der aber kein Blut floss und die ihn auch nicht im geringsten zu belästigen schien. Er sagte nur 177 kalt: »Das wäre mir im Leben auch nicht passiert«, und drang noch heftiger auf seinen Arzt ein, der gerade am Erliegen war, als der Eintritt einer jungen Dame, die in jener Zeit täglich zur Sprechstunde kam, dem entsetzlichen Ringen ein Ende machte. Voll Verwunderung rief sie: »Ach, Herr Leutnant, es heisst ja in der Stadt, Sie seien gestorben.« – Dieser hatte sich gleich mit der Hand an der Mütze in Positur geworfen, wobei er zugleich die Defekte seines Schädels verdeckte. »Das war nur ein Gerede, gnädiges Fräulein, beunruhigen Sie sich nicht,« sagte er höflich und verschwand mit einer tiefen Verbeugung, der Schläfer aber erwachte an den Strahlen der Morgensonne.

*

Frühzeitig sollte sich auch für Edgar der Jugendhimmel trüben. Erst begann das lange Leiden des jüngsten Bruders, bei dem sich aus wiederholten Anfällen von schwerem Gelenkrheumatismus allmählich ein Herzfehler entwickelt hatte. Der junge Mediziner teilte sich mit dem Hausarzt in die ärztliche Ueberwachung des Kranken. Die Gefahr, die täglich über dem lieben jungen Haupte hing, der Anblick der geängsteten Mutter, die sich in sorgender Pflege aufzehrte, liess auch ihn, den mit vollen Segeln Fahrenden, schon in jungen Jahren den Ernst des Lebens spüren. 178 Dann, am 10. Oktober 1873 entriss uns ein jäher Tod den Vater. Was damals in des Sohnes Seele vorging, hat sein Tagebuch jetzt verraten: »Ich blieb die halbe Nacht bei dem Toten«, schreibt er am 11. Oktober, »ich redete immerfort mit ihm, es war wie ein wirrer Traum. Ich weiss nicht mehr, was ich ihm versprochen habe, aber was ich halten werde, das weiss ich.«

Dieses Gelübde, wie es auch geklungen haben mag, er hat es in Ehren gelöst. Gleich zu Anfang des neuen Jahres trat er die Prüfungen an, die vom Januar bis zum Juli dauerten und mit dem schönsten Erfolg bestanden wurden, ging dann noch ein paar Monate zur weiteren Ausbildung nach Prag und Wien, erhielt im September desselben Jahres sein Doktordiplom und übernahm nach seiner Rückkehr die Assistenzarztstelle an der geburtshilflichen Klinik Professor Säxingers, wo der einundzwanzigjährige Dozent grösstenteils Schüler hatte, die viel älter waren als er selbst; auch sein jüngerer Bruder Alfred sass dort unter seinen Zuhörern. So rasch diese Laufbahn war, in der er trotz des Semesters Philologie alle Mitstrebenden überholt hatte, sie fiel eigentlich in der Familie niemand auf: man hatte es gar nicht anders erwartet.

Immer ruhelos und hastig, dabei nie sein Ziel verfehlend, so schien der Jüngling ganz nach 179 aussen zu leben. In seinem geheimen Innern aber war er ein völlig anderer. Da lebten ganz in die Tiefe zurückgedrängt das starke Liebesbedürfnis, die Zärtlichkeit, die nie auf seine Lippen trat. Aus dem ersten Jahr nach des Vaters Tode stammt das schöne auf dessen Geburtstag verfasste Gedicht.

Andreastag
1874
An diesem Tage pflegt ich sonst vor Jahren
Ein kleines Lied dem Bruder zu diktieren,
Das er gutmütig ohne alle Ahnung
Des Spottes, der darin ihn neckend zauste,
Mit kindischer Hand für unsern Vater schrieb.
Wie freute ihn der Reime lustig Klingeln,
Und ach, wie herzlich lacht' er ob dem Tanz,
Zu dem ich zwang des kleinen Bruders Namen.
Jetzt schweigt der heitern Reime klingend Spiel,
Jetzt schweigt das liebe Lachen, das so oft
Mit freudiger Rührung meine Brust erfüllte,
Und alles ist so anders, traurig anders.
Nur schmerzliche Erinnerung bleibt zurück
An jene Zeit, die niemals wiederkehrt.
Vergangenheit verdeckt sie und ein Grab.
Tot ist der Vater und der Bruder krank.
Ich selbst, ich wandle schweigend wie im Traum,
Ich weiss nicht, ob ich krank bin oder tot.

180 Aus besonderer Vergünstigung konnte er seine Stellung an der Säxingerschen Klinik dem Brauch entgegen zwei Jahre hindurch bekleiden. Wäre es nach seinen Wünschen gegangen, so hätte er sich nun als Dozent habilitiert, aber die pekuniären Verhältnisse gestatteten es nicht. Und da die Gründung einer Praxis etwa in Stuttgart oder sonst einer grössern Stadt des Schwabenlandes, wo die Konkurrenz stark war, gleichfalls Mittel erforderte, die er nicht besass, so war er vor die Wahl gestellt, entweder als Bauerndoktor aufs Land zu gehen oder in der Fremde sein Glück zu versuchen. Gerade war in einem kleinen württembergischen Städtchen, ich glaube Plieningen, die Stelle des Arztes freigeworden. Edgar begab sich also dorthin und stellte sich dem Schultheissen vor, um das Terrain zu rekognoszieren. Dieser betrachtete den schmächtigen Jüngling, der sich ganz nach eigener Laune trug, und meinte dann kopfschüttelnd zu seinen Bauern: »Die Haar' sind zu lang und das Röckle zu kurz.« Als dieser Ausspruch dem Bewerber zu Ohren kam, da war der Würfel gefallen. Er wollte sich kein zweites Mal von einem schwäbischen Schulzen beaugenscheinigen lassen und durchgreifend, wie er in allem war, schüttelte er ohne weiteres den Staub der Heimat von den Füssen. Statt Plieningen hiess es nun Florenz! Gesegnet seist du, biederer 181 Schulz von Plieningen, blindes Werkzeug einer gütigen Vorsehung!

Um jene Zeit wohnte ich bereits mit meinem Bruder Erwin, der an der Akademie studierte, in München. Dort besuchte uns Edgar im Frühjahr 1877 auf der Durchreise nach Italien, und liess sich mit unserm Freundeskreise bekannt machen. Zum Bleiben war er aber nicht zu bereden, er sah schon mit Klarheit den Stern, der ihm auf ausserdeutschem Boden winkte. Zwar wäre er am liebsten nach Konstantinopel oder einem noch ferneren Stück Orient gegangen, aber seine Zukunft war an den schwerleidenden jüngsten Bruder gebunden, für den ein geeigneter Aufenthalt gesucht werden musste, weil er keinen Winter in Deutschland mehr ertragen hätte. So fiel die Wahl auf die milde und zugleich für europäische Bedürfnisse eingerichtete Arnostadt.

Ein glücklicher Stern hatte ihn hieher geführt. Gleich an das erste Auftreten des Vierundzwanzigjährigen knüpfte sich der Erfolg in einer fast wunderbaren Weise. In der russischen Kolonie war ein wenige Monate altes Kind, das die Nahrung nicht behalten konnte und bereits von den ersten medizinischen Notabilitäten für verloren erklärt war. Der junge deutsche Arzt wurde zugezogen. Er liess sich durch den Umstand, dass fast alle kleinen Kinder Milch erbrechen, nicht 182 von einer genauen Untersuchung der ausgeworfenen Flüssigkeit abhalten, und da er die erbrochene Milch mehrere Stunden, nachdem sie getrunken war, völlig frisch und süss fand, schloss er mit Sicherheit, dass diese Milch den Magen überhaupt nicht erreicht haben konnte, sondern unterwegs aufgehalten worden sein musste. Daher stellte er durch Ausmessung der Speiseröhre das Vorhandensein einer sackartigen Erweiterung derselben fest, die den grössten Teil der Nahrung zurückbehielt, bevor er in den Magen gelangen konnte. Es verfing ihm nichts, dass bei der Konsultation zwei namhafte Professoren von der chirurgischen Klinik sich über den jungen deutschen Kollegen, der das Gras wachsen hören wollte, lustig machten und die Diagnose dieses äusserst seltenen, kaum je am Lebenden nachgewiesenen Phänomens ablehnten, sondern bestimmte auch die Lage des Anhängsels beim Eingang des Magens und fertigte eine genaue Zeichnung davon an. Seine Klarheit und Festigkeit gewannen ihm das unbedingte Vertrauen der Familie, und der Fall wurde ihm allein übergeben. Wie nun für jede geniale Leistung die Mitwirkung des Charakters nötig ist, so trat auch bei ihm die unendliche Gewissenhaftigkeit dem Scharfblick zur Seite. Lange Zeit hindurch entleerte er regelmässig mit der Sonde aufs sorgfältigste die aufgefangene Nahrung aus 183 dem Sack, bis dieser sich allmählich von selbst verkleinerte. Das russische Kind, das damals von den Aerzten aufgegeben war, ist heute eine glückliche, blühende Frau, der ihre Abnormität nicht mehr viel zu schaffen macht. Jene Erweiterung der Speiseröhre wurde aber noch im Jahre 1895 in Heidelberg durch die Röntgenstrahlen bestätigt und Prof. Czerny fertigte eine Zeichnung davon an, die völlig mit den von Edgar Kurz im Jahre 1877 gemachten Angaben übereinstimmt.

Es war dies das erste Beispiel jener raschen Kombination und unbeirrbaren logischen Konsequenz, womit er bei der Diagnose verfuhr, sowie der durchgreifenden Energie, die er sich auf dem fremden Boden bewahrte, ohne je mit dem damals landesüblichen Schlendrian in medizinischen Dingen zu paktieren. Der erste Fall wurde auch gleich für seine ganze Stellung entscheidend. Denn es versteht sich, dass die sehr begeisterungsfähige russische Damenwelt den genialen jungen Arzt mit glühender Bewunderung umgab, die sich auch der deutschen Kolonie mitteilte. Seine natürliche Zurückhaltung und dass er über die Fälle seiner Praxis so wenig Worte machte wie über seine eigene Person, das erhöhte noch den wohltuenden Eindruck, der von ihm ausging.

Schnell verbreitete sich sein Ruf. Der damalige deutsche Konsul Schmitz, eine angesehene 184 Persönlichkeit, wollte den jungen Arzt für die ersten Sommerwochen auf seiner berühmten Rosenvilla bei Careggi haben, von wo er ihn täglich in seinem Wagen nach der Stadt führte. Das gab ihm gleich auch äusserlich eine gewichtige Stellung. Freilich, die Fremden in den Gasthöfen machten grosse Augen, wenn im Krankheitsfalle ein schlankgebauter Jüngling mit feinem, noch ganz bartlosem Gesicht und zarten Wangen, auf denen das Blut mädchenhaft kam und ging, ins Zimmer trat, denn so jung er war, er sah noch jünger aus, und besonders wo es sich um weibliche Patienten handelte, musste ihn zuweilen die Wirtin begleiten, um seine Identität zu bezeugen, denn die Kranken meinten, man habe ihnen einen Studenten in den ersten Semestern geschickt. Aber sobald man ihn am Werke sah, verstummte jeder Zweifel, seine unwiderstehliche, geräuschlose Sicherheit teilte sich den Kranken mit, die sich bei ihm geborgen fühlten.

Sobald er festen Fuss gefasst hatte, kehrte er nach Tübingen zurück, um Mutter und Bruder abzuholen. Ich schloss mich an, vom Zauber des Südens gelockt, auch unsere alte Josephine begleitete uns, die Getreue, in deren Armen der Vater verschieden war, eine edle Gestalt von heroischer Treue wie die chorführenden Dienerinnen aus der griechischen Tragödie, die ihr Geschick 185 nicht von dem der Gebieter trennen. Schon siebzigjährig folgte sie dem Jüngling, den sie als Kind gepflegt, dessen Mutter sie schon auf den Armen getragen hatte, nach dem fremden Lande, wo sie die Sprache nicht verstand, mit der Gewissheit, ihre Heimat und die eignen Familienangehörigen nicht wieder zu sehen.

In der ersten Septemberwoche kamen wir nach Florenz. Die Hitze war – wenigstens für unsre damalige Empfindung – beängstigend, die Stadt, in die wir des Abends bei Laternenschein einfuhren, schien uns wie ein Dampfkessel zu qualmen, aber über den neuen, so ganz südlichen Eindrücken des höchst originellen nächtlichen Stadtbildes, vergassen wir alle schnell das Ungemach. Edgar spürte es nicht einmal, er war schon völlig akklimatisiert, denn er hatte sich durch frühzeitige Abhärtung gegen klimatische Einflüsse ganz unempfindlich gemacht. Auch in den heissesten Mittagsstunden, wo die Häuser hinter geschlossenen Jalousien träumen und, wie der Florentiner sagt, nur cani e Inglesi über die Lungarni gehen, war er unermüdlich unterwegs, teils um die Stadt zu besichtigen, teils um nach seinen Kranken zu sehen.

Die ersten Jahre seines florentinischen Aufenthalts waren die freudigsten, siegreichsten seines Lebens. Die Fremdenklientel fiel ihm unbedingt 186 zu. In seiner dreifachen Stellung als innerer Arzt, Chirurg und Gynäkolog war er jedem noch so verwickelten Falle gewachsen. Sein grösstes Verdienst in jener Zeit war die von ihm erfundene und eingeführte Behandlung des Puerperalfiebers durch Desinfektion, womit er Tausenden von Wöchnerinnen im Lauf der Jahre das Leben rettete. Vergöttert wurde er von denen, die ihn am Bette der Schwerkranken, oder als Chirurgen, als Gynäkologen kannten; dagegen die eingebildeten Kranken oder solche, die, mit leichten Uebeln behaftet, sie gerne schwer genommen sehen, selten mit ihm zufrieden waren. Seine eigene eiserne Energie im Gesundseinwollen machte ihn gegen solche kleine Leiden gleichgültig, fast unduldsam – die Unpässlichkeiten, die ihn selbst befielen, wurden ja immer stehend und gehend abgemacht. Das Professionelle seines Berufes war seiner feinen Natur überhaupt zuwider. Seine Krankenbesuche beschränkte er auf das notwendigste, um die kostbare Zeit nicht zu verschwenden, aber wo der Fall es erforderte, gab er sich ganz hin, opferte Zeit und Kraft ohne alle Nebenrücksicht, auch für die Aermsten. Je schwieriger und gefährlicher der Fall, desto mehr schärfte sich sein Blick, spannte seine Energie sich an und durchdrang sich die ganze Seele mit genialer Liebesfülle. Er verlangte alsdann völlig freie Hand, die Verantwortung 187 wollte er mit niemand teilen. Nie sprach er eine ungünstige Prognose aus, und er verübelte es andern, wenn sie einen schlechten Ausgang prophezeiten; es war ihm, als müsste die Siegesgewissheit den Tod selbst bezwingen, und immer kämpfte er fort bis zum alleräussersten. War die Rettung unmöglich, so blieb er wenigstens zugegen und kürzte furchtlos die letzte Pein ab, daher es manchem hoffnungslos Leidenden zum letzten Wunsche wurde, unter diesen stillen Händen leicht und schmerzlos zu verscheiden.

Die unzähligen Nächte, die er an Krankenbetten durchwachte – denn bei schweren Fällen hielt er Tag und Nacht aus – haben sein Haar vor der Zeit weiss gemacht. Es gab alsdann weder Hunger noch Durst noch Schlafbedürfnis, der Körper hatte keine Rechte mehr über ihn, in den kurzen, raschen Bewegungen seiner feinen höchst originellen Hände, in dem gespannten, aber immer leuchtenden Blick war sein ganzes Ich konzentriert. Was er in solchen Nächten durchlebte, erfuhr man niemals von ihm selbst, nur an einem freudigen Zucken seines Mundes erkannte man, dass ein Menschenleben gerettet war, und an der Zerrüttung seiner Züge, dass er einem Toten die Augen zugedrückt hatte. Denn niemals stumpfte er gegen den Anblick menschlichen Leides ab, wie es sonst den Aerzten geschieht; ja in späteren 188 Jahren nahm sogar die Empfindsamkeit seiner Seele noch zu, wie sehr er sich auch hütete, sie zu zeigen. Als Böcklin starb, den er solange gefristet hatte, traf ihn dieses Leid gerade auf seinen Geburtstag. Als ich am Morgen zu ihm kam um eine kleine Gabe zu bringen, fand ich ihn mit einem ganz zerfallenen Gesicht, als ob er in Böcklins Sterbenacht um zehn Jahre älter geworden wäre, aber des Vorgefallenen durfte mit keinem Worte gedacht werden; man sprach jenes Tages nur von Literatur. Ueberhaupt erzählte er nie von den Vorgängen seiner Praxis, am wenigsten von denen, die ihn gerade beschäftigten. Nichts verargte er den Freunden mehr, als wenn sie im geselligen Verkehr etwas Medizinisches aufs Tapet brachten; er wollte in solchen Stunden die Profession vergessen, sich in künstlerischen Interessen reinbaden.

Mitteilsam war er überhaupt niemals. Wenn er von Reisen kam, auch in jungen Jahren, ging er sofort wieder an seine Geschäfte und es war nicht möglich, ihm ein Wort über das Gesehene zu entlocken. Was man von ihm wissen wollte, musste man wie mit Zangen herausholen. Aber unter der Zurückhaltung vibrierte es beständig. Wenn zufällig ein Wort fiel, das ihn anregte, dann sprudelte die innere Lebendigkeit aus ihm hervor, als ob ein Brunnen angebohrt wäre, und aus den 189 Augen schlugen plötzliche Flammen. Diese Augen, die auf viele hypnotisierend wirkten, waren überhaupt das Merkwürdigste an seiner Erscheinung; sie waren tiefblau, wurden aber in der Erregung schwarz; die Pupille, die sehr gross war, hatte die Eigenheit, sich ohne Lichteinwirkung, durch blosse seelische Vorgänge zu erweitern oder zusammenzuziehen; ein vom Vater ererbtes Phänomen, das auch sonst in der Familie vorkommt.

Vom Herbst 1877–1883 wohnte er mit der Familie zusammen am Viale Margherita, man wurde seiner aber eigentlich nur zur Sprechstunde und bei den Mahlzeiten ansichtig, so ganz nahmen ihn der Beruf, die Geselligkeit, die medizinischen Vereinigungen, die Fehden, die seine wissenschaftliche Stellung und sein unbeugsames Auftreten ihm zuzogen, alle die tausend Verwicklungen seines sturmbewegten Lebens in Anspruch. Mehr als je wurde er von den Frauen gesucht und ausgezeichnet; sein aristokratisches Wesen, seine Jugend und Ritterlichkeit mit jenem Zug ins heroisch Abenteuerliche, der aus den soldatischen Traditionen der mütterlichen Vorfahren stammen mochte, verbunden mit seiner Zartheit am Krankenbett, erwarben ihm glühende Neigungen, wie sie in solcher Zahl nur selten einem Sterblichen zuteil werden, besäten aber auch seinen Lebensweg mit Unruhen aller Art. Doch obwohl er sich 190 keinen Rausch versagte, bewahrte er den Frauen gegenüber den reinsten Idealismus und alle Illusionen des Jünglings. In seiner Nähe konnte keine Frivolität aufkommen; jede Roheit in Beziehung auf das andere Geschlecht verletzte ihn aufs tiefste, trotz seinem Beruf und allen seinen Erfahrungen blieb ihm lebenslang eine zarte Scheu eigen, eine ewige Jungfräulichkeit der Seele: das Wort mag seltsam klingen, aber die den Menschen gekannt haben, werden es richtig finden. Auch ernste, dauernde Männerfreundschaften wurden angeknüpft, fast immer in Ausübung des Berufs. Neben der für ihn wichtigsten eines ungefähr gleichaltrigen italienischen Kollegen erwarb er sich die auf feste Achtung gegründete Sympathie der bedeutendsten Persönlichkeiten der Kolonie wie Arnold Böcklin, Karl Hillebrand, Theodor Heyse, Adolf Hildebrand. In dem damals neugegründeten Hildebrandschen Hause verlebte auch ich zusammen mit dem Bruder meine schönsten Tage; im übrigen behielt er, seiner verschlossenen Weise folgend, seinen geselligen Verkehr grösstenteils für sich allein.

Doch wo es not tat, fehlte er den Seinen nie. So oft den jüngsten Bruder eine neue Verschlimmerung seines unerbittlichen Leidens niederwarf, opferte er ihm mit grösster Hingebung seine Nächte und sass neben der Mutter, die in jener Zeit 191 gar keinen Schlaf mehr kannte, als aufmerksamer Pfleger am Krankenbett. Er war ihm am Ende wie ein eigener Sohn geworden, dieser ihm an Charakterstärke so ähnliche Bruder, der nie von seinen schweren Leiden sprach und mit einer halb kindlichen, halb heroischen Heiterkeit dem sicheren Tode entgegenging. Und als in der Nacht des 7. Februars 1882 endlich die letzte Stunde für den jungen Dulder herannahte, liess die brüderliche Liebe ihm das Leben leicht und sanft wie einen Traum zerrinnen.

Das nachfolgende Jahr erlöste auch die alte Josephine, der das Schicksal ein Leben voll Aufopferung und Entsagung mit einem langen Siechtum gelohnt hatte. Sie starb am 26. November 1883, nachdem sie gerade noch den Einzug in das neue Haus in der Via delle Porte Nuove erlebt hatte, das Edgar kaufte, um nun als reifer Mann auf eigenem Grund und Boden zu stehen; denn ihn konnte nur der sichtbare Besitz wirklich erfreuen.

Noch immer gingen die Wogen seines Lebens hoch und stürmisch, doch schlich sich jetzt eine leise Friedenssehnsucht, der Wunsch nach einem stillen Hafen, ein. Das nachstehende Gedicht hatte er schon im Frühling 1882 auf einer Eisenbahnfahrt vor Wien (er dichtete fast immer unterwegs) in sein Notizbuch eingeschrieben: 192

Nel mezzo del cammin di nostra vita.
Du möchtest auf des Lebensweges Mitte
Dir gerne gönnen eine kurze Rast,
Rückwärts bemessen die getanen Schritte
Und vorwärts, die du noch zu machen hast.
Du hast manch schönes wahres Glück genossen,
Mit Rosen war dir oft der Weg bestreut.
In der Erinn'rung Nebelbild zerflossen
Ist jetzo alles, was dich einst erfreut.
Du hast gelitten unter herben Wunden
Und machtest auch bei diesen gerne Halt,
Mag sein, dass dir in nächtlich stillen Stunden
Ein ängstlich Graun die Brust zusammenkrallt;
Doch kommt der Tag. Du darfst, du kannst nicht rasten.
Dein liebstes Leid, wie liegt dir's ach schon weit.
Dich drängt zu ruhlos blindem Vorwärtshasten
Die unerbittlich rücksichtslose Zeit.
Sie treibt dich eilig durch das wirre Leben,
Sie gibt dir neue Freude, neuen Schmerz,
Und macht im selben Schlage dir erbeben
Von neuem stets das rätselvolle Herz.
Das kleine Ding! es pocht in dunkler Truhe
Solange, bis es unter Schmerzen bricht.
Dann kommt, was du ersehntest, Fried und Ruhe,
Doch fühlst du, Armer, diese Ruhe nicht.

Diese Stimmung als Niederschlag des fortgesetzten Spieles von Illusionen und Enttäuschungen, in dem sein Leben auf und nieder ging, trat in den folgenden Jahren noch deutlicher auf, wurde aber nur seiner tief verschwiegenen Muse anvertraut:

Stille.
Einst in der Jugend goldnen Tagen,
Als hoch mein Herz im Busen schlug,
Da durft' ich alles hoffen, wagen,
Nichts hemmte meiner Seele Flug.
Und stets bereit, mich hinzugeben
Der Liebe, wie des Hasses Glut,
Weiht' ich der Liebsten froh mein Leben,
Bot ich dem Feinde keck mein Blut.
Ich blieb allein mit meinem Trachten,
Sah, dass kein Herz es ernst gemeint,
So lernt' ich nach und nach verachten
Und dann vergessen Freund und Feind.
Nun herrscht die Ruh im öden Raume,
Kein Feind ist mehr des Kampfes wert.
Und manchmal nur in dunklem Traume
Greif ich noch tastend nach dem Schwert.
So geh ich von dem Gott verlassen,
Der ehmals mir die Brust geschwellt,
Zu kühl zum Lieben wie zum Hassen,
Gar still und einsam durch die Welt.

Dieses Gedicht, das letzte seiner leidenschaftlichen Selbstbekenntnisse, ist im Jahre 1885 geschrieben. Doch nicht lange sollte er einsam gehen. Schon das folgende Jahr fand ihn im Besitze des eigenen Herdes, den er sich gewünscht hatte, und es ist für seine Empfindungsweise bezeichnend, dass es nun doch eine Landsmännin aus der engeren Heimat war, die er in sein Haus führte. Ein Kind, ein einziges! kam, das fertige Gebäude seines Lebens zu krönen. Ein kleines Mädchen, elfenhaft zart, mit grossen Augen, in denen er die eigene Jugendwelt wiederfand. Und nun machte er alle Bedenken der Zweifler zu nichte, die sich gefragt hatten, ob ein Mensch von so heftiger Subjektivität überhaupt zum Familienleben geschaffen sei: er nahm die geliebten Wesen einfach in seine Person auf, sein starkes Ichgefühl auf sie ausdehnend. Er wurde der rücksichtsvollste, fürsorgendste Gatte, der zärtlichste Vater. 195 Das schäumende Leben floss allmählich in ebenerem Bette. Er begann an die Zukunft zu denken und schränkte seine persönlichen Bedürfnisse, denen er bis dahin freien Raum verstattet hatte, ängstlich ein. Auch seinen nach eigener Laune gebauten Wagen, ein Unikum in Florenz, schaffte er wieder ab – ohnehin hatte ihm ein junger, wilder Hengst, den er eigensinnig vorspannen liess, eines Tages das Gefährt zertrümmert, als Frau und Kind darin sassen – und es entsprach ganz seinem unabhängigen Charakter, dass er, der angesehenste Fremdenarzt, nicht den geringsten Anstand nahm, nun wieder allenthalben zu Fusse gesehen zu werden, bis später das Fahrrad, an dem er leidenschaftliches Gefallen fand, ihm das Pferd ersetzte. Dies mochte die Aussenstehenden wundernehmen; wer Einblick in die Verhältnisse hatte, der wusste, dass der Vielbeschäftigte bei weitem nicht so viel einnahm, wie man glaubte, weil er einen grossen Teil seiner Besuche jahraus jahrein unentgeltlich machte.

Noch blieb eine Seite seiner Natur, eine grosse, wichtige unausgefüllt. Seine Privatpraxis, die überdies dem italienischen Gesetz zufolge auf die Ausländer beschränkt war, lieferte ihm nicht das genügende Material für seine wissenschaftlichen Interessen. Nur die Arbeit an einer Klinik, wie er sie in früher Jugend ausgeübt hatte, konnte 196 seinen ungeheuren Tätigkeitstrieb und sein wissenschaftliches Bedürfnis befriedigen. So entstand in ihm die Idee seiner chirurgischen Poliambulanz, die er im Jahre 1889 begründete, nachdem eine zuvor eingerichtete Privatklinik sich aus administrativen Gründen nicht hatte halten können. Auch die Poliambulanz hatte schwere wirtschaftliche Kämpfe zu bestehen, aber es gelang ihr, sich fest zu behaupten, und sie nahm in dem historischen Palast der Buondelmonti ihren dauernden Sitz.

Die Leitung dieser Anstalt teilte mit ihm sein italienischer Freund und Kollege Dr. Carlo Vanzetti, Primararzt am Spital Bonifazio, der, meinem Bruder schon seit dem Jahre 1881 in engster Freundschaft verbunden, gewissermassen die Fortsetzung seiner Person, seinen Uebergang ins italienische Element bildete, zu dem der Fremde sonst bei aller Artigkeit und scheinbarem Entgegenkommen der Nation so schwer den Zugang zu finden pflegt. Der Kampf gegen die Rückständigkeit der damaligen florentinischen Kollegen hatte sie zusammengeführt, denn auch Vanzetti stand auf dem Boden der deutschen Wissenschaft. Schon seit den frühesten Tagen ihrer Freundschaft hatten sie gemeinsam jene kühnen, damals noch so seltenen Operationen ausgeführt, die meines Bruders Namen in der wissenschaftlichen Welt bekannt gemacht haben, 197 wie die Eröffnung von Lungenkavernen, Magen- und Leberoperationen und ähnliches. Denn furchtlos übernahm Edgar jederzeit die ungeheure Verantwortung, in der Privatpraxis das auszuführen, was sonst nur in den grossen Kliniken geschieht. Seine ausserordentliche Sorgfalt und peinliche Gewissenhaftigkeit gaben ihm vor sich selbst das Recht alles zu wagen, und der Erfolg war ihm so günstig, dass Todesfälle nach Operationen niemals als Ueberraschung, sondern nur in schmerzlichen Ausnahmefällen als wohl ins Auge gefasste, aber dennoch riskierte Folge eintraten. Die Poliambulanz, die einem dringenden Bedürfnis der niederen Klassen entsprach, erlaubte ihm, diese segensreiche Tätigkeit auf Tausende und Tausende von Fällen auszudehnen, und wenn ihm die Behörde auch keinen Vorschub leistete, so machte sie ihm doch andrerseits auch bei der Behandlung der Landeskinder keine Schwierigkeit. Die Anstalt errang sich schnell eine öffentliche Stellung, so dass aus Florenz und Umgebung die Kranken sich wie in den städtischen Spitälern mit Armutszeugnissen zur unentgeltlichen Behandlung einfanden.

Auf diesem Boden ergänzten sich nun die beiden Freunde aufs wünschenswerteste: in dem einen die strengste Sachlichkeit und das rücksichtslose, nur den idealen Zweck im Auge 198 haltende Durchgreifen, im andern die Weltklugheit, die sich mit den Schwierigkeiten abzufinden weiss. Vanzetti mit seinem ebenso kühnen wie beweglichen Naturell und den glänzenden persönlichen Gaben, war der rechte Mann, dem vielfach angefeindeten Ausländer seine Fehden auskämpfen zu helfen und, wo es not tat, Brücken zu bauen. Auch er eine Kämpfernatur, aber mit lateinisch leichtem Blut und unerschöpflich sprudelnder Freudigkeit, durch seinen vieljährigen Krieg gegen die Missstände der grossen städtischen Spitäler mit dem ganzen Bureaukratismus verfeindet, aber vom niederen Volke vergöttert, so war er eine Macht, die es dem Freund ermöglichte, auf dem spiegelglatten konventionellen Boden Italiens seine originelle und unbeugsame Persönlichkeit durchzusetzen. In den dreiundzwanzig Jahren ihres Zusammenwirkens wurden die Unzertrennlichen kaum jemals in der Oeffentlichkeit anders als zu zweien gesehen. Es war eine der ganz grossen und seltenen, weil auf gemeinsamen Idealen beruhenden Männerfreundschaften, die an antike Vorbilder erinnern.

Die Poliambulanz wurde jetzt das Schosskind der beiden vielbeschäftigten Aerzte. Sie opferten ihr nicht nur ihre Zeit und Kraft, sondern bestritten auch die Kosten grösstenteils aus eigener 199 Tasche, ohne von der italienischen Regierung die geringste Unterstützung zu geniessen, obwohl sie der Kommune sowie der Provinz Florenz durch die unentgeltliche Behandlung der Armen jährlich ungeheure Summen ersparten. Und wie viele Kranke kamen noch aus den grossen Hospitälern ungeheilt nach der Poliambulanz, wo neben der Chirurgie und allgemeinen Medizin auch die Behandlung der Hals- und der Augenkrankheiten sowie der gynäkologischen Fälle als Spezialität getrieben wurde. Erst im verflossenen Winter begann das Ministerium des Innern dem unermüdlich tätigen Institut seine Beachtung zuzuwenden, aber gerade zur Zeit, wo von dem Präfekten von Florenz der ehrenvollste Bericht über die humanitäre Wirksamkeit der Anstalt in Rom eintraf, der ihrem Stifter die wohlverdiente Auszeichnung erwerben sollte, lag dieser schon auf dem Sterbebett und konnte die späte Ehrenbezeugung nicht mehr in Empfang nehmen.

Dagegen wurden ihm durch den Beifall und die Anerkennung der deutschen wissenschaftlichen Welt höhere Ehren zuteil, als ein Ministerium sie zu spenden vermag. Mit den ersten Männern der medizinischen Wissenschaft unterhielt er dauernden Verkehr, so mit Billroth, der selbst Mitglied der Poliambulanz wurde und dort an den Operationen teilnahm. Schon bei seinem 200 ersten Besuch, als er die beiden Aerzte Operationen ausführen sah, die sonst nur in Kliniken vorgenommen werden, sagte der berühmte Chirurg beifällig: »Das ist die wahre Chirurgie, die Chirurgie, die man auch auf Schlachtfeldern ausüben kann.« – Edgar hielt stets darauf, den Apparat bei aller Sorgfalt für den Patienten aufs notwendigste zu beschränken, denn er sah die Zukunft der Chirurgie darin, dass ihre Ausübung jedem praktischen Arzt immer und überall möglich sein müsse. Ihm selbst war es gleich, wo er operierte, in Privathäusern, im Freien oder in den Spelunken der Armen; er nahm sogar des Winters in ungeheizter Stube, während es draussen schneite, Eröffnungen der Bauchhöhle vor. Und seine schöpferische Natur verliess ihn nie. Wie oft wurde er am Operationstisch vor eine plötzliche Entscheidung gestellt, die einen Fortschritt der chirurgischen Kunst, eine wissenschaftliche Bereicherung zur Folge hatte.

Die Poliambulanz, die ganz ohne bureaukratischen Verwaltungsapparat arbeitete, verfolgte also vor allem den Zweck, die Chirurgie der Privatpraxis dienstbar zu machen, und stellte so vielleicht das erste Modell für künftige Einrichtungen dar. Oft genug gingen die Operierten, wenn es sich um Arme, Hals, Brust usw. handelte, zu Fuss nach Hause, sogar bis in entlegene 201 Ortschaften, und fanden sich erst viele Tage später mit einem Dauerverband wieder ein. Solche Kranke hätten sonst vielleicht viele Monate in den Spitälern gelegen, fern von der Familie und von der Wohltat des Sonnenscheins, zu schwerer Belastung des Gemeindebudgets und zum Verderb des eigenen Haushalts. Erst in den letzten Jahren konnte Edgar der Poliambulanz noch eine kleine, von den »Englischen Schwestern« geführte Privatklinik beigeben; vorher hatte man auch nach schweren Operationen die Kranken zum Staunen der Leute einfach im Wagen oder auf einer Trage nach Hause geführt, wo dann freilich die Nachbehandlung die Aerzte unendliche Zeitopfer kostete. Unzähligen hat er so Leben und Gebrauch der Glieder erhalten, kinderlosen Frauen das Glück der Mutterschaft gegeben (die »Kinder der Poliambulanz«, d. h. solche, die infolge glücklicher gynäkologischer Kuren das Licht erblickten) waren ein Gegenstand besonderen Stolzes. Daher ihn der Gruss der Armen auf Schritt und Tritt begleitete.

Nirgends war er so heiter, wie in der Poliambulanz. Dort führte er den Besucher, wenn er Zeit hatte, strahlenden Gesichts vor seinen grossen Instrumentenschrank, worin das blanke Handwerkszeug lag, von dem er so manches Stück selber erfunden und in den chirurgischen 202 Gebrauch eingeführt hatte. Man sah ihm dort an, dass er sich in seinem Element fühlte. Bezeugten doch schon seine kleinen, feinen, fast fleischlosen Hände, die selber chirurgischen Bestecken glichen, dass er für diesen Beruf geboren war. Diese Hände mit ihrem vergeistigten Aussehen und den eigentümlichen raschen, fast zangenhaften Bewegungen wird niemand vergessen, der sie am Werke gesehen hat. Für ihre feine schonende Berührung waren die Patienten immer ganz besonders dankbar. Die linke war die geschicktere, mit ihr führte er das Operationsmesser, mit der rechten schrieb er.

Ein besonderes Glück war es, dass bei der Gründung der Poliambulanz noch eine Dame aus der russischen Gesellschaft, die Baronesse von Weiss, Nichte des zu seiner Zeit vielgenannten alten Barons Liphart, den beiden Aerzten mit gleichem Opfermut zur Seite trat. Auch sie stellte Zeit und Kraft und Mittel der Anstalt zur Verfügung, nahm als Assistentin an sämtlichen Operationen und Behandlungen teil und besorgte zugleich die Buchführung, sowie alles Geschäftliche. Auch ein dort herangebildeter, jüngerer italienischer Arzt, Dr. Guastalla, half den wenigen Schultern die grosse Last tragen, und so bildete die Poliambulanz eine kleine Familie, die heute gemeinsam um ihren Stifter trauert.

203 Auch sonnige Erinnerungen knüpfen sich an die Poliambulanz, die oft genug ihre Operationen mit einer lustigen Landpartie verband. Denn da durch das kollegiale Verhältnis zu den Landärzten ihre Hilfe oft von weither in Anspruch genommen wurde, musste das Personal immer bereit sein, mit dem Instrumentenkasten auf der Stelle abzufahren, und manches Mal schloss sich noch irgend eine deutsche medizinische Berühmtheit, die sich gerade in Florenz aufhielt, der fliegenden Schar an. Dann ging es mit der Eisenbahn oder im Wagen hinaus in die lachende toskanische Berg- und Hügellandschaft wie zu einem Studentenausflug. Der Anblick der heiteren Gesichter erhellte auch die Gemüter der Kranken und ihrer Angehörigen, und unausweichlich schloss sich an die Operation ein festliches pranzo im Grünen an, wobei der Toskanerwein nicht gespart wurde und die deutschen Studentenlieder aus italienischen Kehlen ertönten. Ueberhaupt lag über der Poliambulanz immer ein festlicher Hauch, der vor allem von der impulsiven Glücksnatur des italienischen Kollegen, und der ihm eigenen Gabe, die anderen unwiderstehlich mit emporzureissen, ausging; Edgar pflegte zu erzählen, dass die Patienten in der Narkose unter Vanzettis Händen mit Lachen einschliefen und mit Singen wieder erwachten. Der studentischen Ader der beiden Direktoren 204 entsprach es auch, dass sie ihr ernstes Lokal unbedenklich für den Austrag von Ehrenhändeln zur Verfügung stellten; war ja Vanzetti selbst ein Meister der Fechtkunst und gewohnt an Waffengänge. Siebzehn Duelle wurden im Lauf der Jahre in der Poliambulanz ausgefochten, darunter verschiedene von Deputierten (auch eins von Gabriele d'Annunzio). Mischte sich die Obrigkeit ein, so war es Vanzettis Sache, den Sturm zu beschwören. Dafür flossen dann Spenden in die Armenkasse der Poliambulanz, aus der unbemittelte Operierte während der Rekonvaleszenz unterstützt wurden. So wussten sie auch die menschliche Torheit dem guten Zwecke dienstbar zu machen.

Etwas sehr Liebenswürdiges war das Freundschaftsverhältnis zwischen dem ganz auf dem Boden der Naturwissenschaft stehenden Arzt und den frommen Franziskanermönchen von Quaracchi. Die gelehrten Patres, die ihr Leben mit der Kommentierung der Werke des hl. Bonaventura verbringen, liebten ebenso seinen persönlichen Verkehr wie sie seiner ärztlichen Kunst vertrauten. Er pokulierte gerne mit ihnen in den stillen Klosterräumen; sie nannten ihn scherzweise Pater Edgar, wogegen es Freund Vanzetti, das Weltkind, nur bis zum Frà Carlo brachte. In früheren Jahren kamen sie auch zuweilen ins Haus, 205 führten eine gelehrte Unterhaltung und schenkten dem Kinde Spielzeug, das sie in den Aermeln ihrer Kutten mitbrachten. Die beiden Doktoren hatten auch einen Erzbischof, der im Kloster wohnte, behandelt, wofür die Patres in der von ihnen verfassten Lebensgeschichte dieses Kirchenfürsten dankbar Zeugnis ablegten. Bei einer Rheinreise, die Edgar mit dem italienischen Kollegen machte, auf dem Weg zur Naturforscherversammlung von Heidelberg, wurden sie infolge dieser Freundschaft von den Franziskanern auf dem Apollinarisberg zwei Tage lang aufs gastlichste beherbergt, mit den köstlichsten Rheinweinen bewirtet und in jeder Weise gefeiert.

Edgar war von je die richtige Pioniersnatur gewesen. Wie er in der Jugend nach Italien vorausgegangen war und allmählich die ganze Familie nachgezogen hatte – denn der zweite Bruder liess sich in Venedig nieder, der dritte verbrachte die entscheidendsten Jahre seines Lebens gleichfalls in Florenz – so gründete er nun auf der Höhe seines Lebens die schöne Sommerkolonie von Forte dei Marmi am Tyrrhenischen Meer.

Auf beinahe ödem Strand, am Fuss der wunderbaren Marmoralpen, baute der Unternehmende sich ein Sommerhaus, eine Reihe von Freunden, darunter als erster sein italienischer Kollege, folgten seinem Beispiel, und in wenigen Jahren 206 bedeckte sich der Strand mit einer Reihe kleinerer und grösserer Villen, dem Sommerparadies eines engbefreundeten Kreises, der dort das Ideal eines Lebens in freier Schönheit verwirklichen konnte. Forte dei Marmi selbst, der vorher wenig gekannte Ort, der sonst nur zum Depot für die zum überseeischen Transport bestimmten Marmorladungen diente, wechselte seine Physiognomie und wurde ein von den Fremden stark besuchter Badeort. Ein grosser Teil der deutschen Klienten, der die ärztliche Ueberwachung nicht entbehren mochte, zog seinem ärztlichen Berater in die Sommerferien nach. Dieser hielt aber strenge Auswahl und wachte eifersüchtig darüber, dass kein störendes Element sich eindränge. Denn die herrliche Freiheit, die wir dort alle genossen (auch ich hatte mir am Strand ein Häuschen aufgerichtet), war nur auf der Basis einer hohen Kultur möglich. Und wiederum konnte nur ein so starker Unabhängigkeitssinn wie der seinige, mit einem so verletzlichen Feingefühl wie dem seinen gepaart, diese Verwirklichung unseres Jugendtraumes von den Inseln der Seligen schaffen, wo jede Seele bei Sonne, Luft und Meer sich ihrer ursprünglichen Zugehörigkeit zur Natur bewusst wurde und den Zwang einer schiefgewachsenen und schiefmachenden Zivilisation vergessen konnte. Die Sonnenbäder, die Vanzetti einführte, 207 lange bevor der Gedanke in weiteren ärztlichen Kreisen Aufnahme fand, die gymnastischen Spiele im Freien, zu denen er die Jugend anleitete um sie zu Kraft und Schönheit zu erziehen, die Befreiung von beengender, die Körperformen schädigender Tracht, kurz, die Wiedererweckung eines hellenischen Kulturideals, nach dem die Menschheit anderwärts vergeblich seufzt, fand dort ihren ganz natürlichen Boden. Und immer blieben die beiden Aerzte die eigentlichen Repräsentanten der kleinen Kolonie, welch hervorragende Persönlichkeiten sich ihr auch späterhin anschlossen; ihr Forte dei Marmi war ihre Schöpfung, und diese Schöpfung trug ihr Gepräge. – Die Sommer an der See waren Edgars glücklichste Zeiten. Hier spülte er den Druck seines Berufs von der Seele. Je heisser es wurde, desto wohler fühlte er sich. Eine Siesta kannte er nicht. Auch in den Mittagsstunden lief er am Strande umher, er selbst eine lebendige Flamme, oder er sonnte sich ausgestreckt im glühenden Sand. Unter vier langen Bädern im Tage ging es niemals bei ihm ab. Und doch war das Baden ihm nur Nebensache, sein ganzes Sinnen und Trachten ging auf sein Schiffchen. Ein leichtes Segelboot, schlank und elegant, doch nach dem Gutachten der Sachverständigen, das er freilich nicht gelten liess, kaum dem Kampf mit dem Meere gewachsen – 208 es war die letzte grosse Liebe seines Lebens. Wie die alten nordischen Seekönige, sah er in dem schnellhinschiessenden Ding, das seiner Hand gehorchte, gewissermassen ein beseeltes Wesen. Hemdärmelig, den roten Filzhut auf dem Kopf, sass er halbe Tage lang allein hinter seinem geblähten Segel, die Hand am Steuer, und kreuzte auf dem Wasser, von Möven umflogen, eine ganz eigene scharfe Silhouette auf dem unendlichen Hintergrund, die man nie vergessen kann.

Auf seine Fahrten mitgenommen zu werden, war eine grosse, nicht immer erwünschte Vergünstigung. Er hatte dann einen Ausdruck siegreicher Zufriedenheit wie sonst nie im Leben. Er sah ja nun seinen Jugendwunsch nach einem freien Seemannsdasein spät noch erfüllt – immer hatte es ihm geschmeichelt, wenn Fremde ihn nach dem durchdringenden, aber wie in grosse Weiten gerichteten Blick seiner blauen Augen für einen Seemann hielten. Unzählige Male litt das Schiffchen Havarie, und er selbst bestand bei jedem Wetter die bedenklichsten Abenteuer darauf. Das war ihm gerade recht, sein Jünglingsnaturell, das die Jahre nicht zähmten, brauchte noch immer solche Aufregungen. Kam er zurück, so war die Sache noch lange nicht zu Ende. Nun wurde das Schiff behandelt, als ob es etwas Lebendiges wäre, das der Pflege bedarf. Bis an die Brust stand er dann 209 im Wasser, täglich, viele Stunden lang, den weissen Kopf über den Schiffsrand gebeugt, in der unbequemsten Stellung, die er aber nicht spürte, mit den hundert Stricken und Schnüren beschäftigt, deren Handhabung nur er selbst verstand. Denn als der Erzbastler, der er von je gewesen, dachte er fort und fort neue Veränderungen und Verbesserungen an der Takelage aus. Wenn in der Nacht ein Sturm aufzog und das Meer zu grollen begann, so riss ihn die Sorge um sein Schiffchen aus dem tiefsten Schlaf; es war, wie wenn eine Mutter ihr Kind schreien hört. Blitzschnell war er mit Windlicht am Strande und rang allein mit dem Element um sein Boot, das ihm die Wellen mehr als einmal hinwegführten. Die werktätige Menschenliebe feierte auch in diesen Sommermonaten nicht; eine im Freien aufgenommene Photographie zeigt den Unermüdlichen, wie er im Schatten eines Feigenbaums mit dem Freunde in einer chirurgischen Operation begriffen ist.

Der Abend gehörte dann der Geselligkeit und ein grosser Teil der Nacht der Lektüre. Er war glücklich, sich wieder den poetischen Interessen hingeben zu können. In solchen Zeiten, wo er sich nicht gehetzt fühlte, war es ein Genuss, sich mit ihm über Gegenstände der alten Literatur zu unterhalten, die er wie z. B. seinen Plutarch jedes 210 Jahr wieder las. Am wohlsten fühlte er sich aber in der Welt der Romantiker, die für ihn nie veralteten: im Duft der »mondbeglänzten Zaubernacht« erholte er sich am liebsten von den Trivialitäten, womit der Arzt auf Schritt und Tritt in Berührung kommt.

Als Beispiel, wie er stets mit ganzer Seele dabei war, wenn die Rede auf Literatur kam, lasse ich die nachstehenden Verse folgen, die er mir einmal im Anschluss an einen solchen Austausch zuschickte; sie zeigen seine ganze Empfänglichkeit und bis zur Idiosynkrasie gehende Empfindlichkeit fürs Aesthetische, seine Sympathie und seine nicht immer ganz berechtigten Antipathien; solche, die ihn gekannt haben, werden darin auch seine Sprechweise wiedererkennen:

Bekenntnis.
Ich liebe wohl manchen Schreiber und Dichter,
Den einen mehr und den andern minder,
Am meisten das hohe Göttergelichter,
Doch sehr auch die niedrigem Menschenkinder.
Ich freu mich an manchem der gilt für zotig,
Ertrag' auch wohl manchen Gottfried Knotig.
Wie viele hab ich besucht und versucht,
Und was sie mir boten das nahm ich so mit,
Bald mit, bald ohne Appetit,
Jedoch vor Zweien ergriff ich die Flucht.
Ich floh und ich fliehe vor einem Dichter,
Der nennt sich Jean Paul Friedrich Richter.Diese Abneigung teilte er, vielleicht ohne es zu wissen, mit seinem Vater, wie ich mich seitdem aus dessen Jugendbriefen überzeugen konnte.
Ich floh und ich fliehe noch viel weiter
Vor einem Schreiber, der heisst Fritz Reuter.

Ebenso scharf wachte er über Reinheit und Adel der Sprache. Wer sich sprachlicher Unfeinheiten, besonders gewisser banausischer Neubildungen schuldig machte, hatte von ihm keine Nachsicht zu erwarten. Als ich ihn im vergangenen Jahr bei einem seiner seltenen Besuche in meiner Stadtwohnung mit den Wustmannschen »Sprachdummheiten« bekannt machte, da freute er sich herzlich, dass ein solches Buch endlich geschrieben sei, und ganz besonders tat ihm die Streitbarkeit des Verfassers wohl. Zu dem Kapitel »Frug oder fragte?« schickte er mir nachher folgende lustige Sprachprobe zu:

Als heut ich wieder meine Liebste frug,
Ob sie mich liebe, seufzte sie: »Ich fragte
Dich früher nicht, ob mir dein Herze schlug.
Du weisst ja wohl, dass ich zuerst es wagte,
Und dass ich gerne die Beschämung trug,
Dass ich zuerst dir meine Liebe klagte.«
Verzeih, mir, Liebste, dass ich frug und fragte.
Du weisst ja, wie mich stets der Zweifel plug,
Und wie vor Eifersucht das Herz mir schlagte,
Wenn einer nur dich anzublicken wug.
Dass ich nur dich in meiner Seele tragte,
Du wusstest's, ehe mir dein Mund von Liebe sug.

Mit glücklicher Blindheit hoffte man für ihn auf einen reichen, friedlichen Lebensabend, während doch sein ganzer stürmischer Lauf ein frühes und stürmisches Ende voraussagte. Er selbst freute sich oft auf die Zeit, wo die Verhältnisse ihm gestatten würden, die Praxis niederzulegen und sich nur noch literarisch zu beschäftigen. Ein grosses, seit seiner Jugend gesammeltes wissenschaftliches Material harrte der Bearbeitung, denn die achtzig und mehr Monographien, die er im Lauf der Jahre in medizinischen Zeitschriften veröffentlichte, Arbeiten, die seinen Namen in der Welt der Wissenschaft weit verbreiteten, sah er nur als Abschlagszahlungen an. Auch die Poesie wollte er wieder pflegen, ja seine glücklichste, originellste Dichterader strömte ihm erst jetzt. Und wie freute er sich darauf, mit seiner heranwachsenden, vielseitig begabten Tochter dieselben Studien wieder zu treiben, an denen wir beide uns in frühen Tagen begeistert hatten. Das Griechische! Den Homer! All der nie begrabene Jugendidealismus, die Jugendpoesie flammten wieder auf. Er war ja ein so trefflicher Philologe geblieben, und das Lehren machte ihm Vergnügen – nicht nur dem Kinde, 213 sondern auch seiner hochbetagten Mutter, die mit fünfundsiebzig noch das Studium des Griechischen begann, korrigierte er in den Mussestunden ihre griechischen Hefte.

Aber schon lauerten die Dämonen, die alle schönen Hoffnungen vernichten sollten. Im Frühjahr 1903 erkrankte ihm das einzige Kind unter schweren typhusähnlichen Erscheinungen. Die Krankheit, die sich schnell komplizierte, nahm die erschreckendsten und zugleich rätselhaftesten Formen an. Entsetzliche Tage begannen für den Arzt und Vater, den nicht sein Scharfblick, wohl aber seine kühne Siegesgewissheit verliess. Während dreiunddreissig Tagen ging er nicht aus dem Haus, legte sich nie zu Bette, nahm kaum mehr Nahrung zu sich, setzte sich nicht einmal auf einen Stuhl. Er schien eine übermenschliche Widerstandskraft bekommen zu haben. Immer stehend, von Viertelstunde zu Viertelstunde das Fieber messend, alle Symptome überwachend, verzeichnend, verbrachte er Tag um Tag, Nacht um Nacht. Oft dachte ich in den langen qualvollen Nächten an das Märchen vom Gevatter Tod. Da stand er jetzt, der Arzt, der Retter, und konnte seinem Geliebtesten nicht helfen. Es war das Schlimmste, was ihm jemals widerfuhr. Denn dieses Kind war sein Höchstes, die feinste Sublimierung seines eigenen Ichs. Sie zu verlieren, hätte 214 er nicht ertragen. Alle wussten es und alle zitterten für ihn. Mehr als zwei Monate dauerte die entsetzliche Krankheit mit scheinbaren Besserungen und jähen, die augenblickliche Gefahr bergenden Rückfällen, bis endlich das Kind aus den Händen des Todes gerissen war. Erst später sah man, dass in jenen Tagen und Nächten der Vater sein eigenes Leben zum Tausch für das ihrige gesetzt hatte.

Vorerst schien seine ungeheure Spannkraft die Folgen am eigenen Leibe rasch zu überwinden. Zwar seine Haare, die zuvor schon völlig weiss gewesen, bekamen jetzt einen noch weisseren Schein. Seine Hände erschreckten mich oft durch ihre eisige Kälte. Aber die frische Gesichtsfarbe, die ihm rasch zurückkehrte, der Glanz der Augen, der sich niemals trübte, täuschten uns, als ob er noch ganz der Alte wäre. Dass an ihn etwas Menschliches heran könne, hatte man ja nie geglaubt. Zwei Jahre zuvor hatte er eine langwierige Infektionskrankheit in ununterbrochener Tätigkeit überwunden. Ihn nach seiner Gesundheit zu fragen, empfand er ja fast als eine Beleidigung.

Es kamen auch noch schöne Tage für ihn in Forte bei seinem Schiffchen, die er noch einmal aus voller Seele genoss. Und noch immer hatte er den raschen Puls der Jugend, das dunkle Aufflammen des Auges, wenn etwas Schönes oder 215 Grosses seine innere Begeisterung weckte, der er so selten Worte gab. Aber die Anforderungen des Winters trafen ihn nicht mehr bei der alten Frische und Widerstandskraft. Und seltsam! gerade jetzt, wo die Katastrophe sich vorbereitete, begann er sein Wohlsein zu rühmen, wie er sonst nicht pflegte. Es war der verhängnisvolle Wendepunkt, wo der Rastlose dem Augenblick sein: Verweile doch! zurief.

Eine letzte Befriedigung war ihm noch vergönnt in der Herausgabe seiner Volkslieder aus der Toskana, die er das Jahr zuvor übersetzt hatte. In einem der glücklichsten Augenblicke seines Lebens war ihm der Gedanke an diese Uebertragungen aufgegangen, denn hier war ein Feld, wie er es für die Eigentümlichkeit seines Talents nicht besser wünschen konnte. Sein feiner Humor, seine schlagende Kürze, seine Freude am volkstümlich Naiven und Lustigen, seine im fortgesetzten Verkehr erworbene Kenntnis des toskanischen Naturells und aller seiner Menschlichkeiten, ebenso wie der stark ausgeprägte Sinn für das Volksmässige in der deutschen Sprache haben aus dieser Nachdichtung die liebenswürdigste Vermählung des italienischen mit dem deutschen Volksgeist gemacht. Denn es handelte sich ihm nicht darum, die zarten südlichen Blüten nur wohlverpackt mit ihrem Glanz und Duft auf deutschen Boden zu 216 bringen, er wollte sie vielmehr dort einpflanzen, wind- und wetterfest machen. Und dies zu tun, hatte er wirklich das Zeug. Er hat den toskanischen Volksliedern, ohne ihnen von der tändelnden Grazie das Mindeste zu nehmen, einen festeren Rückgrat gegeben. Er hat ihre metrische Monotonie, die freilich im Italienischen selbstverständlich ist und nicht als solche empfunden wird, durch häufige Abwechslung im Versmass aufgehoben, wodurch das Mutwillige, Frische noch besser herauskommt, leblose Stellen, die oft nur als Füllsel stehen, zu lebendigen Gliedern gemacht. Dass er in das Bändchen unbemerkt auch Eigenes einschmuggeln konnte, zeigt, wie gut er den Ton zu treffen wusste. Die Lauppsche Buchdruckerei in Tübingen übernahm den Verlag. Sie wird es, glaube ich, nicht zu bereuen haben. Die öffentliche, warme Anerkennung, die sich jetzt in den Tagesblättern zu regen beginnt, sollte der Autor nicht mehr erleben. Aber er freute sich noch an der schönen, würdigen Ausstattung des Büchleins, das er noch selbst an seine Freunde verteilen konnte, er erlebte noch den – ich darf sagen – jubelnden Beifall, den das köstlich-frische, ganz von Erdgeruch durchströmte Werklein im engeren Kreise fand, und mit diesem Widerhall seiner Lieder im Ohr ist er entschlafen.

Das Frühjahr hatte, wie alljährlich, eine 217 ungeheure Fremdenüberschwemmung nach Florenz gebracht und Krankheiten in Masse. Auch die Einheimischen schienen mit dem Krankwerden nur auf die Zeit gewartet zu haben, wo es am meisten zu tun gab. Der vielgesuchte Arzt kam Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Er ass nur noch stehend; wenn er spät in der Nacht von seinen Gängen nach Hause gekommen war, so wurde er nach wenigen Stunden Schlafs wieder herausgeschellt. Immer wieder peitschte er die versagenden Kräfte auf und fehlte nirgends. Bei der Einbalsamierung einer an Lungenentzündung verstorbenen Fremden und Ueberführung der Leiche in rauher Sturmnacht, was alles er mit gewohntem Opfermut auf sich nahm, scheint er den Krankheitskeim geholt zu haben. Es war als ob er das nahe Ende fühlte. Eine ungekannte Wehmut lag über ihm, wenn er in seinem Frühlingsgarten stand. »Die schönen Rosen,« sagte er zu seiner Frau, »so herrlich haben sie noch nie geblüht.« Er schien zu fühlen, dass er sie zum letztenmal blühen sah. Bald sollten sie alle, vom Stengel geschnitten, auf seinem toten Leibe verwelken.

Noch fuhr er auf seinem Rad unermüdlich von einem Patienten zum andern, als ihm der Tod schon in der Brust sass. Niemand ahnte die Gefahr, als das feinfühlige Mutterherz, doch blieben wie gewöhnlich ihre Vorstellungen vergeblich. 218 Endlich musste er nachgeben. Aber die Sorge um seine Schwerkranken, die auf ihn harrten, litt ihn nicht zu Bette, er stand wieder auf, stieg noch einmal aufs Rad trotz der Schmerzen und machte seine Besuche. An den Krankenbetten sah man, dass er sich heimlich selbst den Puls fühlte und dass ihm die Augen fast zufielen. Auch in die Poliambulanz schleppte er sich noch und trug dort wie sonst in seine Fiebertabellen ein, die er seit den Universitätsjahren ununterbrochen führte.

Endlich aber legte er sich, um nicht mehr aufzustehen. Und nun ging es mit Riesenschritten. Mit der sicheren Klarheit des Arztes erkannte und verfolgte er seinen Zustand, als ob es ein fremder Fall wäre, und noch in den allerletzten Tagen, so oft er aus Delirien und Betäubung auf einen Augenblick zu sich kam, machte er seine Messungen und Aufzeichnungen, aber mit den Angehörigen sprach er immer nur in scherzendem Ton. Sein Töchterchen wollte er noch einmal singen hören und seiner alten Mutter las er mit versagender Stimme eine Horazübersetzung vor, die er auf dem Krankenbette gemacht hatte. Seine Weltfreudigkeit verliess ihn nie. Man musste ihm noch von den Taten der japanischen Flotte berichten, und als ich ihm wenige Tage vor dem Ende eine kurz zuvor gelesene Episode aus der Schlacht von Lissa erzählte, da sah ich zum letztenmal sein 219 Auge aufflammen in jener raschen Sympathie des Starken mit allem was stark ist.

Diese unerhörte Lebensenergie erhielt die Hoffnung der Angehörigen bis zuletzt. Aber fruchtlos waren die aufopfernden Bemühungen des Bruders Alfred und der anderen nahestehenden Aerzte, die ihn nie verliessen. Am Morgen des 27. April zerrannen die letzten Illusionen. Vorübergehend kam der Kranke noch zu sich und stimmte sogar, seiner Natur getreu, um den Bann zu brechen, ein Lied an. Es war das letzte Aufflackern. Am Nachmittag um fünf Uhr hatte er seine starke Seele ausgehaucht.

Nie hatten die Seinigen ganz gewusst, was der Schweigsame, Spröde seinen Mitmenschen gewesen war. Man erfuhr es erst an der fassungslosen Bestürzung, die sich bei seinem Tode verbreitete, an dem tiefen Schmerz in allen Kreisen, an der langanhaltenden Trauer um den Unersetzlichen. Aus nah und fern meldeten sich unzählige, denen er ein Helfer und Retter in der Gefahr und eine Stütze in der Bedrängnis gewesen war, doch den ganzen Umfang seiner humanitären Tätigkeit wird man wohl nie kennen lernen.

Und dieser rastlos-ungestüme Mensch hinterliess eine Ordnung, die das Staunen aller erregte. Neben seinen fortlaufenden poetischen 220 Selbstbekenntnissen führte er noch von frühester Jugend auf ein Tagebuch, worin er sich von der Verwendung seiner Zeit und seinem ganzen Tun und Treiben Tag für Tag Rechenschaft gab. Auch hatte er, der nichts in der hergebrachten Weise tat, sich eine eigene Form der Buchführung erfunden, ein System von Zeichen, wonach, als erst der Schlüssel dazu gefunden war, die ganze Vermögenslage sich in der denkbar einfachsten Weise überblicken und ordnen liess. Reichtümer hat er in seiner zerreibenden Tätigkeit keine gesammelt, wie ein anderer mehr aufs Lukrative bedachter Arzt an seiner Stelle getan hätte, aber er durfte, als er schied, zu seiner innigen Befriedigung die Zukunft von Frau und Kind als gesichert betrachten. Er war ja ein so vortrefflicher Haushalter, dass er sich und den Seinigen alles gestatten und dennoch für die Zukunft sorgen konnte.

Es wäre heute müssig zu fragen, wie viel auch dieser reichen Anlage das Leben schuldig geblieben ist, und ob nicht die wissenschaftliche Tätigkeit an einer grossen deutschen Klinik ihm tiefere Befriedigungen gewährt hätte. Einen so weiten Spielraum zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, wie ihn der florentinische Boden gab, hätte er jedenfalls im Vaterlande umsonst gesucht.

Strahlender Frühlingsglanz lag am Morgen des 29. April über Trespiano und gab den 221 umliegenden Höhen allen jene verklärte körperlose Schönheit, die nur der Süden kennt, als der Entschlafene zu seinem letzten Feste herauffuhr. Er hatte in guten Tagen zuweilen in einer Anwandlung seiner alten Wikingerstimmung den Wunsch geäussert, dass man ihn, wenn er einmal tot sei, in sein Segelboot lege, ganz von Brennstoff umhüllt, ihn so hinausführe aufs hohe Meer und bei angezündetem Schiff den Flammen und den Wellen überlasse. Dieser Wunsch konnte nur erfüllt werden, soweit er die Verbrennung betraf. Befreundete Hände hatten pietätvoll Sorge getragen, dass alles beseitigt wurde, was sonst in Italien die Feuerbestattung so peinlich und verletzend für die Ueberlebenden macht. Der ganze Feuertempel war mit schweren Lorbeer- und Fruchtguirlanden behängt, aus denen die goldenen Bälle leuchteten wie ein Triumph des Lebens. Am Sarg, den die beiden Brüder und die beiden Aerzte der Poliambulanz trugen, sprach Freund Fasola, der Germanist an der florentinischen Hochschule, und nach ihm Vanzetti, der dem brüderlichen Gefährten das letzte Lebewohl nachrief. Darauf setzte die Musik mit einer Bachschen Fuge ein, zwei Lieder folgten, das »Lasciatemi morir« eines altitalienischen Meisters und das schöne von Sucher komponierte Lied unseres Vaters »Alle Lust hat Leid«, das den Entschlafenen immer so tief 222 ergriffen hatte. Dann löste sich die Hülle dieses Feuergeistes in den Flammen.

 

Florenz, 7. Juni 1904.

 


 


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