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Sie sitzt auf ihrem Blumenthron im Lorbeerschatten, das Zepter mit der Lilie in der Hand, und spiegelt ihr schicksalsvolles, aber unverwelkliches Angesicht in dem träumenden Arno, Fiorenza, die stille Königin. Wer kann sie sehen, ohne ihr zu huldigen? Sie nimmt lächelnd deinen Tribut entgegen, aber sie lächelt an dir vorüber, denn sie sieht dich nicht, sie sieht nur die Schattenbilder des Vergangenen. Die stille Königin denkt ewig nur sich selbst. Sie träumt, als ob Gestriges Heute wäre. Sie weiss nicht, dass sie längst ihre Krone verloren hat und nur noch Rosen auf dem Haupte trägt, dass jetzt andre Throne aufgerichtet stehen und andre Königinnen mit lauterem Pompe verehrt werden. Niemand wagt ihr das zu sagen, denn alle, die zu ihr kommen, ehren ihren Traum. Die Etikette verbietet, an ihrem Hofe von anderm als von den Zeiten ihres Glanzes zu reden. Alle italienischen Städte haben ja grosse, überwältigende Erinnerungen, aber Florenz war die Hauptstadt von Genieland, die Wiege der wiedergeborenen Menschlichkeit; nur einmal, im Lauf der Weltgeschichte, dort an den Ufern des Ilyssos, sah die Sonne eine, die schöner war. Darum macht kein Ruhm von heute ihre Pulse schlagen. Man sagt ihr: »Fiorenza, heute nacht ist Arnold Böcklin in deinen Mauern 4 gestorben.« – Sie antwortet: »Ich habe ihn nicht gekannt.« – »Aber er war ein grosser Maler, Fiorenza!« – »Auch Leonardo ist tot und war ein grösserer.« – Fast ebenso unbewegt steht sie unter ihren italienischen Schwestern. Was soll Fiorenza erschüttern nach allem, was über sie selber hingegangen ist? In ihrem Herzen gibt es keinen Raum mehr für andrer Freuden und Schmerzen. Nicht einmal das Risorgimento hat sie bis in die Wurzeln ihres Seins durchrüttelt. Von Aspromonte rief es herüber: »Garibaldi hat für die Freiheit geblutet!« Sie antwortete aus dem Traum: »Ihr wolltet sagen: Ferruccio.«
Fiorenza hat ein Recht, so stille zu sein, denn ihre Seele ist müde. In ihrer Jugend ist es anders gewesen. Es gab eine Zeit, wo Dante sie mit einer Schwerkranken verglich, die durch Herumwälzen ihre Pein zu lindern sucht. Damals war sie unbeständig wie eine Dirne und eifersüchtig wie eine Rasende. Rings um die schöne Fiorenza her durfte nichts andres schön sein. Die Nachbarstädte wurden zerdrückt und zertreten, je näher, desto grösser der Hass; die Mutterstadt Fiesole musste zuerst dran glauben. Am ärgsten aber trieb sie's im eigenen Hause. Gefährlich war sie und grausam, sie wusste selbst nicht, was sie tat, wenn der Dämon sie beherrschte. Ihre Edelsten zerfleischte sie, um ihnen heisse Tränen 5 nachzuweinen. Sie schöpfte alle Lüste aus und wand sich dann verzückt unter den Geisselhieben des Busspredigers; doch als die Neuheit ihren Reiz verlor, sprang sie auf und rief die Henker über ihn! Aber alle ihre Sünden hat sie sich verziehen, alle Verbrechen hat sie durch Werke und Taten gesühnt, nur eines nicht. Ihr grösster Ruhm ist ihre ewige Schmach geblieben. Mit einem immer nagenden Wurm im Herzen blickt sie nach jenem Grabe in Ravenna, das ihr nie gehören soll.
Dante! Man kann nicht von Fiorenza sprechen, ohne dass sein Schatten herantritt. Der blosse Klang ihres Namens zieht ihn her. Keiner von allen hat mit so maassloser Leidenschaft an ihr gehangen wie dieser. Dafür ist sie ihm auch auf ewig verfallen und mit ihr die ganze italienische Kultur. Wo ist je ein andrer Dichter so zum Despoten seines Volkes geworden? Für die Sprache, die er seinen Stammesgenossen schenkte, müssen sie seit Jahrhunderten die Montur seines Geistes tragen. Jedes neue Geschlecht findet ihn an der Schwelle des Daseins und empfängt von ihm Form und Richte. Seit dem Trecento zergliedern und erklären sie ihn unermüdlich und kommen doch nie mit ihm zu Ende. Je tiefer man eindringt in italienisches Wesen, desto mehr empfindet man seine Allgegenwart. Gar nicht zu reden von dem offenen Dienste, den ihm die grosse 6 italienische Kunst geweiht hat – auch noch aus den verborgensten Winkeln wie dem symbolischen Schmuckwerk der Mediceerkapellen entziffert jetzt die Forschung versteckte steinerne Dante-Zitate heraus. Wäre der Alighieri ein deutscher Dichter, so hätte man wahrscheinlich längst die schönsten Teile aus seinem Werke zu Nutz und Frommen der Lesebücher und Anthologien herausgebrochen und den Rest der Literaturgeschichte überantwortet. Anders der zeitlose Italiener. Nicht nur, dass ihm die literarischen Umsturzgelüste der germanischen Völker völlig fremd sind (ein Anrennen gegen die Riesengestalt Dantes, wie es so oft gegen Goethe und Shakespeare versucht wurde, gälte der Nation schlechtweg als Sakrilegium, das nie verziehen würde) – auch die abgestorbenen Teile seines Heros will die fanatische Liebe des Italieners nicht opfern. Es mag ein Fehler sein, denn es hindert am Fortschreiten; aber liebt man einen Dichter, wenn man ihn nicht fanatisch liebt? Der Ausländer ahnt gar nicht, bis zu welchem Masse die ganze italienische Kultur mit Dante durchsetzt ist. Kein Provinzblättchen schreibt seinen Leitartikel, kein Schuljunge seinen Aufsatz ohne Dante; selbst ein Kochbuch, das auf sich hält, will einen Dante-Vers an der Stirne tragen. An den Wortklötzen der Divina Commedia beissen sich 7 schon die Kinder ihre Milchzähne aus, und dennoch – das ist das Unerhörte – wird Dante niemals abgedroschen. Die Zeitferne vermehrt nur sein Gewicht: Dante ist den Italienern das Absolute geworden. Der Dante-Kult entbindet sie in ihren Augen von jeder Verpflichtung gegen die andern Grossen. Sie lesen keinen Homer, keinen Shakespeare, keinen Goethe. »Wir haben ja den Alighieri.« Soll man sie für dieses Uebermass vergötternder Pietät loben oder tadeln? Müssige Frage. Der grosse Hypnotiseur hält sie in seinen Höllentrichtern fest, weil er der Stärkere ist. Was tut's, dass seine Weltanschauung tot ist, dass unsre Kultur sich nicht mehr in ihr spiegelt, und dass unser Empfinden sich vor ihr entsetzt? Die Reiche, die er geschaffen hat, bestehen. Sie sind mit so wütender Gewalt ins Dasein gerissen, dass alle Wellen der Zeit sich an ihnen brechen. Er war vielleicht die zwingendste Seele, die je gelebt hat. Das Weltall schuf er sich neu nach seinem Bedarf. So wie er hat nie ein Mensch über den Tod hinaus gehasst und geliebt. Er weidet sich wie seine höllischen Folterknechte an den Martern, in die er seine längst verstorbenen Feinde gebannt hat, und erschauert mit allen Liebesschauern seiner ersten Jugend beim Anblick der verklärten Beatrice. So kann auch ihm der Tod nichts anhaben. Er lebt, weil die Schwingungen 8 seiner Seele immer weiter zittern. Aber am unmittelbarsten, am gegenwärtigsten lebt er in Florenz.
Mancher glaubt diese Stadt zu kennen, weil er von den Uffizien nach dem Bargello und den Mediceergräbern gerannt oder auch ein paar Wochen lang trunken zwischen Fiesole und der Certosa umhergeschwärmt ist. Aber er hat nur sich selbst und sein Ferienglück genossen; der stillen Königin hat er noch nicht den Saum des Mantels berührt. Fiorenza will gesucht sein. Ihre Seele kann der Uneingeweihte nicht einmal ahnen, und auch ihre äussere Schönheit enthüllt sich nicht auf den ersten Blick. Sie siegt langsam durch ihre göttliche Harmonie und wird dem Auge mit den Jahren immer schöner. Durch Licht und Luft nimmt sie dem Stofflichen seine Schwere. Durch ihre wundervollen Verhältnisse gibt sie uns das beruhigende Gefühl, dass die Welt vollkommen sei. Wer sie kennt, dem wird sie das Mass der Dinge.
Welch geistigen Ausdruck hat die hohe Kultur der Jahrhunderte dieser Landschaft aufgeprägt! Menschenhand hat hier die Natur nicht um-, nur ausgestaltet, und die Natur ihrerseits arbeitet am Werke der Menschenhand weiter. Die Villa dort oben scheint nicht auf den Hügel gebaut, sondern als letzte Bekrönung von ihm selbst 9 heraufgeschoben, so vollkommen entsprechen ihre Maasse den seinigen, so eins ist sie mit ihm in der Farbe des Gesteins, und die Zypressen steigen so schrittweise zu ihr hinauf, als habe das alles von jeher zusammengehört. Die lichten Olivenkronen, die wie silberne Schleier hinter dem grauen Gemäuer hervorragen, die rankenden Rosenbüschel, die daran niederfallen, das alles lässt sich nicht umdenken, es sieht aus, als könnte es nicht anders sein. Wundersam ist hier der Stiltrieb der Natur: auch das misslungene Neue, wenn es sich nur nicht allzu aufdringlich gebärdet, ist in kurzem eingereiht und so getönt, dass es nicht mehr störend herausfällt. – Keine Waldung schliesst das reizende Landschaftsbild mit einem dicken Schattenstreifen ab; die Pinien und Steineichen treten nur zu kleinen, gefälligen Gruppen und Hainen zusammen, um sie übersichtlich zu gliedern, und darüber hinaus wandert das Auge weiter und weiter. Die verstreuten Ortschaften in Tal und Hügelland, die Kirchen, die Klöster und Kastelle, die massiven Bauerngehöfte, wie nimmt das alles teil an dem einzigen Bild. Und erst die Stadt selber, so gross in ihrer geringen Ausdehnung, so lächelnd in ihrem Ernst, und bei aller Monumentalität luftig wie eine Fata Morgana. Die ausdrucksvollen Strassenzüge, die lichtumflossenen Türme und Kuppeln, die schönen 10 Brücken, unter denen der Arno sich so gerne vergisst, haben etwas Persönliches, wie ein von Geist durchleuchtetes Angesicht. Sanfte Hügel, edelgeschwungene Berge umstehen sie in weitem Bogen; hier kauert der Monte Ceceri wie eine Sphinx, die Flanken von Steinbrüchen durchfurcht, und trägt die alte Etruskerstadt Fiesole wie eine Krone auf der Stirne, der Monte Senario erhebt seine bewaldeten Kuppen, deren Vierzahl so nachdrücklich wirkte, bevor sie der Entholzungswut zum Opfer fiel, und in edler Nacktheit steht, alle überragend, der König des Arnotals, der Monte Morello, der sich bei Sonnenuntergang in einen durchsichtigen, zwischen Amethyst und Rosenrot spielenden Riesenopal verwandelt. An ihn schliesst sich die blaue Apenninenkette, die in der Ferne verdämmert. Nichts Titanisches in diesen Gebilden, sie scheinen wie durch einen Künstlergeist hindurchgegangen und vom Zufall gereinigt. Als der Schöpfer schon ganz fertig war mit seiner Erde und der erste Rausch der Phantasie vertobt, da mischte er noch einmal die Farben, und mit seiner reifsten und reinsten Kunst schuf er sein letztes und liebstes Werk: Florenz. Man begreift den wütenden Schmerz der Verbannten, die ein Richterspruch auf ewig von diesem Anblick schied. Und zur Zeit, wo solche Sprüche gefällt wurden, war Florenz noch die 11 Stadt des Lebens, die erste Rennbahn der Talente. Dafür konnte weder das charaktervolle Verona noch das phantastische Venedig entschädigen. Florenz verlassen hiess die Welt verlassen; manchem war das Sterben lieber.
*
– – – Nie werde ich meinen ersten Abend auf florentinischem Boden vergessen. Es war Spätsommer, die weiche Luft glühte. Ein eigener, kränklich süsser Duft, an dem ich das sommerliche Florenz auch mit geschlossenen Augen erkennen würde – denn nirgends riecht es so wie dort – stieg aus allen Strassen auf. Dunkle Baukolosse, die ruhmreichen Zeugen der Vorzeit, warfen tiefe Schatten über den Weg und kündigten sich der Seele an, bevor das Auge sie erfassen konnte. Kindliche Petroleumlampen, die einzige Strassenbeleuchtung im damaligen Florenz, gaben eine dämmernde Helle, zu der noch die roten Lichter der Melonenverkäufer und der am Boden irrende Flackerschein der ciccajuoli (Sammler von Zigarrenstummeln) einen phantastischen Beitrag gaben. Aus der Via della Scala kamen uns mit qualmenden Fackeln die schwarzverlarvten Brüder der Misericordia entgegen, die eine Bahre trugen und von den Vorübergehenden durch Hutabnehmen gegrüsst 12 wurden. Gleich darauf kreuzte ein eilender Trupp Mandolinisten unsern Weg und verscheuchte mit den Tönen der Lebenslust das Bild des Todes; die jungen Leute zupften ihre Saiten, marschierten und sangen dazu – alles so leicht, so klanghell und mit so stürmendem Schwung, dass es die Seelen und die Füsse mitriss. Die florentinische Sommernacht überschüttete uns gleich mit ihrem ganzen Stimmungszauber. Auch die Sterne über unsern Häuptern glichen nicht den Sternen der Heimat; sie standen so wundergross und so unbeschreiblich hoch an dem völlig blauen Nachthimmel.
Am Tage aber ging das Staunen erst recht an. Die Strassen mit der breiten, fussbodenartigen Pflasterung erschienen mir gar nicht wie Strassen, sondern wie Gänge eines Hauses. Den Insassen musste es auch so vorkommen, denn sie fühlten sich im Freien ganz und gar unter sich. Säugende Mütter auf der Schwelle der Häuser, spuckende, rauchende Männer daneben im losen Hemde, das sich über einer schlotternden Hose bauscht – man begriff nicht, wie das zusammenhielt – Stühle auf dem winzig schmalen Gehsteig, die den Platz versperrten. Der stehende Gruss der Begegnenden war: »Fa caldo«, und die resignierte Antwort: »Si suda«. Die Hitze hatte alles in Paradieseseinfalt zurückversetzt, auch jenen 13 Fuhrmann, der, hinter seinen Pferden herschreitend, mit gelassenem Anstand unterwegs das Hemd wechselte.
Die glattgepflasterten Plätze, auf denen nach Sonnenuntergang die elegante Menschheit ziellos durcheinander wogte oder an kleinen Tischchen gelato und granita ass, kamen mir mit ihren Marmor- und Bronzewerken wie statuengeschmückte Säle vor, und wenn ein plötzlicher Regenguss darüber hinging, so war es wie ein häuslicher Scheuertag, denn gleich darauf lag alles wieder blank und trocken.
Noch gab es kein Hasten und Drängen auf den Strassen, obwohl die ganze Einwohnerschaft sich immer draussen befand! Wohlgesittet fluteten die Menschenwogen aneinander vorüber. Ein jeder hatte Zeit im Ueberfluss – nie werde ich wieder solche Unsummen von Zeit beisammen sehen wie damals in Florenz. Noch wusste man nichts von einem »tranvai«, nicht einmal von der allerbescheidensten Pferdebahn; es gab nur die berühmten Droschken, die den sparsameren Fremden zum Hohne strassenweit verfolgten unter dem hartnäckigen Zuruf des Kutschers: »vuole, Signore?« – und den guten, alten »onibusse«, der mich so oft für zehn Centesimi mit einer dem allgemeinen Tempo angepassten Geschwindigkeit von einem Stadttor zum andern 14 getragen hat. Dazwischendurch rasten, ohne die Ordnung zu stören, die flinken zweiräderigen calessini, von den kleinen Maremmenpferdchen gezogen, die wie Spielzeug aussahen, und die ländlichen Eselsfuhrwerke trotteten friedlich vorüber. Auch in den engsten Gassen war noch Raum zum Stehenbleiben und zum Staunen. Und wo ich stehen blieb, da sammelte sich gleich ein Menschenhaufe an, um mir staunen zu helfen und nebenher ganz mühelos ein bisschen überflüssige Zeit loszuwerden. Man fühlte noch so deutlich das alte Florenz hindurch: die Traulichkeit in der Grösse, eine Welt, wo die Fürsten Bürger und die Bürger Fürsten waren. – Die Zeitungsverkäufer brüllten, aber in musikalischem Tonfall, um die Wette die beiden sich immer bekriegenden Tagesblätter aus. Der Schirmflicker kreischte sein ombrellajo - sprangajo-o. Der Schuhhändler liess in seinem Arr scarparr, Siorri! (Al scarpajo, Signori) das imposante Zungen-R, das ich nie ohne Neid hören konnte, samt dem zischenden S nur so über die Menge hinschnurren und sausen. Jeder dieser Schreihälse hatte seine eigenen, durch das Herkommen geheiligten Kadenzen, die nur seiner Gilde angehörten, und der Eifer, mit dem sie sich gegenseitig zu überschreien suchten, war weit mehr musikalischer als industrieller Art. Die gute Laune lag in der Luft und 15 wurde von allen verstanden. Ein giornalajo, der es den Mitbewerbern zuvortun wollte, schrie statt des »Secolo di Milano«, den er unter dem Arme trug, »Mailänder Lügen« aus; ein Obsthändler schob einen Karren voll herrlicher Früchte vor sich her, indem er aus vollem Halse schrie: »Pere marciei Pere marciei« (Faule Birnen), und auf die erstaunte Frage, warum er seine schöne Ware so herabsetze, meinte er lachend, wenn er sie anpriese, würde niemand auf ihn hören.
Aber was war aller Lärm der Lebendigen gegen die lautlose Uebermacht der Toten! Mit ihnen vor allem hiess es sich jetzt einrichten, denn sie waren die eigentlichen Herren des Pflasters. Das erste, was mir am Ponte vecchio gezeigt wurde, war der Ort, wo in der Vorzeit die verhängnisvolle Marsstatue gestanden hatte, das gefürchtete Idol der Stadt, zu dessen Füssen der Ritter Buondelmonte für den an der Tochter des Amidei begangenen Eidbruch verblutete, mit seinem Tode den unauslöschlichen Bruderkrieg entzündend. So lange der Ponte vecchio steht, wird der schattenhafte Hochzeitszug des Buondelmonte darüber hinziehen, wird Mosca Lamberti im Rate der Rächer sein folgenschweres Cosa fatta capo ha! sprechen, das er seit sechs Jahrhunderten im Inferno büsst. Wer mit solcher Inbrunst gelebt hat wie diese alten Florentiner, dessen Sein ist nicht 16 an die kurze Erdenspanne gebunden, er behauptet durch die Jahrhunderte den Ort seiner Taten. Aber der Raum ist eng und der Taten sind viele. Gleich wird aus einer der Goldschmiedebuden der tolle Benvenuto Cellini brechen, den kunstvoll geschmiedeten Dolch in der Hand, der nach Menschenblut dürstet. Die Toten müssen sehen, wie sie miteinander zurecht kommen, denn für sie gibt es keine Zeitfolge; sie sind alle auf einmal da. Während Dante in die Verbannung zieht, flammt schon auf der Piazza della Signoria der Scheiterhaufen Savonarolas, und Michelangelo rüstet auf den Wällen von San Miniato seine Vaterstadt zum letzten Freiheitskampf. Jeder mag sich hier die Geister wählen, mit denen er am liebsten verkehren will; es ist für alle Bedürfnisse gesorgt. Ich wählte mir den Lorenzo de' Medici mit seinen Gesellen. Sie bezeichnen so recht den Mittagsstand des florentinischen Genius, der dann schnell gen Abend sinken sollte. Brünstiger, jugendlicher, geistreicher ist das Leben niemals gelebt worden als von ihnen, vielleicht die Tage des Alkibiades ausgenommen. Wie eine Magnolienblüte, die nach langsamer Vorbereitung plötzlich aufbricht und Düfte von überwältigender Süssigkeit und Stärke ausströmt, aber durch das Uebermass des Lebenstriebes rasch den eigenen Kelch zersprengt, so war die florentinische Kultur in 17 ihren Händen. Dass die Gefahr alle ihre Feste umlauerte und dass sie auch mit dem Wonnebecher am Munde immer den Tod im Auge hielten, das hat ihren kurzen Augenblick so reich und so dauernd gemacht, denn nur am Rande des Abgrunds schwelgt sich's mit Adel. Auf dem Domplatz von Florenz, der in den frühen achtziger Jahren noch dieselbe Gestalt hatte wie im Quattrocento und nur den flatternden Tauben, keinen Strassenbahnwagen, zur Herberge diente, liessen sich leicht die Geister jenes Himmelfahrtsfestes von 1478 heraufbeschwören, wo das mediceische Brüderpaar unter den Dolchen des Pazzi und seiner Mitverschworenen blutete. Jeder Pflasterstein wusste noch davon, und die schweigenden Monumente erzählten sich's, wie damals der Platz von der flüchtenden, schreienden Menge gedröhnt hatte, durch deren Mitte der gerettete Lorenzo nach Hause geführt wurde, und wie man am Abend, als das Volk verlaufen war, aus einer Seitentür des entweihten Gotteshauses den toten Giuliano mit seinen neunzehn Wunden in die Taufkirche hinübertrug, wo sie ihn aufbahrten, »schön und blass wie eine Perle«, wie es in einem zeitgenössischen lamento heisst. – Solch ein Finden und Selbsterleben wie in meinen ersten florentiner Jahren, wo ich in meiner Unschuld meinen konnte, das alte Florenz zuerst entdeckt zu haben, ist in der heutigen, mit Geschichte und Kunstgeschichte durchsättigten Luft gar nicht mehr möglich.
Wie ausdrucksvoll war der Domplatz noch zu jener Zeit! Die schmucklose Vorderseite von Santa Maria del Fiore dachte noch gar nicht daran, mit dem schlanken Campanile an Reichtum zu wetteifern; er herrschte in seiner zierlichen Pracht, und die wunderköstliche Loggia del Bigallo gegenüber wirkte in der Schlichtheit und Geschlossenheit des Platzes wie ein geschmückter Juwelenschrein. Das Arcisvescovato stand noch mit seinem alten Vorderpalast nahe an das schöne Achteck des Täufers angedrängt und schloss mit einer langgestreckten Linie den ganzen Hintergrund, nur durch einen niedrigen Torbogen, den Arco de' Pecori, Durchlass gewährend. Wenn Dante aus der Ferne seines »bei San Giovanni« gedachte, sah er ihn so von Bauten eng umrahmt und eingeschlossen. In dieser Gedrängtheit hatte der Platz etwas Anheimelndes, und wenn er mit Teppichen und Gobelins behängt war, bekam er das Ansehen eines festlichen Innenraumes, wie ein altes Bild ihn zeigt.
Der jetzt verschwundene Arco de' Pecori führte in das Herz der Stadt, das geheimnisvolle, von wenigen gekannte Centro. Das kleine Viereck, das die Strassen Calzajuoli, Cerretani, 19 Tornabuoni und Porta rossa umschlossen, war die Altstadt, einst der Sitz der grossen Geschlechter, aber damals nur noch die unheimliche und trostlose Herberge des Elends und des Verbrechens, mit ihren Diebshöhlen und ihren Pestgerüchen zum grossen Teil für die Bewohner der glücklicheren Stadtviertel unzugänglich. Nur der alte Mercato mit seinen nächsten Zugängen war, wenigstens bei Tage, ohne Gefahr zu betreten. Am Viale Margherita wohnend, führte mich der Weg dorthin durch die Via Strozzi, die heute in nichts mehr an ihre frühere Gestalt erinnert, als in der geraden Linie, mit der sie sich der Via del Corso zu vereinigen strebt. Damals war sie eine lange, enge, unendlich schmutzige, von Verkaufsständen und Tischen umsäumte Gasse, auf der ein immerwährendes Gekreisch und Gedränge wie auf einem Jahrmarkt herrschte. Düfte, wie sie sich dort zu einer atemraubenden Stickluft mischten, habe ich niemals wieder gerochen. Es ist nicht zu sagen, was da alles auf offenem Feuer durcheinander protzelte und schmorte und seine Gerüche mit denen des modrigen Trödelkrams auf den Verkaufstischen mengte. Hatte man sich durch die leidenschaftlich feilschende und gestikulierende Menge durchgewunden, so gelangte man auf den Mercato vecchio mit der unvergesslichen Loggia del pesce; seine Paläste mit den noch übrigen 20 Türmen, die den Platz umgaben wie invalide Veteranen, und die schlanke freistehende Säule, die die Stadtmitte bezeichnete, dämmern mir noch in der Erinnerung. Wie wenig Raum doch diese Alten gebraucht hatten. In diesem kleinen Platz, in dem Gewinkel enger Gässlein, die sich anschlossen, hatte das glühende Herz des mittelalterlichen Florenz geschlagen. Aus namenlosem Schmutz, aus entstellenden Bauflicken und Verkleisterungen blickten jammervoll die Spuren einstiger Schönheit. Hier ein köstlicher Zierat an zerbröckelnder Fassade, dort die reizenden Formen einer Loggia, die jetzt dem stinkenden Elend als Unterschlupf diente, anderswo ein Steinbogen aus der Römerzeit, in ein späteres Bauwerk verwendet. Kleine, uralte Kirchlein, über frühchristlichen oder römischen Anlagen errichtet, winzige, unregelmässige Plätze, enge Palasthöfe, von Türmen überragt, die drückend waren wie ein Alptraum; hier das bescheidene Stammhaus der Mediceer mit dem stolzen Kugelwappen, dort der festungsartige Palazzo Amieri – das war noch der Schauplatz aller jener Begebenheiten, von denen die Chroniken erzählen. Dort ist mir das alte Florenz im Geiste aufgegangen. Man musste diese Enge gesehen haben, um den Dämon der Zwietracht zu begreifen, der ein Volk von solchen Gaben und Leidenschaften zu jahrhundertelanger 21 Selbstzerfleischung zwang. Kein Tapferer konnte sich vor der Parteiung retten, wenn hier der Alarmruf erscholl, wenn die schweren Eisenketten zwischen Haus und Haus den Weg versperrten und von den Fenstern, den rasch herausgeschobenen Verteidigungsbrücken Steine und Geschosse auf die Angreifer prasselten. Hier verstand man auch ganz die Fülle der Verachtung, mit der Dante die Lauen, die Neutralen im Vorhof des Inferno stehen lässt: guarda e passa! Man konnte es nachfühlen, wie der gefährliche Boden jedesmal gezittert haben muss, wenn seine Bewohner sich zu Spiel und Freude darauf zusammenfanden oder die Jugend gemeinsam zum wonnigen Maienfeste hinauszog, das so oft in Blut und Schrecken geendet hat.
Doch nicht nur die eiserne Zeit der Guelfen- und Ghibellinenkämpfe war dort in Stein verkörpert, auch an die Anfänge des siegreichen Bürgertums gemahnte diese Enge, an die Tage, wo unsterbliche Künstler als Handwerker in ihrer bottega sassen und die frühen Mediceer sich noch hüten mussten, ihre Mitbürger in der Lebensführung zu überbieten. Hier konnte man sich einen Donatello vorstellen, der des Abends in Schlappschuhen auf den Mercato läuft, um rasch noch in der Schürze Obst und Eier heimzutragen, die er mit seinem Brunneleschi verspeisen will.
22 Mir ist es wie ein verblassender Traum, dass ich diese Welt noch mit eigenen leiblichen Augen gekannt habe! Ich atmete aber jedesmal auf, wenn ich mich glücklich durch die zwiebelduftende, von Rosticcerien dampfende Via Calimala, die in ihrer Fortsetzung Via de' Succhiellinai hiess, und den Arco de' Pecori bis auf den Platz des Täufers durchgewunden hatte ohne eine allzu unliebsame Begegnung mit den lebenden Bewohnern des Mercato.
Einen Ort jedoch gab es im Centro, den kein Angehöriger der gesetzlichen Welt jemals betrat, ausgenommen die Polizei, und auch die nur in genügender Stärke. Das war der ehemalige Ghetto, der gleich hinter dem Arcivescovato, wenige Schritte von der belebten, eleganten Via Cerretani begann. Er bildete in dem Reiche der Verdammnis, zu dem die Altstadt geworden war, die unterste Höllenstufe. Wer sich dorthin verirrte, konnte für immer verschwinden, denn vor dem unerforschten Gewirre von Gängen, Treppen, Terrassen, die die Häuser des Ghetto unter und über der Erde verbanden, machte auch der Spürsinn der Gesetzesboten halt. Dort, wo die Menschen wie Tiere beisammen hausten, war die Pflanzschule aller Verbrechen und die Brutstätte der Seuchen. Dennoch sperrten sich die Insassen – darunter auch eine wohlhabende 23 Judenfamilie, die seit vielen Generationen dort ansässig war! – zum Teil ganz verzweifelt, als in den achtziger Jahren diese Pesthöhlen ausgeleert und sie selber zwangsweise in neue, gesunde Stadtteile versetzt wurden. Noch einmal feierte der Ghetto eine kurze und verklärte Auferstehung, als im Karneval 1886 seine ausgenisteten und gelüfteten Räume in eine märchenhafte, von Kamelen durchzogene Stadt Bagdad mit Bazaren, Kaffeehäusern, Karawansereien und entzückenden Blumenhöfen verwandelt wurden, worüber der Duft von Tausendundeiner Nacht schwebte. Gleich darauf verschwand der Ghetto mit dem grössten Teil des alten Centro hinter dichten Bretterwänden. Und als nach Jahr und Tag die Gerüste fielen, war das alte Florenz nicht mehr, und an seine Stelle trat ein neues, bei dessen Anblick mir das Wort des Donatello einfiel, als der Maler Paolo Uccello im Kirchlein San Tommaso auf eben diesem verschwundenen Mercato hier ein Bild, woran er lange geheimnisvoll hinter Bretterverschlag geschafft hatte, den Augen des Volkes enthüllte: »Ora che sarebbe tempo di coprire e tu scopri« (jetzt deckst du auf, wo das Zudecken am Platze wäre). An der Stelle, wo sich der Mercato Vecchio in seiner Bettlermajestät erhoben hatte, gähnt jetzt in öder Langeweile wie ein aufgesperrtes Riesenmaul die Piazza 24 Vittorio Emmanuele, und dass sie den ganzen Mercato zusamt den anstossenden Gassen und Plätzen verschlungen hat, macht sie dem Auge doch nicht gebietend. Die grausame Zerreissung und Erweiterung des Platzes um San Giovanni, der jetzt nach drei Seiten offensteht und die Taufkirche inmitten des wilden Getriebes wie einen einsamen Felsen in der Brandung erscheinen lässt, hat den Stimmungsreiz des alten Stadtbildes noch mehr verwischt.
Wie aber auch Florenz im Aeussern sich verändert, der genius loci widersteht den Neuerungen. An langem Faden reicht die Tradition ununterbrochen bis auf unsre Tage herab. Die Brüderschaft der Misericordia z. B., der die ersten Familien der Stadt und der Landesherr selber angehören, ist über sechshundert Jahre alt. Gewohnheiten, Feste, Spiele, Redensarten der Florentiner sind die gleichen wie vor Jahrhunderten. Seit unvordenklichen Zeiten wird am Epiphaniatag die Hexe Befana gefeiert, die in einem Strumpf Geschenke ins Kamin hängt, und deren Ankunft die Gassenjugend schon Tage vorher durch das ohrenzerreissende Tuten der langen Glastrompeten ankündigt. Noch heute will der Florentiner an jedem Karsamstag den geschmückten carro vor der Domtür in die Luft fliegen sehen, so kindlich die Mechanik der künstlichen Taube ist, die ihn 25 entzünden muss. Dass an jedem 24. Juni für den Täufer, den Schutzpatron der Stadt, die alten fuochi abgebrannt werden, versteht sich von selbst. Aber ebenso zähe ist der närrische Brauch, dass an Mittfasten jedem Vorübergehenden von den Kindern, diesen besten Hütern der Vergangenheit, das papierene Leiterchen auf den Rücken geheftet wird, obwohl niemand mehr weiss, was der Unfug bedeutet, und dass am Tage von Maria Himmelfahrt der Liebhaber seiner Schönen eine schwarze Singgrille im Käfig verehren muss. Ein Liedchen, mit dem die Kleinen in den Frühsommernächten das Erscheinen der Leuchtkäfer begrüssen, habe ich wörtlich so in den Gesängen des Poliziano gefunden, und ich frage mich, ob nicht hinter ihrem Popanz Maramao vielleicht eine Erinnerung an den Verräter Maramaldo sich versteckt! Einen Schmerbauch hörte ich einen Giangastone nennen von Leuten, die in ihrem Leben nichts von dem schlemmerischen letzten Mediceer gehört hatten, und wenn einer mit seiner Hilfe zu spät anrückt, so sagt der Florentiner: »É l'ajuto di Pisa,« obgleich heute nur noch die Historiker wissen, wann und weshalb die pisanischen Bundesgenossen in solchen Verruf geraten sind.
Auch ein Gespenst würde sich in Florenz schämen, nicht mindestens seine vierhundert Jahre alt 26 zu sein, wie die schöne Luisa Strozzi, die unter dem Herzog Alessandro geheimnisvoll starb und sich noch immer ab und zu erzeigen soll. Die Umwohner des Bargello schliessen selbst in den glühenden Hochsommernächten ängstlich alle Fenster, weil aus dem alten Säulenhof, an dem das Blut der Staatsverbrecher klebt, so seltsame Töne und Schatten heraufsteigen.
Die Zeit hält über der Arnostadt ihre raschen Flügel an. Die alte Uhr auf dem Palazzo Vecchio regelt das Leben von Florenz, und ihr Schlag ruft: Eile mit Weile! Nichts hat hier seine feste Stunde. Der Nobile, der mit der Zigarre im Munde an der Tür des Circolo steht, die gepuderte Bürgerstochter, die vom Fenster seufzend den herrschaftlichen Equipagen nachsieht, der Facchino, der sich an der Strassenecke in der Sonne räkelt, sie gehören alle zur grossen Familie der Lilien auf dem Felde. Nur ein loser Sommerfaden hält das ganze Getriebe zusammen; will man ihn spannen, reisst er.
Fast rührend mutet es im zwanzigsten Jahrhundert an, wenn man in einer der belebtesten Strassen auf einen Laden stösst, an dem ein geschriebenes Täfelchen aushängt mit der vertraulichen Aufschrift: »Torno subito« (ich komme gleich wieder). Der Inhaber ist nur ein bisschen weggegangen, um anderswo zu plaudern; aber 27 der Kunde müsste viel Zeit übrig haben, der auf seine Zurückkunft warten wollte. Wer frisch von aussen kommt und noch das Tempo des modernen Lebens in den Gliedern hat, der fühlt sich in Florenz wie eine Kugel, die in einen Wollsack fällt. Seine Tatkraft nützt ihm nicht das geringste gegen den weichen, passiven Widerstand, der ihn umgibt. Und der Ankömmling wundert sich über seine Landsleute, die vor ihm da waren und schon das zeitlose Leben der Eingeborenen teilen. Sie erinnern ihn vielleicht an die verzauberten Lotophagen, die mit stillen Gesichtern wunschlos umhergehen und nimmer heimverlangen nach dem Lande der Väter. Doch bald wird ihm so seltsam wohl in der blauen Unendlichkeit; die Geister der Zeit, die ihn jagten, fallen ab, und am Ende wird er selbst wie jene und begehrt nichts weiter als nur immer dazubleiben und von den Früchten des Lotos zu essen. Aber wehe ihm, wenn er nicht gefeit ist gegen das süsse Gift, denn diese Früchte bekommen nicht jedem. Eine wonnige Mattigkeit schleicht durch die Adern, die manchem die Spannkraft auf immer lähmt. Nichts spornt ihn mehr zum Tun auf einem Boden, wo seit Jahrhunderten alles getan ist. Langsam verfeinert sich das Stilgefühl bis zur Unduldsamkeit und schafft beim Anblick jedes Erzeugnisses einer unreiferen Kultur Qualen, von denen der 28 Aussenstehende keine Ahnung hat. Nur in Gesellschaft der Toten scheint das Leben noch lebenswert. Aber die Toten sind grausam, besonders gegen den schaffenden Künstler. So mancher legt sich als demütiger Schüler zu ihren Füssen, der daheim Gewinn und Ehren erringen könnte oder schon errungen hat, und wird von ihnen ausgesogen und weggeworfen. Erst reissen sie ihn an sich mit dämonischer Gewalt; sie werfen Hülle um Hülle vor ihm ab, dass er sie erkennt in ihrer übermenschlichen Schönheit, dann beginnt der kalte Hohn, die eisige Zurückweisung: Versuch es und sei wie wir! Er hält es zuerst für möglich. Aber hat er eine Leinwand auf der Staffelei, die ihm Freude macht, so blicken sie ihm über die Schulter, kalt und unerbittlich. Im Pitti gibt es bei seinem Eintritt eine wahre Verschwörung. Leo X. mit dem Kardinal Bibbiena lächelt infam, die stolzen Tizians sehen so über ihn hin, und sogar die schwermütigen Madonnen des Botticelli verziehen ihre Mündchen, bis ihn die Verzweiflung packt, dass er seine Leinwand zerschneidet und ein paar Tage wie ein Toller durch die Campagna rennt. Er hadert mit sich und mit den Toten; er sagt ihnen die schnödesten Worte: Ihr habt nicht nötig, euch aufzublasen, was wärt ihr, wenn nicht die Wogen eurer Zeit euch getragen hätten! Es ist ein Unterschied, ob man für die 29 Stanzen des Vatikans schafft oder für einen Berliner Protzensalon. Ich möchte sehen, wie ihr euch heutigentages anstellen würdet, um unsterblich zu werden! – Er hat gut reden, die lächeln weiter und geben keine Antwort; nichts Niederschlagenderes als mit Leuten hadern, die den Mund nicht zur Erwiderung auftun. Endlich ruft er in heller Wut: Was wollt ihr? Neben den Griechen seid auch ihr nur Krämer! Dann schlagen sie die Augen nieder; das ist seine Rache. Aber der Anblick eines einzigen modernen Bildes genügt, ihn reuevoll zu den Füssen seiner Peiniger zurückzuführen. Ja, die Toten sind eine tückische Nation. – Wer aus den Armen der stillen Königin kommt, der steht als Fremdling unter den Menschen, wie wenn er aus dem Venusberg stiege, und ist er dann noch imstande, der Mitwelt zu dienen, so hat er die stärkste Probe auf seine Lebenskraft abgelegt.
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Florenz ist die vornehmste aller Städte. Da auf diesem Boden kein Geld zu machen ist und die gröberen Vergnügungen fehlen, gibt es keine protzigen Banausen, keine das Leben geniessenden Handlungsreisenden dort, und von den internationalen Abenteurern andrer Weltstädte nur der Vollständigkeit halber einige wenige Muster. 30 Kein Wald von Fabrikschlöten verdickt die Luft mit Qualm und mit sozialen Fragen; was den Bauern betrifft, so ist er in Toskana durch die Einrichtung der mezzadrìa besser gestellt als irgendwo sonst; der Kleinbürger aber lebt in einem Geflechte höchst verwickelter, doch friedlicher Auskunftsmittel, in die wir keinen Einblick haben. Freilich fallen mit dem wirtschaftlichen Kampfe auch die Leidenschaften weg, die die Gesellschaft verjüngen. Das heisse Blut der Florentiner ist schon nach den letzten grossen Aderlässen beim Untergang der Republik zahm und stille geworden. Das gesellschaftliche Leben ist abgeklärt, ruhig und rein gestimmt wie die Landschaft um Florenz. Die hochgebildete Sprache trägt einen Hauch von Vornehmheit bis in die niedersten Schichten hinunter. Dagegen ist der Blick auch unbegrenzt. Alle Nationen treffen in Florenz zusammen. Jede Welle des modernen Lebens, gleichviel von wo sie ausgegangen, dort kommt sie angerauscht; man kann ihren Weg verfolgen, nur dass ihr Schlag am Arnoufer seine elementare Kraft verliert. Einen Barrikadenkampf z. B. kann man sich auf dem Boden, der so viel Bürgerblut getrunken hat, in unsern Tagen gar nicht mehr vorstellen. Auch ihr 27. April ist ja so gesittet verlaufen wie eine Revolution im Lustspiel. Man musste unsern alten Tapezierer, 31 der die Zeit noch miterlebt hat, von dieser menschenfreundlichsten aller Staatsumwälzungen erzählen hören; schade, dass ich nur den Sinn seiner Rede, nicht auch den Wortlaut wiedergeben kann. Schon tags zuvor hatte es gegoren, drohende Gruppen standen auf den Strassen, und als General Ferrari, eine sehr verhasste Persönlichkeit, sich mit seinem Adjutanten auf der Piazza zeigte, schnitten die toskanischen Gendarmen, die ihm folgten, Fratzen hinter ihm her, bis ein Herr hinzutrat und ihn bat, sich aus Rücksicht auf die Stimmung des Volkes zurückzuziehen. Am 27. wurde es ernst. Da machten die Häupter der Bewegung dem Grossherzog eine Aufwartung, nach der ihm nichts übrig blieb als zu gehen. Als er mit seiner Familie in grosser Staatskarosse zum Boboli hinausfuhr, begleiteten sie ihn nebst Militär als Sicherheitswache und führten ihn mit allem schuldigen Respekt nach Bologna, wo sie ihn in die Arme der Oesterreicher legten. Und wo der Zug vorüberkam, da stand das Volk schweigend und höflich auf der Strasse und liess sogar den General Ferrari, den einzigen, dem man ans Leben wollte, ungehindert passieren, weil er hinten auf der grossherzoglichen Equipage stand, wo sonst der Platz der Lakaien war. Erst als der »Papa« die Stadt verlassen hatte, brach der 32 tobende Jubel aus, und man sang den Anhängern des alten Regimes den Spottvers nach:
Oh cosa speri tu?
II babbo non torna più.
Freilich als dann mitten in das Evvivarufen und Fahnenschwenken hinein die Steuereinnehmer kamen und die Soldaten ausgehoben wurden, da kühlte sich die trikolore Begeisterung bald ab – man spürt es ordentlich der Mimik des Erzählers an, wie die piemontesische Schraube das weich gewohnte Volk von allen Seiten zwickte. Denn die Toskana mit ihren humanen Einrichtungen hat mit dem Anschluss an das grosse Vaterland ein Opfer gebracht wie keiner der andern Stämme. Darum fühlt sich so ein alter Florentiner bis auf den heutigen Tag noch nicht ganz als Italiener. Immer denkt er mit stiller Wehmut an das milde lothringische Regiment, wo sich's so bequem lebte, wo alle öffentlichen Geschäfte über Hintertreppen gingen, wo der sigaro toscano zwei Centesimi kostete und wo sogar das Wetter schöner war als heute. Immer ist er ein bisschen »codino«, ein bisschen »paolotto« geblieben, das heisst, dass ihm ein Zöpfchen hinten hängt, und dass er nach Kirchenluft riecht. Und der Piemontese ist ihm so lieb wie dem Altbayern der Preusse.
Ueberhaupt kommt dem Florentiner der 33 Fremde schwerlich recht nahe, und als Fremder wird von ihm jeder Nicht-Toskaner angesehen, daher er dem Römer und Lombarden ebensogut ein Buch mit sieben Siegeln bleibt wie dem Deutschen oder Engländer. Er lebt in seiner alten Kultur wie hinter einer chinesischen Mauer. Nie vergisst er, dass sein kleines Gemeinwesen einmal die Wiege der modernen Zivilisation und ein Inbegriff der ganzen Menschheit gewesen ist, der keiner Ergänzung von aussen bedurfte. Darum stellt er sich vor, dass noch heute jedes andre Volk von ihm, er von keinem andern Volk zu lernen hätte. Seine Geographie ist so einfach wie möglich und wird auch durch das wütige Zeitungslesen nicht beeinflusst: Florenz und um Florenz her Italien, um Italien her eine nebelhafte Welt, das Ausland, das die seltsame Menschenrasse der Fremden, der »forestieri« hervorbringt. Von diesen weiss er nur so viel, dass der Brite von einer kleinen Insel kommt und der Amerikaner von einer grossen, und dass der Deutsche nicht allemal ein Oesterreicher ist, obgleich er das letztere immer gerne wieder vergisst. Damit ist so ziemlich sein Interesse für ausserflorentinische Dinge umschlossen. Selbst der Literat ist stolz darauf, keine fremde Sprache zu verstehen, weil er so die eigene reiner zu erhalten glaubt.
34 Im gesellschaftlichen Verkehr kommt man über den Anfang nicht hinaus, und wenn man bei der ersten Begegnung wegen der Leichtigkeit und Freundlichkeit der Sitten den Eindruck gewonnen hat, als ob man mit alten Bekannten zusammen sei, so bewegt sich das Gespräch nach jahrelanger Bekanntschaft immer wieder in denselben Gemeinplätzen, als sehe man sich heute zum erstenmal. Fiorenza ist weder gastfrei noch warmherzig. Die Sitte verbietet dem Fremden sogar, den ersten Besuch zu machen; er muss warten, ob man ihm entgegenkommen will. Es gibt keine freundnachbarliche Teilnahme, auch zwischen den Einheimischen selber nicht, obgleich ein Kaffeehausbekannter den andern amico nennt.
Dafür duldet die stille Königin auch keinen Klatsch an ihrem Hofe. In den modernen Millionenstädten gibt es immer wieder ein Krähwinkel, wo der eine das Tun und Lassen des andern bemängelt, in der kleinen Weltstadt am Arno nicht. Höchstens wenn der Principe Strozzi stirbt und niemand sich findet, der seinen Palast mit den wundergrossen Erinnerungen und den wundergrossen Hypotheken übernehmen will, bewegt sie das ein wenig, denn der Palazzo Strozzi ist ein Stück von ihrem Herzen; aber den Kleinkram des Tages lässt sie nicht an sich heran. 35 Wird eine Skandalaffäre laut, die anderwärts ein Jahr lang alle Zungen beschäftigen würde, so zuckt Fiorenza die Achseln und lässt in einer Nacht das Gras der Vergessenheit darüber wachsen. Und an »Affären« fehlt es nicht in einer Stadt, die der Liebesromantik aller Nationen als Zuflucht dienen muss. Auch der Fremde artet sich bald nach dem einheimischen Stil: ein Geheimnis der Kolonie wird nur von den feinen Luftschwingungen, nicht von Menschenstimmen weitergetragen. Am Ende wissen's alle, und niemand spricht davon.
Was den Umgang mit dem Florentiner erschwert, ist seine Abneigung gegen die geraden Wege. Wie alle sehr alten Kulturvölker hat er das Bedürfnis des Umgehens und Verhüllens. Das Gegenteil von dem sagen, was man denkt, heisst in Florenz educazione. Dabei zieht der eine von den Versicherungen des andern mit klarer Schätzung ein bestimmtes Quantum ab, so dass doch noch eine Art von Wahrheit herauskommt. Es dauert lange, bis der Fremde sich diese Uebung aneignet. Vor allem muss er lernen, dass sein Gewährsmann selber gar nicht ernst genommen sein will, sondern nur den Anstand wahrt, wie er ihn empfindet. Man könnte, ein berühmtes Wort parodierend, sagen: »Allgemeine Verstellung, gemildert durch allgemeinen 36 Unglauben.« Dass dieses System für den modernen Menschen zu zeitraubend ist, kommt nicht in Betracht, denn der Florentiner ist kein moderner Mensch. Ihm ist die ererbte schöne Form Zweck und Inhalt des Daseins. Die Begeisterung für die Sache, die ihn einst so gross machte, hat er mit der Wildheit seiner Jugend hinter sich gelassen.
Auch äusserlich trägt er die Merkmale der Ueberfeinerung. Er ist schmächtiger gebaut und hat schwächere Nerven als der Norditaliener; es kann vorkommen, dass er an den Folgen eines plötzlichen Schrecks hinsiecht und stirbt – »ha avuto una paura« heisst es dann. Rhachitis und Skrophulose wühlen im Volk, und der allzu spärliche Salzverbrauch leistet diesen Feinden noch Vorschub. Daran ist nicht allein die hohe Salzsteuer schuld, sondern auch alte Gewohnheit. Alle Bitternis der Fremde symbolisiert sich für Dante in dem Salzgeschmack ihres Brotes, und noch heute isst der Toskaner kein gesalzenes Brot. Dass die Kinder schon so gewitzt sind wie die Erwachsenen, scheint auch ein Altersmerkmal der Rasse zu sein. Wunderbar leicht und schnell arbeitet die geistige Maschine des Volkes. Es versteht die Rede des Fremden augenblicklich, auch durch die abenteuerlichsten Sprachschnitzer hindurch; ja, es erhascht seine 37 unausgesprochenen Gedanken, vorausgesetzt, dass sie sich im florentinischen Gesichtskreis bewegen. Was aber darüber hinausliegt, das trifft auf um so tiefere Verständnislosigkeit. In eine fremde Gedankenwelt einzudringen, gibt sich kein Florentiner die Mühe, er will in seiner eigenen aufgesucht sein.
Der gemeine Mann ist taktvoll, verständig und gutmütig, mit einem leichten Stich ins Maliziöse. Seine Höflichkeit gegen den Höherstehenden hat nie etwas Unterwürfiges, er gibt stets zu verstehen, dass er durch die feine Form sich selber ehren will. Dem Florentiner liegt seine republikanische Vergangenheit im Blute. Er lacht über Titel und Orden. Eine Livree zu tragen bequemt er sich nur mit dem äussersten Widerwillen. Die Droschkenkutscher wehrten sich noch gegen jedes Abzeichen, das der Magistrat ihnen aufnötigen wollte, um nur ja nicht mit Herrschaftskutschern verwechselt zu werden, und bemühen sich unter ihrem Panamahut oder dem festgeschraubten Regenschirm so nachlässig und bürgerlich wie möglich dreinzuschauen. Spricht der Fattore mit seinem Gutsherrn, so lässt er den Grafen- oder Marchesetitel beiseite und redet ihn vertraulich »Sor Giuseppe«, »Sor Cosimo« an. Das ist das letzte Ueberbleibsel jenes Geistes der Freiheit, der einst die »Ordinamenti della giustizia« schuf, jene unerhörten Ausnahmegesetze, die 38 den kriegerischen Feudaladel von Florenz zertraten und den Boden frei machten für eine Kulturentwicklung ohnegleichen, die aber auch den späteren Niedergang vorbereiteten, da es in den Tagen der Not an waffenkundigen Führern fehlte. – Und mit wie wenigem ist dieses Volk zufrieden. Es braucht Vergnügungen, aber sie kosten ihm nichts. Ein Drahtflicker, der im Häuserschatten des Lungarno sitzt und alte Töpfe zusammenheftet, genügt, um den Müssiggängern, die zusehen und scherzhafte Reden mit ihm tauschen, einen lustigen Nachmittag zu machen. Ihre höchste Wonne freilich ist das Kutschenfahren, doch auch das wissen sie sich billig zu verschaffen. Sechs Mann im Einspänner, wobei einer auf dem Bock neben dem Kutscher sitzt und die im Wagen den überzähligen fünften auf dem Schosse halten, das ist in Florenz ein alltäglicher Anblick. – Es ist ein ganz besonderes, von allen italischen Stämmen verschiedenes Geschlecht, diese geschmeidigen, gewitzten, zungenschnellen Nachkommen der Etrusker. Ein unergründlicher, aber lächelnder Pessimismus haftet ihnen an, der dem Nächsten von vornherein das Schlechte zutraut, ohne es ihm übelzunehmen. Soviel Phantasie, mit Witz und Denkkraft vereinigt, hat seit den Griechen kein anderes Volk mehr aufzuweisen gehabt.
39 Nirgends lernt man den Zauber und die Gefahren einer alten Aristokratie besser kennen als in Florenz. Wer trägt so schwer an seiner Ueberlieferung wie die Erben dieser alten geschichtlichen Namen? Darf man es ihnen verargen, wenn sie die Welt innerhalb ihrer Paläste, ihrer Gemäldegalerien, ihrer Familienarchive beschlossen glauben? Sie kommen alt zur Welt, wie so oft die Söhne berühmter Väter. Die Mitarbeit an dem Bau der Neuzeit reizt sie nicht. Ein florentinischer Aristokrat in einem bürgerlichen Beruf, etwa als Arzt oder Ingenieur, ist ein unausdenkbarer Gedanke. Er richtet sich auch nur standesgemäss – im Spiel oder durch den Rennstall – zugrunde, nicht etwa durch Ausrüstung einer wissenschaftlichen Expedition oder durch die Erbauung eines Luftschiffs. In freiwilliger Entsagung, die nicht ohne ein inneres Pathos ist, verbringt er sein Dasein abseits von den Quellen des modernen Lebens, Auge in Auge mit der Vergangenheit und seinen Standespflichten. Wo gibt es aber auch solche Familienerinnerungen, solche Ahnensäle, wo sieht man im Rahmen einer kleinen Stadt so edlen Luxus, so glänzende Equipagen, so wahrhaft vornehme, weil einfache Verkehrsformen? Dort oder nirgends ist die alte Zeit mit ihrer Anmut und ihrem Adel zu Hause. Gar zopfig wirkt der letzte Nachklang des 40 einstigen Mäcenatentums, wenn noch heute der florentinische Nobile die Abhandlung eines Gelehrten über irgendein schwieriges Fachthema als Widmung zu seiner Vermählungsfeier entgegennimmt. Und gar ein Begräbnis in der Aristokratie ist ein Fest, auf das die ganze Stadt stolz ist, und das den Weiblein des Viertels durch die Anzahl der Wagen, der Kränze, der Fackeln ihren Bedarf an Unterhaltungsstoff und an Lottonummern liefert. Welchen Eindruck muss es in dieser feierlichen Welt hinterlassen haben, als einmal vor Jahrzehnten – die Erinnerung daran ist noch in Florenz lebendig – ein überschuldeter Nobile sich mit Putzkasten und Metallschildchen an der Ecke seines väterlichen Palastes niederliess und so lange den Vorübergehenden mit vielem Anstand die Schuhe wichste, bis ihm die Bezahlung seiner Schulden und das Reisegeld nach Amerika von der Verwandtschaft bewilligt war.
»Signore« bedeutet auf florentinisch einen, der nicht arbeitet. Die Sprache macht aber noch eine feine Unterscheidung. Wessen Eltern und Voreltern schon nicht zu arbeiten brauchten, der ist Signore. Wer diesen Vorzug sich selbst oder dem Glücke verdankt, der »macht« den Signore. Kann er sich auch nicht mit dem Dufte der echten Aristokratie umgeben, so wird er doch in seinen eigenen Augen ihresgleichen. Auf ein solches 41 Glückslos hofft ein jeder; das Lotto oder der bekannte Forestiere aus Märchenland soll ihm die Mittel dazu liefern. Jeder Fremde wird darauf angesehen, ob er der Erwartete ist. Ich könnte mir kein verächtlicheres Geschöpf denken als einen armen Forestiere in Florenz. Es gibt aber wahrscheinlich überhaupt keinen solchen, denn neben dem Abfindungswesen, mit dem die kleinen Leute sich dort helfen, gilt der barzahlende Fremde, auch wenn er noch so ärmlich lebt, immer für einen wohlhabenden Mann. In früheren bescheideneren Zeiten war so ein Forestiere in einem armen Bürgerhaus das gepflegte und vorsichtig gemolkene Stalltier; seine Anwesenheit war so viel wie eine sichere Rente, man erhielt auf ihn Kredit, und er konnte sogar, wenn er einmal sesshaft war, der Tochter statt der Mitgift hinterlassen werden. Diese idyllischen Zustände sind vorüber, seitdem mehr Geld im Umlauf ist und die Ansprüche gestiegen sind. Aber immer noch ist der Fremde mit dem fabelhaften Mammon das Ziel aller Hoffnungen. Nach dem achttägigen Besuch des Königs von Siam phantasierte die Bevölkerung nur noch von den Trinkgeldern, die sich wie ein goldener Regen über das Hotel ergossen haben sollten; der Anteil eines Kellners, der meinem Hauswirt nahestand, war, bis er mein Ohr erreichte, schon auf 42 zwanzigtausend Franken gestiegen und wuchs noch immer. Denn die Einbildungskraft der Florentiner ist äusserst rege, und wenn das Geld ins Spiel kommt, geht sie gerne mit ihnen durch. Belauschen wir einmal ihre Gespräche, wenn sie unter sich sind:
Da sitzt ein Häuflein Stammgäste um einen billigen Mittagstisch. Es sind Leute aus ganz verschiedenen Schichten: ein General a. D., ein Unteroffizier, Beamte, alle in dürftigen Verhältnissen: ihre Armut und ihre Sprachkultur geben ihnen die gesellschaftliche Gleichheit. Sie sprechen von Geld und was ein jeder von ihnen damit anfinge, wenn er welches hätte. – »Was soll ich mit Geld?« sagt der Unteroffizier. »Ich habe fünfundsiebzig Centesimi Pension im Tag, damit kann ich auskommen.« – »Aber,« wird ihm eingewendet, »wenn Ihnen eine Million angeboten würde?« – »Nein, nein, eine Million würde mir nur Scherereien machen, ich will keine Scherereien, ich will keine Million.« – »Sie könnten ja das Geld für gemeinnützige Zwecke verwenden, Almosen geben, Stiftungen machen.« – Der Unteroffizier schweigt zuerst betroffen, dann wiederholt er, lebhaft abwehrend: »Nein, nein, nein, ich will nichts davon wissen. Arm bin ich geboren und arm will ich sterben. Mir genügt meine Pension! – Ich verzichte auf die 43 Million!« setzt er laut und mit Nachdruck hinzu, erhebt sein Glas zur Bekräftigung und trinkt es aus. Dann blickt er von einem zum andern nach der Wirkung seines gran rifiuto. Allein das Gespräch ist weiter gerauscht und niemand achtet mehr auf ihn. Da stösst er gekränkt sein Glas auf den Tisch: »Und ich, der ich eine Million ausgeschlagen habe, von mir soll gar nicht die Rede sein? Ist das etwa nichts?«
*
Was ist es nun, das dem Florentiner trotz der augenscheinlichen Verengung seines Horizontes den Vorrang unter den italischen Stämmen wahrt? Einzig seine Sprache, die der Niederschlag seiner grossen Vergangenheit ist. In der Sprache hat der Florentiner auf der ganzen Welt seinesgleichen nicht. Sie ist auch das einzige, was dort jung geblieben. Trotz dem öden Phrasenschwall, zu dem sie jahraus jahrein missbraucht wird, redet sie wie im Stande der Unschuld, wenn sie sich unbelauscht weiss. Dann hat sie all die unwiderstehlichen Natürlichkeiten und holden Plötzlichkeiten, die uns in Kindermunde entzücken. Aus dieser mündlichen Rede ist die Schriftsprache der alten Italiener entstanden mit ihrer bezaubernden Frische, ihrem Recht zum Aus-der-Konstruktion-fallen und andern 44 liebenswürdigen Schwächen, die zum Glück keinen Schulmeister fanden.
Die Sprache ist dem Florentiner nicht wie jedem andern Sterblichen das mehr oder minder handliche Werkzeug der Mitteilung, sie ist ihm höher als aller Zweck, eine andre und höchste Form des Daseins. Sie bezeichnet ihm nicht sowohl die Dinge, als sie sie erhebt und verwandelt. Seine Sprache webt ihm ein leuchtendes Festgewand über den Alltag, sie stellt sich zwischen den Bettler und sein Elend, sie hebt den Gefallenen aus dem Schmutze; durch sie kann der Unwissende zum Lehrmeister des Gelehrten werden. Sie geht als heiligstes Erbe von Geschlecht zu Geschlecht, und keiner hat teil daran, der nicht im Schatten des Cupolone geboren ist.
In der Aussprache liegt es nicht, denn diese hat Mängel, und ebensowenig im Tonfall, der leicht in einen Singsang übergeht. Dies der Grund, warum der Kenner sich die lingua toscana in bocca romana wünscht. Der Reiz kommt aus dem Worte selbst und seiner Entstehung. Denn die Sprache von Florenz ist ein ewiges Blühen, sie gefriert nicht zu stehenden Wendungen, sie verblasst nicht zu Abstraktionen, ihre Fülle und Bildkraft ist unerschöpflich. Der Mann aus dem Volke ist dem Gebildeten noch überlegen; überall drückt sich ja die Gesellschaft verwaschener 45 aus. Nie ringt der Florentiner mit dem Ausdruck, nie wird er dürftig oder banal, er hat je nach Bedürfnis das knappste und treffendste oder das ironisch umschreibende oder das durchsichtig verhüllende Wort zur Hand. Nicht in schon geprägten Sprichwörtern redet er, wie es sonst der Volksmund tut, wenn er sich in Aeusserungen über allgemein Menschliches ergeht, sondern in Bildern, die immerzu frisch aus der Natur genommen werden. Darum bezeichnet er das Sprechen aller andern Sterblichen mit dem Ausdruck parlare, nur für das seinige sagt er ragionare, gleichsam als ob die Rede des Toskaners einer höheren geistigen Ordnung angehöre. Wie die andern Stämme diesem Zauber erliegen, davon erlebte ich einmal in San Terenzo bei Spezia ein hübsches Beispiel. Der ganze Ort war mit zersprungenen Deckeln und Blechtöpfen ausgezogen, um einem neuvermählten Paare eine Katzenmusik – eine pentolata – darzubringen. Denn ein schöner Mensch von zwanzig Jahren hatte eine hohe Vierzigerin geheiratet, und der dortige Brauch verlangt, dass ungleiche Heiraten mit solchem Höllenspektakel gefeiert werden. Ich fragte, was den jungen Mann zu seiner Wahl bewogen habe, ob die Braut reich sei oder sich auf Liebestränke verstehe. Keineswegs, wurde mir geantwortet, sie sei mittellos und besitze auch 46 durchaus keine andern Reize als nur ihr bel parlare toscano, denn sie sei Florentinerin. Da staunte ich über den Idealismus dieses jungen Landmanns, dem das schöne Toskanisch mehr wert war als Jugend und Schönheit und alle materiellen Vorteile. Was ich damals nicht verstand, das verstehe ich heute. Das schöne Toskanisch ist in der Tat eine Mitgift, wie ein armer Sterblicher sie nicht besser wünschen kann, eine Feenmitgift, die Kohlen in Gold verwandelt und jede andre Mitgift überflüssig macht. Eine Florentinerin heiraten heisst in einer Welt voll Reichtum und Pracht das Bürgerrecht erwerben. Wenn sie redet und sich in ihrer schönen Sprache wie in einer Schaukel wiegt, so ist das nicht gewöhnliche Schwatzhaftigkeit, vielmehr macht sie sich durch ihre Rede, wenigstens für Augenblicke, zur Herrin und Besitzerin aller der Dinge, für die sie das Wort findet. Hier gedenke ich meiner alten Freundin Beppa, der Weisszeugverschliesserin aus dem Hotel de Rome. Ich liess mich nie, wenn ich dort wohnte, die Treppe nach dem vierten Stock verdriessen, wo sie unter Türmen von Wäsche thronte, denn es war ein Vergnügen, sich mit ihr zu unterhalten. Sie empfing mich wie eine Königin, jede ihrer Bewegungen war von einem unsichtbaren Purpurmantel umflossen. Die Beppa war guter Leute Kind, und 47 heute noch ist sie stolz darauf, dass keiner ihrer Vorfahren zu arbeiten brauchte. Ihr Vater war Pächter und hatte nur Befehle zu geben, ihr Onkel zog mit dem grossen Napoleon nach Russland und liess auf jener schrecklichen Brücke »über den Nil« sein Leben. Sie hätte in ihrem Stande heiraten und wie ihre Geschwister lebenslang die Hände in den Schoss legen können und Signora sein. Aber die Liebe machte einen Querstrich durch ihr Leben. Einer von der »weissen Kunst«, der arte bianca – ich glaubte zuerst, es sei von weisser Magie die Rede, sie meinte aber das Bäckerhandwerk –, gewann ihr Herz und wurde ihr Gemahl. Er war zwar selbst vom feinsten Teige und so gebildet, dass er nie ein gewöhnliches Wort in den Mund nahm, aber er gehörte eben doch zum Stande derer, die von ihrer Hände Arbeit sich nähren. Die Beppa stieg mit ihm äusserlich auf eine tiefere Stufe herab, und als er starb, liess er sie unversorgt zurück, dass sie nun selber gezwungen ist zu arbeiten. Und ewig betrauert sie das doppelte Unglück ihres Lebens: erstens, dass sie ihn genommen, zweitens, dass sie ihn so früh verloren hat. Aber mit der Feinheit ihrer Sprache macht sie zugleich den Standesverlust ungeschehen. Niemand kann sie wie eine Bäckersfrau behandeln. Heilige Illusion, Mutter des Glücks und Tochter des bel toscano!
48 Wer aber die Sprache ihre ganze Macht bis zur Selbstherrlichkeit entfalten sehen will, der wohne einer Schwurgerichtssitzung bei; er wird da ein unentgeltliches Schauspiel geniessen, dessen Aufregungen die des Theaters übertreffen, und wird zugleich binnen weniger Verhandlungstage Geist und Charakter des Volkes besser kennen lernen als sonst in langjährigem Aufenthalt. Die Menge der Zeugen mag noch so gross sein, nicht einer unter ihnen ist langweilig. Männer und Frauen aus allen Schichten erzählen fliessend und unverwirrt mit solcher Anschaulichkeit und Lebendigkeit, dass man ihre sinnliche Wahrnehmungskraft und ihr psychologisches Feingefühl bewundern muss. Es ist unbewusste Kunst, die im Mark der Knochen steckt. Nun aber kommt die bewusste. Da sind die Verteidiger und ihre gegnerischen Kollegen von der Nebenklage, der Staatsanwalt, die Richter, der Präsident. Wie grimmig sie sich untereinander anfallen, es ist nicht böse gemeint, sie huldigen alle einer gemeinsamen Göttin, der Sprache. Hat einer von ihnen eine besonders glückliche Wendung, ein besonders treffendes Wort gefunden, so läuft eine Welle des Beifalls durchs Publikum, die Geschworenen lächeln stillvergnügt, der Widerpart nimmt das glückliche Wort auf und flicht es in schmeichelhafter Weise seiner Entgegnung ein, 49 der Präsident verwendet es in seinem Resümee, und kein Berichterstatter versäumt, es am Abend seinen Lesern vorzusetzen. Ja, es freut sogar den Angeklagten hinter seinem Gitter, dafern er Florentiner ist. Ist er kein Florentiner, so weiss der Verteidiger diesen Umstand als Entschuldigung seiner sittlichen Minderwertigkeit auszunützen: Der Arme, er ist nicht unter der Kuppel des Brunnelesco geboren, die Sonne von Florenz hat nicht in seine Wiege geschienen, wie soll er wissen, was gut und böse ist?
Unvergesslich bleibt mir die letzte Verhandlung eines sensationellen Mordprozesses, den ich durch alle Sitzungen verfolgt hatte. Ein alter Mann und seine Geliebte standen unter der Anklage, gemeinsam den Gatten der letzteren ermordet zu haben. Die Tat und ihre Beweggründe waren scheusslich, die Beweise erdrückend, es konnte sich nur fragen, wen von den beiden Angeklagten die Hauptschuld traf. Wochenlang hatten die Verteidiger des einen und des andern Teils gerungen und die Last hinüber und herüber gewälzt. Der Alte sah abstossend aus, die Megäre aber war jung und schön! Wie sie hereingeführt wird und in ihrem »Käfig« Platz nimmt, hängen die Augen des Publikums mit Neugier und Bedauern an ihr. Die Carabinieri, schlanke, jugendliche Gestalten drängen sich um das Gitter und sprechen 50 ihr Trost zu. Man kann zwar nicht hören, was sie sagen, aber der Sinn ist offenbar der, dass die Suppen des Staatsanwalts nicht so heiss gegessen werden, wie er sie anrichtet. Dieser allein ist ungerührt. Er hat das Mörderpaar schon mit dem kalten Zwang seiner Beweisführung vernichtet; um die Herzen der Geschworenen zu stählen, liegen vor ihm die blutigen Kleider des Ermordeten. Jetzt aber erhebt sich der Paladin der Inkulpatin zu einer glanzvollen letzten Rede. Er steht da, hoch und kühn, und trotz dem wallenden Talar mit den Gebärden eines Ringers. Mit vorgestossenem Zeigefinger sticht er die Schlüsse des Staatsanwalts nieder. Er lässt alle Lichter der florentinischen Dialektik spielen, er ist logisch, beissend, ironisch. Sind die juristischen Pfeile verschossen, so lernt man ihn erst in seiner ganzen Stärke kennen. Jetzt verteidigt er nur noch das Geschlecht. Jeder Nerv zuckt, die Stimme zittert, die Augen quellen über, und die ganze Versammlung weint mit. Dann sinkt seine Stimme zu Boden und windet sich im Weh der Menschheit – wir liegen alle mit ihm zerschmettert –, plötzlich rafft er sich auf und lodert als Feuerflamme in die Höhe. In diesem Augenblick ist das Wunder eingetreten, das Unmögliche möglich geworden, in diesem Augenblick glaubt er selbst an die Unschuld seiner Klientin. Seine 51 Erschütterung sendet elektrische Wellen in die Menschenmenge, und die Illusion wird allgemein. Ein Beifallstosen erhebt sich, gegen dessen elementare Gewalt der Präsident machtlos ist; eben so gut könnte man die Hörer schweigen heissen, wenn d'Andrade gesungen hat. Ich glaubte, mit dieser Leistung habe die Redekunst ihr Aeusserstes getan. Aber es sollte noch besser kommen. Jetzt ergreift auch der Verteidiger des Alten das Wort. Der neue Redner ist Sizilianer und, wie mir gesagt wird, ein Stern erster Grösse, der die Florentiner noch überflorentinert. Er nimmt die Waffe der Rhetorik gleich da auf, wo der andre sie niedergelegt hat, das Grob-tatsächliche ganz beiseite lassend. Sein Schwung überfliegt noch den des Vorredners wie der Wurf des Odysseus die Würfe der Phäaken. Aetnafeuer bricht aus seinem Munde, er schäumt, er stöhnt – auf mich freilich wirkt dieser künstliche Ausbruch nur befremdend, aber die Einheimischen versetzt er in orgiastischen Taumel. Nicht dem Manne noch dem Weibe fällt mehr die moralische Täterschaft zu, sondern der Gesellschaft, der verrotteten, ungerechten Gesellschaft, die sie schuldig werden liess. Auf den breiten Rücken dieses Karnickels hageln die Worte wie Peitschenschläge, sie legen sich wie schützende Arme um den Verbrecher. Zuletzt wird noch der unglückliche 52 Belastungszeuge, der den Ausschlag gegeben hat, so verdonnert, dass er sich in die Erde verkriechen möchte. Das Volk ist überwältigt, ausser sich, die Aula wankt vom Applaus, die Geschworenen sind blass geworden; ich meine schon die Wage in der Hand der Göttin Justitia schwanken zu sehen. Aber ich kannte meine Florentiner schlecht. Als der Gerichtshof sich zur Fällung des Urteils zurückzog, fragte ich meinen Nebensitzer, einen Studiosus juris, der sich laut an den Kundgebungen beteiligt hatte, ob er glaube, dass der Spruch auf mildernde Umstände lauten werde. Da sah ich ihm an, dass er einen ganz andern Apparat einschalten musste, bevor er antwortete: »Mildernde Umstände? Bei einem solchen Verbrechen? Das ist ja gar nicht möglich.« Nun begriff ich erst, dass hier Leben und Kunst zwei völlig getrennte Dinge waren.
Unterdessen hatte ein Carabiniere, entrüstet über den Lärm, der immer weiter ging, die Bühne erstiegen und mit sittlichem Ernst das Publikum angesprochen: »Das wollen Florentiner sein! Und Florenz nennen sie die Wiege der Gesittung! Schöne Gesittung! Ich sehe ganz andre Dinge als Gesittung hier!« Ein tosendes Gelächter empfing diese kleine Standrede. »Bravo, bravo, Carabiniere! Wohl gesprochen!« rief es von allen Seiten, denn die unwilligen Gebärden und die 53 harte piemontesische Aussprache des Wackeren wirkten mit unwiderstehlicher Komik auf die bewegliche Menge.
Jetzt aber wird der Gerichtshof angekündigt, bei dessen Wiedereintritt sich Totenstille verbreitet. Die Angeklagten werden wieder hereingeführt und das Urteil verlesen. Siehe da, die lodernden Flammen der Rhetorik haben der Gerechtigkeit auch kein Härchen versengt. Der Spruch lautet für beide auf das höchste vom Gesetz vorgesehene Strafmass, und gäbe es in Italien eine Todesstrafe, so wäre wahrscheinlich diese verhängt worden. Die Vorstellung ist zu Ende. Die Kämpen der beiden Teile, die sich so lange befehdet haben, eilen aufeinander zu, schütteln sich die Hände und beglückwünschen sich gegenseitig zu ihren Bravourarien, die vielleicht nur die Vorläufer einer Wahlschlacht gewesen sind. Und was mich am meisten überrascht: das Volk nimmt den Wahrspruch mit Befriedigung auf. Der Dunst hat sich verzogen und der alten kühlen Verstandeshelle Platz gemacht. Da hatte ich den ganzen Florentiner: er berauscht sich an der Phrase, aber er glaubt nicht an sie.
*
Durch viele Jahre schlief ich in einem Eckzimmer, dessen Türfenster mit der durchbrochenen 54 Brustwehr auf eine enge, hallende Verkehrsstrasse ging. Diesem Fenster verdanke ich vielleicht meinen tiefsten Einblick in das Wesen der Bevölkerung. Während ich mit dem einen Ohr der Nachtigall zuhörte, die drüben im Lorbeergebüsch des Gartens sang, musste ich mit dem andern von der Strasse her die Heimlichkeiten meiner Nebenmenschen in mich aufnehmen, ich mochte wollen oder nicht. Unter meinem Fenster, dicht an der Strassenecke, brannte eine Gaslaterne, deren trübes Licht die nächtlichen Spaziergänger wie Motten anzog; ob eine lärmende Gruppe oder ein flüsterndes Paar in die Gasse einbog, vor der Laterne wurde haltgemacht, und dann kamen die persönlichsten und kitzlichsten Angelegenheiten zur Sprache; Briefe wurden vorgelesen, Geschichten erzählt, denn dass zu dem Auge der Nacht sich auch ein Ohr gesellen könnte, fiel den Leuten niemals ein. Wenn beide Fensterflügel offen standen, so hallte jedes Wort, als würde es im Zimmer gesprochen, und ich befand mich in meinem Bette wie in einem Beichtstuhl. Mit der Zeit lernte ich da die Haupttypen schon beim ersten Wort unterscheiden: den Kleinkrämer, den Spötter, den Bonvivant, den Schwadroneur. Neun Zehntel der Gespräche waren freilich sehr uninteressant, denn sie handelten vom »interesse«, wie der florentinische 55 Euphemismus für Geldangelegenheiten lautet. Auch die Verliebten lieferten einen ziemlich schalen Beitrag, denn, ich kann es nicht verschweigen, die Landsleute des Dichters der Beatrice sind in Liebessachen sehr nüchtern, wie schon der für ausländische Ohren so befremdende Ausdruck far l'amore beweist. Nur selten fiel da ein Wort, das aus den tragischen Tiefen der Menschheit kam.
In der Stunde nach Mitternacht, kurz vor dem Erlöschen der Laterne, schritt das Drama höheren Stiles vorüber. Da redete in beklemmtem Tone die Schuld und mit Donnerlaut die Anklage; mehr als einmal kosteten mich die Nachmitternachtsgespräche den Schlaf, weil ich mich auf einen blutigen Ausgang gefasst machte, zu dem es jedoch glücklicherweise wenigstens unter meinen Fenstern niemals kam. Aber auch in diese ernsteren Stunden klingelte die florentinische Schellenkappe herein. Einmal erhaschte ich im Flug einen Wortwechsel, der eine ganze Ehekomödie im Auszug enthielt, und die Gebärden, die das Gespräch begleiteten, sah ich gleichsam mit den Ohren. Ein älterer Bass und eine jugendliche Kopfstimme kamen zusammen die Strasse herunter, man merkte den Stimmen an, dass ihre Besitzer getrunken hatten. Der eine, Rechtsgehende, hatte einen schweren und ungleichen Tritt wie 56 ein Mensch von schwerfälliger Körper- und Geistesbeschaffenheit, der zur Linken ging leicht und schwingend, und er redete in beschwichtigendem Tone auf den andern ein: »Was könnte es Unehrenhaftes geben zwischen drei ehrenhaften Personen wie wir sind? Du ehrenhaft (zustimmendes Gebrumme von rechts), sie ehrenhaft (abermalige Zustimmung, aber schwächer), ich ehrenhaft.« – »Nein!« bricht plötzlich der Bass entrüstet aus. Kopfstimme gleichfalls entrüstet: »Wieso ›nein‹? Was soll das heissen?« Dann wieder gütlich zuredend: »Geh zu, du hast getrunken. Ich sage es noch einmal: Was könnte Unehrenhaftes vorgehen zwischen drei Menschen von Ehre wie wir sind? Onesto tu! Onesta lei! Onesto io!« Und um die Ecke verhallte die Stimme ohne weiteren Widerspruch. Die kleine Szene steht noch immer vor mir, als hätte ich sie mit den Augen wahrgenommen. Der Akzent, der Tonfall, die Gebärden, das drohende Vortreten des einen, das vorsichtige Ausweichen des andern und endlich der Sieg der Sophistik über die Zweifel der Einfalt – wie echt florentinisch war das alles.
Aber allzu nahes Sehen verzeichnet. Ich ward meines Logenplatzes in dieser Freien Bühne überdrüssig; er hätte mir noch am Ende Florenz verleidet. Erst als ich die kleine Gasse aufgab und 57 eine Wohnung hoch oben bei den Zypressen des Poggio Imperiale bezog, wo Kuppel und Campanile unter mir lagen und von den Ausdünstungen der Stadt mich nur noch das letzte geistigste Aroma erreichte, gewann ich wieder den richtigen Abstand zu den Florentinern. Nicht die Masse der Alltagsgesichter ergibt ja die wahre Physiognomie eines Volkes, sondern der Genius, der seine Züge trägt. An seinen Grossen will der Florentiner erkannt sein. Dante schliesse ich aus. Er gehört zu den Vorweltriesen und hat nichts gemein mit den Menschen unsrer Tage. Auch den ihm seelenverwandten Michelangelo, der schon fremd in seiner eigenen Zeit stand. So tiefen, tödlichen Ernst, so gewaltige, ungebrochene Einheit des Wesens staunte man schon damals an wie einen erratischen Block. Aber einer wohnt bei den Unsterblichen von Santa Croce, in dem der florentinische Charakter monumental geworden ist: Niccolò Machiavelli. Seine »Istorie fiorentine«, die sich wenig um geschichtliche Treue kümmern, sind doch so florentinisch im Geiste, dass jeder Satz dasteht wie ein Baustein zu dieser dämonisch berückenden Stadt. Allein dieser letzte der grossen Florentiner war zugleich der erste der grossen Italiener. Weil er einem Cesare Borgia zugetraut hatte, was erst ein Garibaldi vollbringen sollte, stieg er beladen vom 58 Fluche seines Jahrhunderts ins Grab, und sein unsterbliches Teil ging als ungelöstes Rätsel durch Länder und Zeiten. Auf seinem Heimatboden aber lernt man den »Principe« auch ohne Renaissancestudien ganz von selbst verstehen, denn dort wandelt der grosse Realpolitiker noch in Fleisch und Bein, nur dass er über keinen Staatsgeschäften mehr brütet, sondern über denen des Kramladens. Nein, wahrlich, in den »Principe« war kein Geheimnis versteckt, der Verfasser sagt dem Leser klipp und klar, wie er es meint. Mit seinem sonnenklaren Auge hatte der geniale Mann dem Tun der Grossen zugesehen und naiv, wie der Genius immer ist, nahm er keinen Anstand auszusprechen, was sich in der Anwendung als so brauchbar erwies. Aber »die Kinder dieser Welt sind klüger denn die Kinder des Lichts in ihrem Geschlecht«. Wenn der Rechtssinn aus den Handlungen völlig geschwunden ist, führt er im Wort seine Herrschaft weiter, die Heuchelei wird der letzte dünne moralische Faden, ohne den die Welt ins Chaos stürzen würde. Vor diesem Abgrund bäumt sie zurück. Die öffentliche Meinung bricht in einen Schrei der Entrüstung aus, wenn, was jeder im geheimen tut, zum offenen Grundsatz erhoben wird und, was das Merkwürdigste ist, diese Entrüstung ist echt. Die Gewalthaber konnten ihm seine schauerlich 59 harmlose Sachlichkeit erst recht nicht verzeihen, weil er sie blossstellte, und die vox populi verlangte einmal ein Sühnopfer. So stiess man ihn beladen mit allen Sünden seiner Zeit hinaus und taufte die politische Felonie für immer mit seinem Namen, ohne der Grösse seines Zieles zu gedenken. Er wurde gemieden wie ein Verpesteter, litt Verfolgung und Armut, hockte in schmierigen Spelunken unter der Hefe des Pöbels, mit schmutzigen Witzen auf den Lippen und mit grossen Gedanken im Kopfe; daheim aber in seinem Kämmerlein legte er die alten Staatsgewänder wieder an und prägte sich die Worte ein, die er den Mächtigen sagen wollte, wenn sie ihn an ihre Seite beriefen, während schon die Zeit über ihn wegrollte. So einfältig kann nur ein Genie sein, Messer Niccolò! In später Erkenntnis hütet jetzt Fiorenza die Asche des Ihrigsten der Ihren: tanto nomini nullum par elogium.
Aber von der Rückseite gesehen, heisst er Stenterello! Welch ein Verlust, dass jetzt auch der Stenterello an Altersschwäche zu sterben droht. Er ist der Rückschlag der Natur gegen die alles umwölkende Phrase. Feige, verschlagen, zynisch und urgemein, aber ein Kerl zum Entzücken, wenn er mitten in einem gestelzten historischen Drama oder einem tränenseligen Familienstück mit einer einzigen seiner 60 grundnüchternen Bemerkungen das Publikum so jählings auf den Boden der Wirklichkeit zurückstellt, dass von der Erschütterung das Haus wankt. Und was hat er selber für ein Mundwerk! Am schönsten ist er in der Heldenpose. »Me ne ricordero,« sagt der geohrfeigte Stenterello mit pathetischer Gebärde und – macht sich einen Knoten ins Taschentuch. Nur leider ist er in den letzten Jahren pöbelhaft geworden, was seiner Vergangenheit widerspricht! Denn der Stenterello ist von edlen Ahnen. In Lorenzo Magnifico steckte ein grosses Stück Stenterello, und in Machiavelli, der ihn dafür gescholten hat, ein noch grösseres. Wenn aber auch die Nationalmaske von der Bühne verschwindet, im Leben wird man den Stenterello immer wieder finden, so lange der Toskaner Toskaner bleibt. Könnte ich nur meinen wackern Natale, den Zimmermann von Ruffina, leibhaft hiehersetzen, wie er am Feierabend den ganzen Ort unterhält – der Stenterello in Person. In den Häusern, wo er arbeitet, umsteht ihn Gross und Klein, um ihn schwadronieren zu hören. Er hat die Kriege des Risorgimento mitgemacht und erzählt mit Begeisterung von dem Empfang, der den Truppen in Oberitalien zuteil ward, wie die schönsten Damen auf der Strasse knieten, um Blumen, Zigarren, Wein zu überreichen, wie die jungen Mädchen mit 61 zusammengebundenen Taschentüchern in drei Farben von den Balkonen wedelten und es von allen Seiten schrie: »Evviva i nostri fratelli, liberatori d'Italia!«, dass den Soldaten vor Wonne Hören und Sehen verging. Er erzählt es nicht, er spielt es uns vor und versetzt uns mitten hinein.
»Und wir Toskaner waren ihnen die liebsten, denn sie hatten il nostro ragionare noch nie gehört.« Nun gibt er Proben vom Dialekt jener Provinzen zum besten, dass die Zuhörer sich vor Lachen krümmen.
»Und in Tirol, wo die Frauen die Taille hier haben (an den Bauch greifend) und keine Beine. Wenn wir zu einer hingingen und Spass machen wollten: Oh come sei bellina! oder so was Aehnliches, gleich hiess es: Maledetto da Dio, va! Oder in Susa, wo die Frauen alle kropfig sind, und wenn eine keinen Kropf hat, findet sie keinen Mann (grosse Heiterkeit). Ja, ja, in Wahrheit, sie stösst auf Schwierigkeiten,« versichert er ernsthaft, und seine Trockenheit entfesselt neue Salven von Gelächter.
Mir erzählte er gleich bei der ersten Bekanntschaft mit grösster Unbefangenheit, wie er einst beim Landesschiessen in Mailand als einer der besten Schützen drei Treffer gehabt und wie er da dem Kontrolleur zugeflüstert habe: ›O haben Sie doch gütigst die Gefälligkeit und schreiben 62 Sie mir vier Treffer auf, ich gebe Ihnen drei Napoleon.‹ »Der Mann aber wandte schweigend den Kopf (er machte die Gebärde mit Erhabenheit nach), das war sehr schade, denn ich hätte den ersten Preis mit tausend Franken gewonnen. Das wäre eine Ehre gewesen für mich und für die ganze Toskana; so waren's nur sechshundert.«
Am gehobensten fühlt er sich, wenn er die drei militärischen Ansprachen, deren er in historischen Momenten Zeuge war, mit ungeheurem Pathos vortragen kann! Die des Generals Medici, als er sich im Trentino mit Garibaldi vereinigen sollte, ist ihm die liebste, weil sie die schwülstigste ist! Seine zweitbeste hat er vom General Pinelli bei der Unterdrückung des Brigantaggio im Neapolitanischen gehört. Da entzückt ihn besonders die Stelle von den preti colle bocche sozze, quei servi non di Dio ma di Satana, (den Priestern mit den Schandmäulern, diesen Dienern, nicht Gottes, sondern des Satans.) Die des Königs Viktor Emmanuel ist ihm eigentlich zu einfach, aber weil er schon im Zuge ist, nimmt er sie auch noch mit. Der Ausfall auf die Preti hat aber seine Gedanken in eine andre Richtung gezogen. Mit grossem Nachdruck gibt er mir jetzt sein materialistisches Glaubensbekenntnis zum besten.
»Ich sage immer, wenn ich einmal sterbe, so 63 will ich keinen Prete und kein Geläut. Wenn ich sterbe, so ist es, wie wenn ein Eidechs stirbt. Wozu die Umstände? Bin ich denn mehr als ein Eidechs? Die Glocken will ich nicht, die kosten Geld, und für einen Armen werden sie doch so schwach geläutet, als hätte man Angst, das Metall könnte sich abnutzen. – Signora, die Religion ist zu kostspielig für uns arme Leute.«
Guter Natale, trotz deinem Hass auf die Sutane wirst du doch einmal, wenn dein letztes Stündlein schlägt, nach dem Prete schicken, nicht aus Bedürfnis, sondern aus Vorsicht, denn nützt es nichts, so kann's nicht schaden; das grosse Nichts, denkst du, werde dir die Inkonsequenz nicht übelnehmen. Und so wie du denkt dein ganzer Stand.
Am Ende der Vorstellung, die er uns gegeben hat, wendet sich Natale-Stenterello mit naiver Selbstbewunderung an mich:
»Nicht wahr, das gefällt Ihnen? So viel Talent hätten Sie mir nicht zugetraut?« Und er erzählt es später allen, welch tiefen Eindruck er auf mich gemacht hat.
Auch die Boccaccio-Ader vertrocknet nicht im Volk. Wer die Leute in ihren Osterien sitzen und ihre frizzi und mottiSticheleien und Witze. aushecken, sich an ihren Anekdoten gütlich tun sieht, der weiss, das 64 ist noch derselbe Stoff, aus dem der Decamerone geschöpft ist. Nebst den mehr oder minder graziösen Schlüpfrigkeiten bevorzugen sie solche Geschichten, die irgendeine menschliche Schwäche oder Torheit in feiner Weise geisseln, ganz wie Messer Giovanni. Da ist z. B. ein Professor in den Grafenstand erhoben worden und weiss sich vor Selbstgefühl nicht zu lassen. Er spricht jeden Vorübergehenden an, tritt in jedes Café, um sich sagen zu hören: »Guten Tag, Herr Graf. Wie geht's dem Herrn Grafen?« Er macht Besuche, um seine neue Visitenkarte zu verteilen, er ist liebenswürdig gegen Betitelte und Unbetitelte und strahlt vor Wonne. Nur eines trübt sein Glück: sein witziger Nachbar, der Pizzicagnolo an der Ecke, bei dem er seit zwanzig Jahren jeden Abend in der Butike sass, per far due chiacchiereUm ein wenig zu plaudern., dieser Wursthändler und eingefleischte Liberale tut beharrlich, als wüsste er nichts von seiner Standeserhöhung und grüsst ihn nach wie vor: »Guten Abend, Sor Professore – ein heisser Tag, Sor Professore,« dass der arme Graf geärgert weggeht mit der Absicht, nicht wiederzukommen. Aber so eine alte Gewohnheit ist zähe, wenn es Abend wird, so zieht's ihn unwiderstehlich an sein gewohntes Plätzchen beim Ladentisch, wo ihm auch gleich der unvermeidliche 65 »Sor Professore« rechts und links um die Ohren schwirrt. Endlich hält er sich nicht länger. »Man sagt mir ›Signor Conte‹,« bemerkt er kurz, worauf der Schalk mit tröstlicher Miene und unsäglich überlegener Handbewegung: »Lassen Sie die Leute reden, Sor Professore, lassen Sie die Leute reden.«
Von einem solchen Spassvogel sagt der Florentiner, er habe »Spiritus feil«, und diese Ware steht noch ebenso hoch im Preise wie zur Zeit, wo man die Hofnarren für ganz Italien aus Florenz bezog, und der Herold der Republik selber das Amt des öffentlichen Lustigmachers versehen musste.
Auch die beffe und burleSpöttereien und Schwanke., wegen deren die Florentiner einst gefürchtet waren, sind noch im Schwange, und man hört ab und zu ein lustiges Stücklein von solch einer Fopperei, durch die ein Gimpel oder ein Superkluger dem Stadtgelächter preisgegeben werden soll. Freilich eine so unsterbliche burla, wie sie sich Brunneleschi und Donatello einst in grausamer Laune mit ihrem Freunde, dem »dicken Tischler«, leisteten, dem sie vorspiegelten, dass er ein andrer geworden sei, und dabei einen Apparat in Szene setzten, der uns noch heute beim Lesen den Verstand aus den Fugen treibt wie seinerzeit dem armen Dicken, 66 solch eine geniale Teufelei wird kein heutiger mehr aushecken, dazu brauchte es den Kopf, der die Wölbung der Domkuppel ersonnen hat. Dieser tolle Schwank erschien mir stets als die notwendige Ergänzung zu dem, was die Annalen von Florenz erzählen, denn er zeigt uns die Grossen, die wir sonst nur aus ihren Werken kennen und staunend aus der Ferne verehren, im Haus- und Arbeitskittel und an der festlichen Tafel, wo es so vertraulich und mitunter so maliziös herging. Man sieht den Riesengeist Brunneleschis seine gewaltige Konstruktionsgabe an die Erfindung einer Posse wenden, die die ganze Stadt in Atem hält, und die noch nach Hunderten und Hunderten von Jahren immer wieder nacherzählt wird. Neben ihm den viel gutartigeren Donatello, der doch bei dem bösen Streich von Herzen mitmacht, indem er seine stadtbekannte Zerstreutheit einmal aufs natürlichste spielt, um das Opfer ins Garn zu locken. Dieses Stückchen altflorentinischen Lebens wickelt sich vor unsern Augen ab, als ob es gegenwärtig wäre. Die Ratlosigkeit des armen Dicken, gegen dessen Seelenfrieden sich die grössten Geister der Zeit verschworen haben, seine melancholische Ergebenheit und stille Sehnsucht nach seinem früheren Ich, die er zuletzt nicht mehr zu äussern wagt, aus Furcht, auch aus seiner neuen Haut 67 wieder herausgejagt zu werden und am Ende gar niemand mehr zu sein. Die täppische Einmischung des Priesters, der ihm in gutem Glauben seine letzten Zweifel als Versündigung ausredet – man denkt dabei an eine ebenso zündende, nur minder redliche geistliche Ermahnung, die in Machiavellis Mandragola, wo der Priester, in diesem Falle wissend, seine Beredtsamkeit in den Dienst eines viel verfänglicheren Schelmenstreichs stellt. Der schweigsame, sphinxenhafte Brunneleschi steht leibhaft vor uns da, wir sehen sogar seine Mimik, wie er beim ausgelassenen Gelächter der Freunde nur sarkastisch die Mundwinkel verzieht und mit seinen durchdringenden, stillen Augen einem um den andern befriedigt ins Gesicht blickt, wie um zu sagen: das wäre gelungen! – Denn das hatten diese Grossen, auch die Besten unter ihnen, an sich, dass es in ihrer Nähe nicht geheuer war, sie waren gefährlich auch wo sie scherzten, und als echte Florentiner sahen sie in der treuherzigen Einfalt ohnehin etwas Straffälliges. Der Sterbliche, der mit Göttern zu Tische sass, musste darauf gefasst sein, auch einmal gezaust zu werden, dass die Federn flogen, wenn sie die Lust ankam, sich ein Spässchen zu machen.
Doch ich spreche von Donatello und Brunneleschi und wollte von den heutigen 68 Florentinern reden. Die Abschweifung ist nicht so unberechtigt wie es scheint. Das ist ja der Reiz des heutigen Florentiners, dass immer wieder irgendwo der Florentiner von ehedem hindurchscheint. Ja, ich wage zu behaupten, dass man in Florenz die Toten nur durch die Lebenden, die Lebenden nur durch die Toten verstehen kann.
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Zum Charakterbild des Florentiners gehört auch der unbezwingliche Hang zum Fluchen, in dem das Sprachbedürfnis seine wildesten Blüten treibt. Da jagt ein Accidente! den andern, wenn auch die schreckliche Verwünschung, die auf den Nächsten einen Schlagfluss oder etwas Aehnliches herabruft, noch ehe sie das Ohr des Dämons erreicht, in ein unschuldiges Accid-empoli! gemildert wird. Die Prädikate, die dem Namen des höchsten Wesens angehängt werden, sind ganz wahnwitzig und schwanken zwischen dem Unflätigen und dem schlechtweg Possenhaften wie Dio prete oder Dio pizzicagnolo! Ich glaube, ausser in der Stadt des Aristophanes ist das Heilige nirgends so mit dem Schmutzigsten vermengt worden wie im Munde der florentinischen Droschkenkutscher, die die Lehrmeister der Strassenjugend sind. Es gibt in diesem Fach wahre Künstler, die ihre Flüche mit Sprachgefühl 69 ausarbeiten und sie feinziseliert wie neue Münzen unter das Volk werfen. Man kann sogar Zeuge eines Wettfluchens werden, wie man vormals Stegreifdichter um die Wette singen hörte. Dahinter steckt nicht einmal eine blasphemische Absicht, es ist nur eine der vielen Wunderlichkeiten, in denen der »fiorentino spirito bizzaro« sich gefällt. Ich denke mit Schrecken an die grausamen Strafen, die in alter Zeit auf das Fluchen gesetzt waren und die doch das Nationallaster nicht ausrotten konnten.
Welch feine Schleier so eine alte Kultur bisweilen um die Laster spinnt! Wenn Dienstboten stehlen – es geschieht in Florenz durchaus nicht öfter als anderwärts – so tun sie es nicht geradezu, sondern in einer bedingten Weise, unter allerlei innerem Vorbehalt, der ihre Selbstachtung rettet. Ein florentinischer Diener findet z. B. die gespickte Brieftasche seines Herrn, schiebt sie wie zufällig beiseite und deckt sie mit alten Papieren zu. Nicht um die Welt würde er sie in die Tasche stecken. Dann hilft er dem Herrn mit Eifer suchen: »Signoria wird sie verlegt haben. Vielleicht ist sie in der Kupferschale da oben.« – »Unsinn, wie käme sie da hinauf!« Später schafft er sie wirklich dahin; er will der Herrschaft noch die Möglichkeit lassen, das Geld wiederzufinden. Es ist gewissermassen ein 70 Gottesurteil, das er zwischen sich und seinem Herrn entscheiden lässt. Nach Monaten stülpt er einmal ganz absichtslos – er glaubt selbst, dass es absichtslos geschehe – die Kupferschale um, und die Brieftasche fällt heraus. Jetzt steckt er fröhlich das Geld ein, denn sein Herr hat es ja längst verschmerzt und vergessen, die Sache ist schon so gut wie verjährt, und er nimmt nur herrenloses Gut an sich. Der Finder kann ruhig fortfahren, sich für einen ehrlichen Mann zu halten und streng gewissenhaft über das Mein und Dein zu denken. In der Sprache der Leute heisst ein solches Verfahren spostare – verlegen, und unmöglich kann ja verlegen ein Synonym für stehlen sein. – Das Uebervorteilen dagegen wird nicht bemäntelt, weil es gar keinen Tadel nach sich zieht. Wer einen vertrauensseligen Tölpel von Forestiere überlistet, der befolgt nur den Willen der Natur, die den Einfaltspinsel eigens zu diesem Zweck erschaffen hat, und erweist die Feinheit seines eigenen Geistes. Hier aber läuft die Zivilisation in eine so feine Spitze aus, dass sie zuweilen abbricht. Der grosse Kaufmannsgeist von ehedem, der die Mittel zu der ungeheuren Entwicklung geschaffen hat, ist verschwunden; dem florentinischen Händler von heute ist ein leichter, augenblicklicher Vorteil lieber als ein gleichmässig fortlaufender Gewinn. Für den 71 Spatzen in der Hand lässt er gar zu oft die Taube auf dem Dach entfliegen. Wenn man eine Zeitlang von einem Lieferanten sehr gut bedient wurde, so ist es rätlich, zu wechseln, denn es steht ein Umschlag bevor. Ja man kann sogar in einem Laden auf die Klage: »Warum bedienen Sie mich denn viel schlechter als den Herrn Soundso, der ja viel weniger bei Ihnen kauft?« die überraschende Antwort erhalten: »Cara Lei – Sie bezahlen mich bar, und der Herr Soundso lässt mich bis Neujahr warten, da muss ich mich anstrengen, damit ich zu meinem Geld komme!«
Dass ihr Ideal so verschieden ist von dem unsrigen, das macht uns die Italiener und vor allem die Florentiner oft so unverständlich. Solch einem Ding wie der Nibelungentreue könnte man auf italienischem Boden noch eher in Fleisch und Bein als in der Dichtung begegnen. Ein »Principe« hätte in Deutschland eher einmal Wirklichkeit sein können als Ideal. Darum denken und fühlen wir so oft aneinander vorüber, auch wenn wir uns im Handeln begegnen. Einen sicheren gemeinsamen Boden haben wir nur im ästhetischen Ideal. Ein richtiger Florentiner hat auch vor nichts wirkliche Ehrfurcht als vor der Schönheit. Mit dieser Fähigkeit zu höheren Genüssen hängt seine Genügsamkeit in materiellen Dingen zusammen. Noch vor wenig Jahren galt ein 72 künstlerischer Ruhm in Italien erst für voll, wenn Fiorenza ihm die Weihe erteilt hatte, ebenso wie sie jede neue Erfindung aus der Taufe hob. »Il popolo di Firenze ha parlato« hiess es dann; es war der letzte Nachklang der Zeiten, wo Florenz der ganzen Welt die Gesetze des Schönen gab. Leider wird das anders, seit das neue Italien auch dem Florentiner so nach und nach den monumentalen Geschmack verdorben hat und er sich schmeichelt, in seinen modernen Plätzen mit ihren barbarischen Denkmälern und den schlecht aufgeputzten Schauläden ein Klein-Paris zu besitzen. Der bauliche Flitterstaat versteht sich gut mit den im Fenster liegenden Fähnchen, für deren Beschaffung ein kleinbürgerlicher Haushalt im Winter friert und sich das ganze Jahr hindurch nicht satt isst. Ein altes Sprichwort sagt, der Mailänder liebe den Braten und der Florentiner den Rauch. Aber spricht sich nicht auch in dieser Wahl noch ein verirrter Idealismus aus? Und ist von dem alten Kunstsinn des Volkes nicht immer noch so viel übrig geblieben, dass man an Festtagen Landleute und Soldaten zu Haufen in den Galerien antrifft, und dass ihre Bemerkungen über die Bilder und Statuen nicht die schlechtesten sind, die an dieser Stelle fallen?
Seltsam wird uns immer der geringe Natursinn dieses kunstfrohen Volkes berühren. An den 73 Tieren nimmt es nur Interesse, soweit man sie braten und essen kann – die Katzen ausgenommen, die den allgemeinen Schutz geniessen – und die Flora ist ihm überhaupt nicht vorhanden. Wenn man ein Landkind nach dem Namen einer Blume fragt, so antwortet es verwundert: »Blume«. Werden wir dringlicher, so erhalten wir am Ende den freundlichen Bescheid: »Dica come vuole«, wodurch die Namengebung zuvorkommend in unser eigenes Belieben gestellt wird. Was die Bäume betrifft, so kennt und nennt das Volk zwar die immergrünen, wie Pinie und Zypresse, Lorbeer und Steineiche, aber von den blattwechselnden unterscheidet es einzig die Pappel, und diese nennt es schlechtweg »Baum«, alle übrigen fallen ihm unter die Kategorie »Pflanzen«. Dass Baum (albero) alle einstämmigen Holzgewächse bezeichnet, davon ist kein Florentiner zu überzeugen.
Ich liess mir einmal von unserem Schreiner bei Bestellung eines Schrankes die verschiedenen Holzarten erklären und fragte schliesslich, ob er auch die Bäume kenne, von denen die Hölzer kommen. Natürlich verneinte er, wie ich erwartet hatte, er sei ja kein Gärtner. Als ich ihn schalt, meinte er, ich würde schwerlich einen Schreiner finden, der es anders halte. Freilich, fügte er in dumpfem und warnendem Tone 74 hinzu, einen habe er gekannt, der sei immer herumgegangen, die Leute zu belehren: ›dies ist eine Esche – das eine Ulme – jenes eine Linde‹, »Aber,« schloss er in tiefem Ernst, wobei seine Stimme bis unter die Erde sank, »das grosse Wissen ist ihm nicht zum Heile gewesen, der Mann hat ein schlechtes Ende genommen.« Inwiefern die botanische Erkenntnis einem Menschen verderblich werden kann, ob der Unglückliche über seinem Lehreifer das Schreinern vergass oder ob ihn am Ende ein Luziferischer Hochmut auf seine Ueberlegenheit zu Falle brachte, konnte ich leider nicht erfahren.
Dieser alte Schreiner, der neben unsrer Remise einen Unterschlupf und Schutz vor seinen Gläubigern gefunden hatte, war eine köstliche Figur. Er hiess Giovanni und hatte zu dem Namen auch das Aeussere des Wüstenheiligen, denn auf seinen nie gewechselten Kleidern wuchs das Gras, daher man nur aus einiger Entfernung mit ihm verkehren konnte. Trotzdem machte er noch mit Siebzig Eroberungen. Er rühmte sich, siebenundzwanzig Frauen im Laufe seines Lebens mehr oder weniger legitim geliebt und unterschiedliche »Schwäger« aus Notwehr umgebracht zu haben. Mit einem langen Messer stellte er mir einmal flammenden Auges eine solche Valentinszene mimisch dar. Seine letzte 75 Liebe, die alte hässliche Giulia, die in unserem Hause diente, quälte ihn arg mit Eifersucht. Zuweilen prügelte er sie, um sich Ruhe zu verschaffen. Dann mischten sich aber die Dienstmädchen aus der Nachbarschaft ein und schrien: »Lass die Giulia gehen! Sie ist dir nicht angetraut, also hast du kein Recht sie zu schlagen.« Die Giulia wollte um jeden Preis geheiratet sein, dem stand jedoch Giovannis Ehrgefühl im Wege. Sie hatte sich in ihrem Dienst vierzig Franken erspart, und er besass nichts als seinen Hobel. Die Partie lag also zu ungleich, war er doch kein Mitgiftjäger. »E fare cosa indegna, mai!« Man musste das Pathos hören.
Zu den unvergesslichen Originalen gehört auch jener krumme Bettler, der seit Jahrzehnten oben am Poggio Imperiale seinen Standplatz hat. Er sitzt auf dem niedrigen Mäuerchen unter den Zypressen, atmet die warme Luft und den sonnigen Harzgeruch ein, und mit der Haltung eines Mannes, der einen öffentlichen Posten bekleidet, erhebt er durch blosses An-den-Hut-greifen von jedem gut angezogenen Spaziergänger seinen kleinen Zoll. Weniger als einen Soldo nimmt er überhaupt nicht an, das ginge ihm gegen die Standesehre. Er hatte immer die neueste Zeitung vor sich ausgebreitet, und wenn er mit mir zufrieden war, klärte er mich über die 76 europäische Lage auf. Ging ich einmal vorüber, ohne ihm etwas zu geben, so grüsste er mich das nächste Mal gewiss nicht mehr, und ich musste selber wieder anknüpfen, wenn ich die alte Kundschaft nicht ganz verlieren wollte. Der Alte ist der Freund und Gönner aller Dienstmädchen aus der Nachbarschaft, die ihm die kleinen Kinder zur Obhut überlassen, während sie selbst höheren Interessen nachgehen. Der Briefträger gibt ihm, bevor er die Stufen der hohen Villen hinaufsteigt, die schwere Tasche mit den Wertbriefen zur Aufbewahrung. Dem Manne ist zu trauen. Dass er ein Narr wäre, sein sicheres, sorgenfreies Dasein an der Sonne und das Ansehen, das er geniesst, gegen die Wechselfälle einer Verbrecherlaufbahn zu vertauschen! Am Sonntag »arbeitet« er nicht, er trägt alsdann einen feinen Ueberzieher aus grauem Tuche und grüsst mit einer Miene, die mich in der Entfernung hält. Während der heissesten Wochen des Jahres verschwindet er ganz; es heisst, dass er mit seinem Ersparten eine Sommerfrische aufsuche und dort als Mann von Welt lebe. – Ueberhaupt die florentinischen Bettler! Welch eine Menge ausgesuchter Spielarten gibt es da. Einen weiss ich, der nur bei Künstlern Geschäfte macht. Man sieht ihn oft in tiefer Versunkenheit mit Kohle mitten auf den Gehsteig zeichnen, und wenn man bei ihm stehen bleibt, 77 so erfährt man, dass er ein armer Künstler sei, dem das Geld für Leinwand oder Ton fehle, der deshalb seine Eingebungen den Pflastersteinen anvertrauen müsse. Und während er redet, lässt er mit breiten, sicheren Strichen die Umrisse einer Madonna mit dem Bambino auf dem Strassenpflaster entstehen, die er zuvor unsichtbar mit der Schablone vorgezeichnet hat. Ein ganz geriebener Komödiante trieb lange Zeit auf den einsamen Wegen zwischen Fiesole und den Kastellen sein Wesen. Er legte sich mit blutüberströmtem Kopfe quer über den Weg und liess sich von mitleidigen Fremden aufheben und königlich beschenken. Das erstemal, als ich ihn sah, hatte er sich besonders grausig hergerichtet. Die kleinen mit Tierblut getränkten Zeugläppchen, die er auf den Kopf geklebt hatte, sahen aus wie klaffende Wunden. Aber jenes Tages hatte er kein Glück, denn unser Kutscher, der wackere Beppone aus dem Hotel de Rome, wollte auf unsre entsetzten Schreie nicht anhalten, sondern fuhr hart an den bewusstlos Daliegenden heran und zog ihm einen pfeifenden Peitschenhieb über den Rücken, dass er auffuhr wie eine Rakete und fluchend über den Graben sprang.
Und gar die florentinischen Strassentypen! Was gab es in den achtziger und neunziger Jahren noch für merkwürdige Erscheinungen, die 78 ebenso zum Stadtbild gehörten wie die steinernen Monumente. Das erste, was man damals bei der Einfahrt in die Arnostadt erblickte, war die Kuppel, der Campanile und die Beppa fioraja. Mit dieser Veteranin der Sträusschenverkäuferinnen, poetisch Blumenmädchen genannt, ist eines der drei Wahrzeichen von Florenz verschwunden. Hochbusig, im schwarzen Seidenkleid mit der schweren Goldkette, den nickenden weissen Florentiner Strohhut auf dem Kopf und die Spuren zerstörter Schönheit im verwitterten Gesichte, erschien sie Tag für Tag zu jedem Hauptzug auf dem Bahnhof und drängte den aussteigenden Fremden ihre Sträusschen auf. Sie war Rentnerin und Villenbesitzerin, denn sie hatte sich in jüngeren Jahren ein Vermögen erworben, aber nichts konnte sie abhalten, zu jeder Jahreszeit bei Wind und Wetter wie in den Tagen ihrer Jugend ihr Blumenkörbchen auf den Bahnhof zu tragen. Ich bewahre ihr ein gutes Andenken, denn sie war die Gönnerin der jungen Mädchen und hat mir manches duftende Sträusschen unentgeltlich angesteckt. Gleich ihr waren übrigens alle florentinischen Blumenmädchen, die ich kannte, ehrwürdige Matronen.
Der letzte Ueberlebende von den Florentiner Originalen ist der grosse Palazzi. Er ist fast so hoch wie der Turm des Palazzo Vecchio und 79 geht immer in wunderlich schlampigem Anzug mit einem gewaltigen Knüttel in der Hand. Wenn er allein auf der Strasse daherkommt, fällt seine Grösse gar nicht auf, so ebenmässig ist er gebaut. Erst wenn ein normaler Sterblicher an ihm vorübergeht, erschrickt man über den Abstand. Weil er in dem Luftraum, zu dem er aufragt, keine Gesellschaft findet, spricht er immerzu mit sich selbst. Aus seinen Rocktaschen, die sich ungefähr in der Höhe unsrer Köpfe befinden, ragt immer ein Bündel Geschriebenes oder Gedrucktes, seine Gedichte, von deren Vertrieb er lebt. Dabei ist er harmlos wie ein Kind. Die Dreistigkeit der Gassenjungen wehrt er mit einem väterlich strafenden: »Ragazzi! ragazzi!« ab, und wenn sie gar zu unverschämt werden und etwa an einem glühenden Sommertag sich mit gereckten Hälsen an den Riesen herandrängen, um zu fragen: »He, Palazzi, ist's bei dir da oben kühler?« so fasst er wohl auch einen von ihnen vorsichtig beim Kragen, um ihn ein wenig zu schütteln, und dann sieht es ganz unheimlich aus, wie die grosse Hand von oben durch die Luft herunterkommt. Ernstlich böse wird er nur, wenn sie ihn an das Gerücht erinnern, dass er sein Skelett der Specola verkauft habe als Seitenstück zu ihrem riesigen Patagonier. Er hat sich sogar schon durch Zeitungserklärungen gegen diese 80 Fabel verwahrt; aber immer kommt wieder einmal einer der kleinen Quälgeister heran, um sich nach dem Preise seiner Knochen zu erkundigen. Es braucht nur so ein Wichtlein im Vorübergehen zu fragen: »Per quanto?« so ist es mit der Geduld des Riesen vorbei: er schwingt seinen grossen Stock, den er neuerdings auch noch mit Stacheln hat besetzen lassen, und schreiend stiebt das Rudel auseinander.
Eine ganz besondere menschliche Abart sind diese florentinischen Gassenjungen. Sie verkörpern vielleicht noch mehr als die Erwachsenen den Geist der Rasse. Ihr Selbstgefühl und ihre Zungenfertigkeit sind unbezwingbar. Sie leben vom Aerger, den sie ihren Nebenmenschen bereiten; aber ihre Bosheit verübt keinen sachlichen Schabernack, sie tobt sich ganz in der Sprache aus. Diese Bosheit heisst mit ihrem italienischen Namen malizia, ein unübersetzbares Wort, denn es bedeutet eine wohlerzogene Tücke, die nicht ohne Liebenswürdigkeit ist. Für alles, was ihnen befremdlich in die Augen sticht, erfinden die monelli ein Spottwort, das sich dem Gegenstand anpasst wie ein Handschuh. Als nach der Enthüllung der Domfassade eine sehr beleibte Dame aus dem Wagen stieg, um das neue Werk in Augenschein zu nehmen, stellte sich solch ein monello vor ihr auf und sagte: »Oho, die Kuppel 81 bewegt sich herunter und besichtigt ihre Fassade.« Verrocchio hat in seinem kleinen David die geschmeidige Frechheit und witzige Grausamkeit dieser Bengel verewigt. Nicht, dass er dem Goliath das Haupt abgeschlagen hat (das glaub' ihm, wer kann!), dass er geborener Florentiner ist, macht das Bürschchen so dreist, und das Schwert, womit er den Feind gefällt hat, kann nur seine Zunge gewesen sein. – Ein mir befreundeter Herr aus dem Veneto, der schon seit zwanzig Jahren in Florenz lebt, wurde einmal, als er vom Bahnhof kam, von solch einem monello belästigt, der sich ihm durchaus als Fremdenführer aufdrängen wollte, bis der Herr endlich im Aerger rief: »So geh doch deiner Wege, du siehst ja, ich bin selber aus Florenz.« Das Bürschchen hatte kaum den Akzent des Ankömmlings vernommen, als es im unverfälschten Dialekt von San Frediano mit spöttischer Ueberlegenheit sagte: »Halten Sie's wie Sie wollen. Ma di Firenze La 'unn è (Ella non è). Sprach's und schwang sich triumphierend von hinnen.
Ich könnte kein Ende finden, wenn ich das Wesen der Florentiner erschöpfen wollte, das sich in lauter Widersprüchen darstellt. Sie sind gutmütig und arglistig, nüchtern und phantastisch, poesievoll und zweifelsüchtig. Ihre Tugenden gehören ihnen selbst, ihre Untugenden sind zumeist 82 das Altern ihrer Rasse. Sie sind noch immer die Florentiner der Renaissance, aber in Spiritus aufbewahrt und von der Länge der Zeit zusammengeschrumpft. – Oft hat ihre Gleichgültigkeit gegen den eigenen Niedergang mich erschüttert. Ein jeder sieht's und weiss es, dass seine Welt um und um morsch ist, und spricht über die Ursachen wie ein Erleuchteter, aber er fühlt weder Schmerz noch Zorn. Im Alter erlischt ja das Empfinden früher als die geistigen Fähigkeiten.
Aber siehe! Man spricht vom Altern, und schon hebt leise die Verjüngung an. Eine Nation hat ganz andere Hilfsquellen als ein Individuum, und auch diesem erkennt ja Goethe, wenn es von genialer Anlage ist, wiederholte »Pubertätszeiten« zu. Eine geniale Rasse braucht noch weniger an sich selbst zu verzweifeln. Leise, leise beginnt allenthalben in Italien ein neues Leben sich zu regen. Das Signoresein ist nicht mehr der höchste Traum des Italieners, er hat in der Arbeit die grosse Welterlöserin erkannt. Sein glühendster Freund von ehedem war in Hinsicht auf seine Zukunft hoffnungslos wie er selber. Heute haben wir alle, die ihn lieben, die Ueberzeugung, dass ihm eine neue Rolle unter den Nationen beschieden ist. Er wird nicht wie voreinst die andern Völker überstrahlen, denn diese haben unterdessen ihre Bärenhaut abgeschüttelt, und die 83 Gaben sind jetzt gleichmässig verteilt. Aber sein sonnenheller Genius wird das verbreiten, was den andern fehlt, die Freude. Als letzter unter den italischen Stämmen wird vielleicht der Florentiner in diesen Jungbrunnen hinuntersteigen, denn er weiss, wenn er heraufkommt, wird er nicht mehr Florentiner, sondern Italiener sein. Und darum besinnt er sich noch ein Weilchen.
Unterdessen saust und rasselt und tutet der moderne Verkehr durch die Strassen der Stadt, die sich immer mehr verändert. Die stille Königin hat sich vor diesem Lärm nur noch tiefer in sich selbst zurückgezogen, sie will sich noch glühender suchen lassen. Aber wer sie liebt, wem sie sich einmal entschleiert hat, der wird sie immer wieder finden.
O Fiorenza, wie schön und wie geheimnisvoll bist du! Auf deinen Zügen liegt das seltsam wissende, unergründliche Mona-Lisa-Lächeln, das dein Leonardo der unsterblichen Mutter abgelauscht hat, um die sterbliche Tochter damit zu schmücken, denn so hat nie ein irdisches Weib gelächelt. Schön bist du, wenn ich dich des Abends von den Colli herab in deinem lichtblauen Duft mit Türmen und Kuppeln glänzen sehe und mein Auge dem Arno von Brücke zu Brücke folgt bis zu dem fernen Westen, wo nur für Minuten wie ein Luftbild die schroffen Marmoralpen 84 heraufsteigen, um dir den Gruss des Meeres zu bringen. Noch schöner vielleicht, wenn die Morgennebel um dich brauen und von der Sonne langsam weggesogen werden, bis du in grüner Schale wonnig gebettet daliegst. Am schönsten aber und am geheimnisvollsten erscheinst du mir, wenn ich des Nachts auf dem Ponte Vecchio stehe und das Lichterdiadem des Piazzale sich im dunklen Arno spiegelt. Dann ergreift mich eine trunkene Sehnsucht, dir näher, immer noch näher anzugehören, mich tief in deinem Schoss zu verbergen. Denn überall in der Welt ist Unrast und Unzufriedenheit, nur im Reich der Schönheit, am Herzen der stillen Königin ist der Friede.