Isolde Kurz
Florentinische Erinnerungen
Isolde Kurz

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Adolf Hildebrand

zu seinem sechzigsten Geburtstage

Zur Zeit, wo die Flut des Naturalismus sich wie durch einen Dammbruch über die Länder ergoss und alle tiefere künstlerische Kultur zu verwischen drohte, sass in Florenz im ehemaligen Kloster San Francesco a Paola ein Mann, der in der Stille und Verborgenheit schaffend allen denen, die sich weder vom Strome mitreissen lassen noch resigniert zur Seite treten wollten, einen Halt und Anker gab und ihnen durch sein Dasein die Gewissheit verbürgte, dass dieser Schwall sich endlich verlaufen musste und einmal wieder ein grünes Eiland der Kunst und Poesie aus den Wassern steigen.

Dieser Mann war Adolf Hildebrand, der Bildhauer, der am 6. Oktober dieses JahrsGeschrieben im Herbst 1907. auf der Höhe seiner Kraft und seines Ruhmes ins sechzigste Lebensjahr tritt.

Als ich im Spätherbst 1877, kurz nachdem mein ältester Bruder sich als Arzt in Florenz niedergelassen hatte, mit ihm und meiner Mutter zum erstenmal das Hildebrandsche Haus betrat, war Adolf Hildebrand der Welt kein Unbekannter, aber ein Halbverschollener. Von seinen Erstlingswerken hatte ich in Deutschland mit Bewunderung sprechen hören; da aber die Oeffentlichkeit seit lange nichts mehr von ihm erfuhr, 256 glaubte man im Vaterland, auch ihm sei, wie so manchem jungen Künstler zuvor, Italien zum Capua geworden.

In Florenz dagegen wurde gemunkelt, dass er wie ein Oger in seinem Atelier hause und niemand den Einblick gestatte; nur ein kleines Häuflein naher Freunde hatte Zutritt und wusste, dass dort in aller Stille ein grosser Sieg sich vorbereitete.

Das alte Kloster San Francesco mit seiner schmucklosen, aber mächtigen Aussenseite neben dem gleichnamigen Kirchlein am Fusse von Bellosguardo, auf der ersten leichten Erhebung des Hügels gelagert, mit dem Blick auf die nahen Berge und von reichster Vegetation umgeben, hauchte eine ruhige, heitere Grösse aus. Der heil. Franciscus im rissigen Steingewand, der damals noch nicht Hildebrandscher Familienheiliger geworden war, stand auf der zu jener Zeit noch offenen Piazzetta und erhob seine Hand segnend über Gerechte und Ungerechte. Als wir uns der offenen Haustür näherten, durch die man die Zypressen des alten Klostergartens erblickte, kam uns ein blonder junger Mann, der für einen Bediensteten zu fein und für den Künstler selber zu jung erschien, mit einer Haltung von bescheidener Sicherheit entgegen; wir fragten ihn auf italienisch nach dem Hausherrn: er war es selbst. Niemand hätte ihm die dreissig Jahre, die er 257 damals schon zählte, angesehen; die Gestalt war mittelgross und schlank, das Gesicht bartlos mit rötlich heller Haut, an der ganzen Erscheinung nichts Auffallendes als das dunkelblaue Auge, das mit ungewöhnlicher Energie, aber nicht in den Alltag, blickte. Er führte uns ins Haus, das noch ganz den klösterlichen Charakter trug, und stellte uns seiner Gattin vor, in der wir eine engere Landsmännin begrüssten. Es war, als hätte man sich von je gekannt, und eigentlich geht auf jene Stunde die lebenslange Freundschaft der beiden Familien zurück. Mein Bruder Edgar wurde gleich trotz seiner grossen Jugend Hausarzt, und wir beiden Geschwister verbrachten durch eine Reihe von Jahren unsre Sonntagabende auf San Francesco, wo die anmutstrahlende Hausfrau durch ihr gastliches Naturell und durch die Grazie ihres Geistes jedes Zusammensein zum Fest zu machen wusste. Als dann mein jüngerer Bruder Erwin von der Münchner Akademie nach Italien kam, trat er in Hildebrands Atelier als Schüler ein und wohnte längere Zeit wie ein Familienglied in seinem Hause.

Wenn man nach San Francesco kam, so war es immer, als würfe man einen Blick ins Goldene Zeitalter, denn neben der hohen Kultur hatte dort alles ein primitives Gepräge. Ein von der Natur bevorzugtes Menschenpaar noch in der Blüte des 258 Lebens, von einer jährlich wachsenden Puttenschar umgeben, ein herrliches, durch Federvieh und Vierfüssler belebtes Landgut, das der einfachen, aber erlesenen Tafel seine Früchte und Blumen lieferte, und ein ausserweltlicher, ausserzeitlicher Geist, der in diesem Asyl des Glücks und Friedens wehte. Die monumentalen, fast leeren Räume, die des Künstlers eigene Hand im Lauf der Jahre so reich geschmückt hat, enthielten damals nur wenige, gleichfalls mächtige und monumentale Möbel, wie aus dem Raume gewachsen; da und dort stand eine Donatellobüste auf einem Sockel und dazwischen der naive Putte des Verrocchio; den grössten Eindruck aber hinterliess ein von Hildebrand kopiertes Maréesbild von ergreifender Macht: ein nacktes jugendliches Menschenpaar, inmitten einer südlichen Landschaft, der Mann von dunkler Schönheit, das schlanke Weib leuchtend hell, und neben ihnen ein Alter, der eine rollende Orange hascht. Nie fand ein Zeitungsblatt den Weg nach San Francesco; die jetzt so mächtige Bibliothek bestand nur in den schüchternsten Anfängen, denn es wurde an Büchern neben Shakespeare und Goethe, die das tägliche Brot waren, damals nur etwa der »Tom Jones« und Rousseaus »Confessions«, mit denen sich der Künstler eben beschäftigte, geduldet. Aber alle die toten Dinge pflegten an unsern 259 häufigen Debatten teilzunehmen, und da sie sich wie billig auf die Seite ihres Besitzers stellten, so hatte man einen schweren Stand, wenn er, wie leicht geschah, mit seinen Behauptungen über alle Grenzen ging. Denn man atmete bei Hildebrand eine scharfbewegte geistige Luft und musste sich oft gegen sie wehren; die Wohltat, die von ihr ausging, hat wohl ein jedes nachträglich in der eigenen Entwicklung verspürt.

Frage ich mich nun, welches der erste, stärkste und dauerndste Eindruck war, den ich von Hildebrands Wesen empfing, so muss ich sagen: er erschien mir als der glücklichste aller Menschen und fähig, dieses Glück, wenigstens vorübergehend, auf andre zu übertragen. Die Luft wurde leicht und frei, wo er hereintrat, und einem jeden war es wohl in seiner Nähe. Man meinte den ersten Menschen vor sich zu sehen in einer noch unbewussten Welt. Mit keinerlei Herkommen hatte er das Geringste zu schaffen, er fing das Denken und das Leben ganz von vornen an. Oft konnte er mit einem einzigen Wort ein ganzes Gewebe hergebrachter Vorstellungen zerreissen, dass die Dinge wie neugeboren daraus hervortraten. Diese Ursprünglichkeit und Einfachheit setzten ihn aber merkwürdigerweise in gar keinen Zwiespalt mit der Welt, vielmehr machte er alles, womit er in Berührung kam, einfach; es strömte 260 eine solche frohe Sicherheit und Ueberzeugungskraft aus seinem Wesen, dass sich selbst die Philister, solange sie ihm zuhörten, willig nach ihm umarteten.

Schwerlich wird man wieder einen schaffenden Geist von solcher Stärke finden, der in so verschwenderischer Weise den Personen seines Umgangs sich selber gibt – das heisst seine innere Stellung zu allem Sichtbaren und Unsichtbaren –, wie es Hildebrand in seiner Jugend tat. Unablässig schüttelte er sein Gold von sich, wie die Irrlichter in Goethes Märchen, aber ohne davon jemals dünner zu werden. Nie hatte er einen Gedanken auf Lager, alles war Erzeugnis des Augenblicks: man sah ihn denken, ein Phänomen, das ich an niemand sonst beobachtet habe. Sobald ein neuer Gedanke sich in ihm durchrang, verlangsamte sich sein Sprechen, die Zunge suchte tastend und strauchelnd nach dem allertreffendsten Wort, und gleichzeitig heftete sich der Blick, der zuvor etwas Weites und Allgemeines hatte, immer bestimmter und konzentrierter auf den Hörer, bis der innerste Punkt der Sache gefunden ist und zugleich das rechte Wort sich eingestellt hat. Dieses Schauspiel ist mir in den ersten Zeiten unsrer Bekanntschaft so merkwürdig gewesen, dass ich oft darüber vergass, seinen Ausführungen zu folgen. Dabei ist dieser reiche Geist das gerade 261 Gegenteil von dem, was man gemeinhin »geistreich« nennt. Ein Wortgeplänkel, einen Witz, irgendein Geistesspiel zu persönlicher Wirkung hat niemand je aus seinem Munde gehört: gänzlich ohne Ichgefühl geht er vollkommen in der Sache auf und lässt auch die persönlichen Gefühle des Hörers, die etwa mitsprechen könnten, in aller Unschuld ausser acht, in jedem die gleiche ichlose Sachlichkeit voraussetzend. Das Merkwürdigste aber war, dass man mit ihm über ihn selber sprechen konnte, gerade so wie man über einen abwesenden Dritten spricht: er, der in Unbewusstheit vor sich hinlebte und niemals sein Ich bespiegelte, blieb dann plötzlich wie überrascht stehen, betrachtete dieses Bild, das man ihm vorhielt, als etwas Objektives, billigte, ergänzte oder berichtigte es stellenweise, indem er hier wie überall gleich an die Wurzeln der Dinge ging.

Wenn sonst bei den reichbegabten Naturen im gleichen Verhältnis zur Genussfähigkeit auch die Leidensfähigkeit gesteigert und verhundertfacht ist, so hat Hildebrand im Gegenteil unendlich mehr Abwehrorgane zur Welt gebracht als andre Menschen. Dem Unerfreulichen weiss er immer noch eine leidliche wenn nicht heitere Seite abzugewinnen, und das schlechtweg Unverträgliche entfernt er aus seinem Vorstellungskreis. Ebenso hält er es mit den 262 Menschen auch. Nie sah man ihn persönlich etwas übelnehmen. Die Häkeligen, die Verstimmten und Verstimmenden oder solche, in deren Natur es liegt, poetische Illusionen zu zerstören, Blütenstaub abzustreifen, schob er sich einfach in eine grössere Entfernung, ohne ihnen zu grollen oder sie zu misskennen; vielmehr schätzte oder genoss er aus dem ferneren Standpunkt ihre guten Eigenschaften unvermindert. Dagegen kam es ihm gar nicht darauf an, wenn er gerade einen Abnehmer für seine ringenden Ideen brauchte, sich neben den ersten besten Biedermann zu setzen, der nur in den ausgefahrenen Gleisen denken konnte, und ihm die subtilsten Aperçus über die feinsten, geistigsten Dinge zu entwickeln in einer Sprache voll kühner Paradoxen, zu der nur die Eingeweihten den Schlüssel hatten, ohne zu sehen, dass seinem Gegenüber bei diesen Reden ein Mühlrad im Kopfe herumging. Ja, er hielt sich dann in der Freude über den glücklich gehobenen Schatz wohl selber für den Empfangenden und rühmte die anregende Bekanntschaft, die er gemacht hatte. Im Freundeskreise wurde ihm nachgesagt, dass er gelegentlich seine eigenen Gedanken und Einfälle im Mund eines andern, der sie ihm wieder zu hören gab, höchlich bewunderte, ohne sein Eigentum wiederzuerkennen.

Kein Werdender hat Hildebrands Weg 263 gekreuzt, der nicht von ihm einen Lebensgewinn empfangen hätte. Für die Reifen, Fertigen war seine Nähe ein Labsal und eine Verjüngung. Man weiss, wie Karl Hillebrand, der feinsinnige Gelehrte, immerzu nach ihm wie nach einem kühlen Waldquell dürstete. Er pflegte zu sagen: »Was die andern mir geben können, finde ich alles auch in Büchern; das seinige kommt unmittelbar aus der Natur.« Wenn Hildebrand redete, so war es, als ob der heilige Hain zu Dodona gerauscht hätte. Alles Schiefe, Halbe, Halbwahre, alles Konventionelle oder Sentimentale war mit einem Ruck vom Tische gefegt, wobei es freilich vorkam, dass auch wahre Werte, zu denen er kein Verhältnis hatte, mit hinunterfielen. Das machte seinen Umgang für schwächere Naturen, die ihm unbedingt erlagen, etwas gefährlich. Worte von ihm wurden herumgetragen und mit Ehrfurcht wiederholt, auch wenn sie unterwegs ihren Sinn verändert oder ganz verloren hatten; wofür ihm Neigung und Verständnis fehlten, das schien vielen nicht daseinsberechtigt. Natürlich hätte er diese Diktatur, von der er selbst nichts wusste, durch die blosse geistige Kraft und die des Naturells nicht ausüben können: es war die ununterbrochene Reihe schöpferischer Taten, die hinter seinen Gedanken stand und ihnen den Nachdruck gab. Sah man ihn im Atelier an der Arbeit, so 264 hatte man sein andres, sein unbewusstes Ich vor Augen. Da hörte man keinen Tiefsinn mehr aus seinem Munde, er redete mit sich selber oder mit der Figur, sang und lachte vor sich hin, dass ein Fremder geglaubt hätte, er sei voll süssen Weines. Störungen gab es für diesen Glücklichsten aller Sterblichen nicht; kein Stimmungsraubendes Element drang in seine Werkstatt, jede Stunde war gleichwertig und voll Eingebung. Und immer spiegelte sich das Naturell des Künstlers in seinem Werke, irgendwie schimmerte etwas vom ersten Menschen durch: das Triebmässige, Ursprüngliche in der menschlichen Natur, noch von Paradiesesunschuld umflossen und streng vom Stilgefühl begrenzt, machte er am liebsten zum Inhalt seiner Darstellung. Es gab aber auch Stunden, wo dieses dionysische Element alle Schranken durchbrach; das geschah gern des Abends in angeregter Gesellschaft, besonders wenn jemand so geschickt war, einen Bleistift unauffällig in die Nähe des Künstlers zu bringen. Alsdann fesselte ihn kein Gespräch mehr, er nahm das erste beste Stück Papier zur Hand – wenn keines da war, so genügte das Tischtuch oder eine marmorne Tischplatte –, und alsbald bedeckte sich der weisse Grund mit den abenteuerlichsten Geburten der Phantasie. Man sah eine Walpurgisnacht dämonisch toller Naturwesen entstehen, die 265 unmöglichsten Gebilde, absurd und der Vernunft unerträglich, aber von so mächtigem Lebenswillen und Lebensrausch durchströmt, dass mich oft der unheimliche Gedanke peinigte, es könnte doch am Ende irgendwo solche Geschöpfe geben.

Was für lustige Szenen fielen in jenen ersten Jahren auf San Francesco vor. Als der Künstler an der später aufgegebenen Bacchusgruppe arbeitete, betrachtete sich der junge Bauer, der für den Gott Modell stand, den Entwurf des Satyrs in Ton und fragte mit Grausen, ob denn in Wirklichkeit solche Menschen existierten. »Ja freilich,« war die Antwort, »ganz oben im Apennin; es sind nur noch wenige von einer aussterbenden Rasse, und seit der allgemeinen Wehrpflicht haben sie sich tief in die Berge zurückgezogen, um der Aushebung zu entgehen.« Nach ein paar Tagen stellte sich das Modell wieder ein und sagte: »Jetzt weiss ich, dass Sie mich gefoppt haben und dass es nirgends solche Menschen gibt.« – »Was gefoppt! Freilich gibt es solche Menschen,« antwortete der Künstler, »komm nur nächsten Mittwoch wieder, dann zeige ich ihn dir.«

Am Mittwoch kaufte Hildebrands Faktotum Gabriello ein Paar Ochsenfüsse, die er mit grosser Geschicklichkeit an seinen Knien befestigte und sich damit auf ein Kanapee kauerte. Einen flächsernen Bart machte ihm Hildebrand zurecht 266 und gab ihm einen Fiasco in den Arm, dass er wahrhaft überwältigend aussah. Dann rief er dem Modell: »Komm nur herein, er ist schon drinnen.« Der Bauer nahte sich zweifelnd der Schwelle und fuhr beim Anblick des Ungetüms entsetzt zurück. Um keinen Preis war er näher zu bringen, obgleich ihm Hildebrand dringend zuredete: »Nun hab' ich ihn dir zuliebe kommen lassen, das hat mich viel Geld gekostet, und einen Wagen musste ich ihm auch an die Bahn schicken, weil er sich scheut, mit seinen haarigen Beinen durch die Stadt zu gehen.« Aber er hatte gut reden, die Angst war zu gross. Mit dem zusammen Modell stehen, um keinen Preis! Vergeblich versicherte der Künstler, es sei ja ein ganz guter Kerl, der niemand was zu leide tue, und er habe einen trefflichen Wein mitgebracht, von dem er den andern auch würde trinken lassen – der war nicht zu bewegen: »No, non mi garba«, war seine immer wiederholte Antwort.

Endlich liess er sich mit Mühe hereinschieben und zog sich sehr ängstlich aus, schielte aber während der Sitzung immer voll Grauen nach den Satyrbeinen, während Gabriello sich kaum mehr halten konnte. Plötzlich an einem Zwinkern der Augen erkennt er ihn und fährt mit einem Schrei in die Höhe, stürzt jubelnd auf ihn zu, bekommt den Fiasco zu fassen und schluckt, was nur die 267 Gurgel hinunter will, um sich von seiner Angst wieder herzustellen. – –

 

Unverwüstliche Heiterkeit ist das Element, in dem Hildebrands Leben und Schaffen sich bewegt. Auch die Regel, dass nichts schwerer zu ertragen ist als dauernder Sonnenschein, findet an ihm eine Ausnahme. Jeden andern hätte eine so lange Reihe von guten Tagen, wie das Glück sie ihm beschert hat, schlaff oder stumpf gemacht: ihn fand sie in immer gleicher Genussfähigkeit und Arbeitsfrische.

Das dem Sterblichen so natürliche Bedürfnis, den Blick von der Helle weg zuweilen ins Dunkel zu richten, in jenes Dunkel, das keines Menschen Freund ist, und aus dem doch die wunderbarsten Geburten steigen, scheint er nicht zu kennen. Er hat in der Tat wenig Sinn für das Tragische im Leben, es muss zur Kunst geworden sein, um ihn tief zu berühren – sein Lieblingsdichter ist Shakespeare. Vor dem Anblick unvermeidlicher Uebel, schwerer, unheilbarer Kümmernisse pflegte er sich stets in seine Arbeit zu verschliessen, und man konnte mitunter glauben, dass er gar kein Herz hätte. Doch sobald es etwas zu tun, zu helfen gab, war Hildebrand als erster zur Stelle und setzte sich auf das allerpersönlichste ein, wie er es für den unglücklichen Karl 268 Stauffer tat, den er dem Gefängnis entriss und, freilich nur für kurze Zeit, mit neuem Lebensmut erfüllte. Von klein auf konnte er kein Unrecht verüben sehen, ohne dagegen einzuschreiten. Als er einmal in Rom als blutjunger Mensch erfuhr, dass in einer Gesellschaft ein alter Mann von einem jungen bei einem politischen Streite geohrfeigt worden war, und dass keiner der Anwesenden sich eingemischt hatte, schoss Hildebrand weg und suchte in den Strassen Roms viele Stunden lang – leider vergeblich – nach dem brutalen Täter, um ihn unter die Fäuste zu nehmen. Alles, was Handlung fordert, fand ihn bereit; für das blosse Mitleid dagegen, das Miterleiden, gibt es in seiner Welt keinen Raum. Niemals liess er sich durch Teilnahme an fremdem Schicksal durchschüttern und zerreissen – diesen Vorteil hat ja der bildende Künstler vor den Poetennaturen voraus, die beim Anblick eines Aeussersten sich selbst von dem Betroffenen nicht mehr zu scheiden wissen. Zu den grossen Operationen meines Bruders pflegte, wenn es an Händen fehlte, Hildebrand sich als williger Helfer einzustellen. Es zog ihn da die Sache selber an, die Menschenliebe kam ihm erst in zweiter Linie, und davon machte er auch keine Ausnahme, wenn es seinem eigenen Leibe galt. In seiner Knabenzeit hatte er das Aufsuchen und Aushalten von körperlichen 269 Schmerzen als Indianersport getrieben, und er blieb als Mann gegen sich und andre auf diesem Punkte mitleidslos.

Deutlich fühlt man, dass in Hildebrands Welt eine besondere, eine unausdrückbar andre Luft weht, als in der Welt der heutigen Menschheit; sie erinnert mich an die Luft Mozarts, dem er sich nicht umsonst so nahe fühlt. Mozart kann so gewaltig sein als einer, aber auch wenn er die Hölle aufruft, immer macht er uns die Luft frei und die Füsse leicht und lässt uns nicht vergessen, dass die Kunst im letzten Grunde ein Spiel ist. Derselbe blaue Himmel wölbt sich auch über Hildebrands Werken und Wesen, denn bei ihm sind Künstler und Mensch nirgends zu trennen. Ist dieses Abgewendetsein vom Schmerz, dieses Hinlächeln über die Abgründe ein Mangel oder eine Stärke? Mir scheint, solche Naturen fühlen tiefer als wir andern die innere Ordnung der Dinge und bleiben im Einklang mit allem Naturgeschehen, weil sie über Tod und Vergänglichkeit hinweg das ewige Leben weitergehen sehen wie die Alten, die auf Gräbern das Symbol der Fruchtbarkeit verehrten.

Auf eine ganz merkwürdige Weise haben sich in diesem Künstler die entgegengesetzten Elemente von Vater- und Mutterseite zu einem bruchlosen Ganzen vereinigt. Der Vater scheint eine reine 270 Triebnatur gewesen zu sein, während die ethische Seite von der seelen- und charakterstarken Mutter gepflegt wurde. Von ihr stammt beim Sohne auch das starke Abstraktionsbedürfnis, das mit der grossen sinnlichen Kraft des geborenen Künstlers im Widerspruch zu stehen scheint, in Wahrheit aber ihre Ergänzung, den andern Pol seines geistigen Wesens bedeutet. Von dem Vater Hildebrands wurde mir erzählt, dass er bei einer schweren Krankheit des Sohnes, als dieser monatelang mit dem Tode rang, sich niemals entschliessen konnte, das Krankenzimmer zu betreten; so oft er bis zur Schwelle gekommen war, ergriff er entsetzt die Flucht. Dasselbe Naturgrauen spiegelte sich im Sohne wider, der eine kränklich aussehende Schwester gar nicht in sein Zimmer liess, weil er nur ganz gesunde Menschen an seinem Bette sehen wollte. Dass er aus jener Krankheit genas, war ein physisches Wunder, das niemand ausser ihm selbst für möglich hielt; von den Aerzten aufgegeben und zum Gerippe abgezehrt, unter fürchterlichen Schmerzen in einem Bette liegend, das durch Monate nicht gemacht werden konnte, während ihm das Hemd auf dem Leib verfaulte, hatte er noch immer ein so starkes Lebensgefühl, dass er während der grössten Gefahr seine Mutter, die ihn pflegte und ihre Seelenangst verbarg, an seinem Bette im Nachtkleid zu tanzen zwang. 271 Auch durch die Absicht der Aerzte, ihm ein Bein abzunehmen, liess er sich nicht in seinem Glücksgefühl stören; vielmehr begann er gleich sich mit dem herzustellenden Holzbein zu beschäftigen, und als ihm dieser Verlust zwar glücklich erspart blieb, er aber aus der Krankheit ein steifes Knie mitbrachte, trug er leichten Herzens den Verzicht auf jede Art von Sport, denn schon hielt die Natur dem Glücklichen in der immer stärker vortretenden Produktionskraft den Ersatz bereit.

Man muss einen bedeutenden Menschen von seiner Kindheit erzählen hören, wenn man den Schlüssel seines Wesens finden will. Unter den mancherlei Jugendgeschichten, die ich aus Hildebrands Mund hörte, ist mir eine kleine Anekdote aus seinen frühesten Jahren unvergesslich. Er hatte als fünfjähriger Junge in Zürich zum erstenmal eine Menagerie gesehen und war über die Sprünge und Spässe der kleinen Aeffchen in das helle Entzücken geraten. Auf dem Heimweg kam ihm der Einfall, es gleichfalls als Aeffchen zu probieren. Flugs zog er die Kleider vom Leib und kletterte auf einen der grossen Bäume, die der Strasse Schatten gaben. Dort oben sprang und turnte er nach Herzenslust, schnitt alle Grimassen, die er die Affen hatte schneiden sehen, und freute sich königlich, seinen älteren Bruder, der auf diesem Weg aus der Schule kommen musste, 272 als Aeffchen zum besten zu haben, als plötzlich ein biederer Bürgersmann, durch sein Quietschen aufmerksam gemacht, den Blick erhob, des nackten Knaben ansichtig wurde und ihm mit Entrüstung zurief: Du Schw . . .! Dieses erschütternde Erlebnis blieb dem Knaben völlig unbegreiflich; er konnte es nicht fassen, dass er nun mit einem Male ein Borstentier sein sollte, da er doch weder gegrunzt noch sich sonst ein Attribut vom Schweine angemasst, sondern ganz getreu das Aeffchen gespielt hatte. Solche unerhört naive Stellung zur Aussenwelt, die durch das besondere Hildebrandsche Familienleben noch gefördert und unterhalten wurde – die sieben Geschwister verkehrten ausschliesslich untereinander und liefen, wenn Besuch kam, einfach davon – nahm er auch in die reifen Jahre mit hinüber. Immer wiederholte sich von Zeit zu Zeit bei ihm das Erstaunen des Kanadiers vor der Tünche der Zivilisation. In der Schule hatte er nichts, rein gar nichts zu lernen vermocht. Alle Zeit, die er dort versitzen musste, war für ihn bloss eine Pein. Das Lesen- und Schreibenlernen kostete ihn eine unsägliche Mühe, er brauchte drei Jahre dazu. Der mit so starkem Formgefühl begabte, immer mit den Augen lebende Knabe wollte z. B. nicht glauben, dass das A wirklich ein A sei, weil die Form nichts hatte, das ihm den Laut versinnlichte. Wenn es ihm 273 gelang, eine Seite fliessend herunterzulesen, so erforderte das eine solche Aufmerksamkeit, dass ihm für den Sinn des Gelesenen kein Raum blieb. Achtjährig machte er bei der Prüfung für den Uebergang ins Gymnasium sechzig Fehler im Diktat. Alle Lehrer erkannten die ungewöhnliche Intelligenz des Knaben und zugleich seine vollkommene Unfähigkeit, auf dem herkömmlichen Gleise des Unterrichts mitzugehen. Geschichte, Geographie bedeuteten ihm die tödlichste Langeweile, und das Latein blieb für ihn mit einer unübersteiglichen Mauer umgeben. Dagegen zeigte er einen natürlichen Sinn für Mathematik und Geometrie, und er machte viel älteren Kameraden heimlich ihre arithmetischen Aufgaben. In späteren Jahren bedauerte er sehr, dass ihm nicht damals schon die Analogie der Dinge aufgegangen war. »Hätten mir meine Lehrer gesagt, dass das ut mit dem Konjunktiv auch nur ein Winkel ist, so hätte ich mich auch mit dem verhassten ut befreunden können,« sagte er, als er gelegentlich von seinen Schülerleiden erzählte.

Ein Wunder möchte es scheinen, dass gerade dieser Feind des Lernens sich eine Allseitigkeit und Tiefe der Kultur erworben hat, wie sie gewiss unter bildenden Künstlern eine Seltenheit ist. Das Leben gab sie ihm, der Verkehr mit den hervorragenden Geistern seiner Zeit, die ihm in langer 274 Reihe ihr Bestes schenkten, bei Kuno Fischer angefangen, der mit dem Vater Hildebrand auf dem Kriegsfuss stand, aber den Knaben Adolf in Jena auf lange Spaziergänge mitnahm, um sich mit ihm zu unterhalten. »Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste.« Mächtig wirkte auch die Ehe mit einer geistig schon hoch entwickelten Frau ein, die ihren eigenen Kulturbesitz hinzubrachte und durch ihre vielseitigen, nie rastenden Interessen immer neue geistige Nahrung ins Haus zog; sie war es auch, die Buch um Buch in San Francesco einschwärzte.

Das Beste freilich hatte er schon aus dem Elternhause mitgebracht, in dem eine freie kosmopolitische Luft wehte. Sein Vater, der bekannte Nationalökonom Bruno Hildebrand war selber eine genial angelegte Natur; er hatte im Frankfurter Parlament eine hervorragende Rolle gespielt und hing auch in der Verbannung den achtundvierziger Idealen mit Leidenschaft an. Er wird als eine Persönlichkeit von höchster Anziehungskraft und allseitig zugreifender Lebendigkeit geschildert, mit jener eigentümlichen Gabe, die er dem Sohne vererbt hat, die andern von allem was er wollte zu überzeugen. Aeusserst temperamentvoll und etwas cholerisch mit einem gewissen Zug ins Pädagogische, wie er den Achtundvierzigern gerne anhaftete, liebte er die Debatten, das 275 genaue Hineinleuchten in begriffliche Probleme und focht besonders mit dem ältesten Sohne Richard immerzu scharfe geistige Turniere aus. Er tyrannisierte das junge Volk durch Aufsätze, die sie ihm machen mussten, und duldete keine unausgefüllte Minute, liess ihnen aber andererseits wieder grosse Freiheit und förderte neben der wissenschaftlichen immer auch die künstlerische Richtung. Von ihrem neunten Jahre an schickte er seine Kinder in jedes Shakespearestück, das über die Bühne ging. Lessing, Goethe, die Alten gehörten zum täglichen Umgang. Die Mutter ihrerseits hatte aus ihrem eigenen Elternhause den Kultus des Cervantes zugebracht. Diese Mutter erscheint in den Schilderungen des Sohnes als hochstehende Frau von felsenfesten Ueberzeugungen und glühendem Idealismus; sie war gleichfalls begeisterte Achtundvierzigerin und liess sich durch die materiellen Sorgen des Flüchtlingslebens nicht im mindesten anfechten. In Zürich, wo die Hildebrandischen das Haus mit der Familie Herwegh teilten, und in Bern, das ihnen in einem alten, vor der Stadt gelegenen Schloss mit Park und Wiesen einen herrlichen Wohnsitz bot, ebenso wie in Jena, wohin Bruno Hildebrand nach der Amnestie berufen wurde, überall bildeten sie eine abgeschlossene Insel, wo ein ganz anderer Geist herrschte, als anderwärts. Der Knabe Adolf als Vierter in 276 der Reihe der Geschwister war darin noch besonders glücklich, dass sich die pädagogische Schärfe des Vaters schon abgestumpft hatte, als er heraufwuchs, daher er von der stark bewegten geistigen Atmosphäre des Hauses nur die Vorteile genoss. Die philosophischen und literarischen Interessen umgaben ihn von klein auf wie ein natürliches Element, das er sich nicht erst durch Bücherlesen zu erschliessen brauchte, und als er das Elternhaus verliess, hatte der Siebzehnjährige, der in allen weltlichen Dingen noch hilflos war wie ein Kind, schon einen völlig freien Ueberblick im Geistigen.

Des Knaben stärkster Trieb ging von Anfang an auf die sichtbare Form und besonders beschäftigte ihn der nackte menschliche Körper.

Aeussere Einflüsse hatten dabei nicht mitgewirkt; in seinem Elternhause gab es keine Gemälde noch Gipsgüsse; nur ein einziges Mal als kleiner Junge war er in Jena in den Antikensaal der Universität gekommen, wo er vor Entzücken ganz ausser sich geriet und auch in dieser Welt gleich so völlig zu Hause war, dass ihm die einzelnen Figuren und ihre Stellungen aufs deutlichste im Gedächtnis haften blieben. Schon als Kind zeichnete er unablässig nackte Menschenleiber aus der Vorstellung, wozu er an sich selbst die Studien machte. Nie war dieser Zug zuvor 277 in der Familie gewesen, nur die Produktionskraft an sich glaubt Hildebrand vom Vater zu haben, bei dem sie sich jedoch nur als grosser Tätigkeits- und Organisationstrieb ohne künstlerische Anlage äusserte. Der alte Hildebrand konnte nicht sein, ohne etwas Fruchtbares ins Leben zu rufen, Anstalten zu gründen, Eisenbahnen zu legen. Im Sohne kam dieser Trieb mit der Richtung auf grosse künstlerische Ideen breitesten Stiles wieder heraus. Es scheint, dass das schöpferische Vermögen sich zunächst nur als Potenz vererbt, und dass es meist von geheimnisvollen Einflüssen abhängt, in welcher Form es in die Erscheinung treten wird.

Zunächst wusste man aber nicht, was mit dem kleinen Knownothing beginnen. In Jena, am Stoyischen Institut, das er nach seines Vaters Versetzung an die dortige Universität besuchte, kam er auch nicht weiter, soll aber durch seine Puck-Natur Schüler und Lehrer immerzu in Atem gehalten haben, wovon manch heitere Geschichte noch erhalten ist. Einen Kameraden, der zu den Internen gehörte, und der mit Schimpf und Schande ausgestossen werden sollte, weil er sich gegen eine Züchtigung gewehrt und dem Lehrer beide Hände festgehalten hatte, wusste der kleine Hildebrand am Vorabend der schimpflichen Prozedur mit Indianerkühnheit und 278 Indianerfindigkeit nächtlicherweile aus der Anstalt zu entführen. Nachdem er ihn noch in der Nacht zwei und eine halbe Stunde weit zur nächsten Bahnstation begleitet hatte, schlich er sich in aller Gottesfrühe in das Schlafzimmer zurück, das er mit seinem Vater teilte, und das er in der Nacht ebenso unbemerkt verlassen hatte, worauf er sich morgens unschuldig wie immer in der Schule einfand, wo natürlich über das Verschwinden des Delinquenten alles in Aufruhr war.

Im Stoyischen Institut gab es Werkstätten zur Erlernung verschiedener Hantierungen, wie Schreinern, Schlossern usw. In der Töpferwerkstatt fiel dem Knaben zum ersten Male Ton in die Hand, und alsbald knetete er eine menschliche Figur, zu der ihm sein Freund und Lehrer, der nur um fünf Jahre ältere Engländer Grant, Modell sass. Die Figur enthüllte unwiderstehlich seine Naturbestimmung. Der Vater war entzückt und entschied augenblicks, der Sohn müsse Bildhauer werden. Allein dieser wollte nicht. Er wollte wohl die Bildhauerei treiben, aber für sich, als Privatsache, die man nicht zum Lebensberuf macht. Auch hier spielte bei dem empfänglichen Knaben ein Augeneindruck mit: er hatte junge Künstler mit Sammetröcken und besonderer Haartracht gesehen, und weil er das für ein unumgängliches Attribut des Künstlertums hielt, so weigerte 279 er sich mitzutun. Ohnehin glaubte er an seiner künstlerischen Begabung nichts vor andern voraus zu haben; denn, von sich ausgehend, nahm er an, dass diese jedem normalen Menschen gleichmässig angeboren sein müsse. Nun wusste man keinen Rat mehr, als er plötzlich erklärte, er wolle Kaufmann werden. Natürlich hatte er vom Handelswesen nicht den blassesten Begriff, es lockten ihn nur die fernen Länder durch die Vorstellung wundersamer Abenteuer. Der Vater, der für das Wesen dieses Sohnes ein seltenes Einsehen gehabt zu haben scheint, gab nach. So wurde er denn in eine Handelsschule gebracht und erlernte neuere Sprachen, das Englische und Spanische, woran er Freude hatte; als es aber an die doppelte Buchführung gehen sollte, wurde ihm der Spass zu trocken. Jetzt schlug sich Grant ins Mittel, und ihm gelang es, den jungen Freund von dem wunderlichen Bedenken gegen sein Lebenselement, die Bildhauerei, zu heilen.

Seinen Weg als Künstler machte er ganz allein. Der Vater, der sich bewusst war, nichts von bildender Kunst zu verstehen, überliess ihn mit vollem Vertrauen seinem eigenen Stern. War er doch selber einst mit elf Jahren seinen Eltern entlaufen und hatte sich auf eigene Hand in Schulpforta zum Unterricht eingestellt. Er griff nur soweit ein, dass er dem Sohne die nötigen Mittel gab 280 und selber die erste Bestellung bei ihn machte: seine Porträtbüste, die noch erhalten ist. – Adolf Hildebrand brauchte nicht lange zu suchen und irre zu gehen. Aus den gebahnten Gleisen, in denen nichts für ihn zu gewinnen war, trug ihn eine rasche Glückswelle nach Italien, und in Rom begegnete er gleich dem Grossen, der als einziger richtunggebend auf ihn eingewirkt hat: Hans von Marées.

Marées, der als Maler dieselben Pfade mit Bewusstsein suchte, nach denen in der Plastik der um zehn Jahre jüngere Hildebrand zunächst noch unbewusst tastete, hatte schon schwere Jahre des künstlerischen Ringens und materieller Entbehrungen hinter sich, als er mit dem Neunzehnjährigen zusammentraf. Jetzt war er mit Aufträgen des Herrn v. Schack nach Rom gekommen, allein seinem Mäcenas fehlte für die Kunst Marées' jede Empfindung; er fand die Bilder schlecht, und der gekränkte Künstler wollte nun auch keine Bezahlung dafür annehmen. Ausserdem hinderte ein dämonischer Zug seiner im Grunde zwar heiteren, mit dem feinsten Humor begabten, aber sehr verstimmbaren Natur ihn vielfach im Schaffen wie im Leben. Er trug das Höchste in sich, er wusste so genau, was er wollte, dass er in Stunden der Erhebung seine noch im Werdeprozess begriffenen Bilder dem Beschauer als fertige, vollendete 281 erscheinen lassen konnte; aber unaufhörlich zerrann ihm das Werk unter den Händen, und nur selten wollte es ihm gelingen, seine Gesichte rein und vollkommen zur Darstellung zu bringen. Er aber achtete das Geschaffene nicht; so gleichgültig war er gegen seine Bilder, dass er sie im Schmutz und Staub des Ateliers am Boden liegen liess, wohl auch mit den Füssen darauf herumtrat, nur ganz erfüllt von der neuen, grösseren Aufgabe, die er sich stellte. So erreichte er es nicht, die Welt zur Anerkennung zu zwingen, und von denen, die mit ihm verkehrten, ahnten die wenigsten in ihm den grossen Pfadsucher und Bahnbrecher. Es muss für Marées wie ein Göttergeschenk gewesen sein, dass der junge Hildebrand in sein Atelier trat und augenblicklich in seinen Bildern erkannte, was ihren Ewigkeitswert ausmacht. Für den Jüngeren war es eine Offenbarung, dasjenige hier mit Augen zu sehen, was ihm selber auf seinem eignen Gebiet mehr ahnungsweise vorschwebte. Marées befand sich im stärksten Widerspruch gegen seine Zeit, Hildebrand wusste überhaupt nichts von ihr. So merkwürdig gerade führte das Glück diesen seinen Lieblingssohn, dass er gar keine schlechten, keine durch das Hineintragen von Nebenabsichten verwirrten Kunstwerke kannte, als er mit Marées zusammentraf. Er hatte in Deutschland keine Ateliers besucht, und die Zeitströmungen hatten ihm 282 auch nicht die Schuhsohlen benetzt. So stand er jetzt in aller Unschuld des Genius Aug in Auge mit der grossen Kunst. Doch ist von einem richtigen Schülerverhältnis nicht die Rede gewesen, da vielmehr Marées erst durch Hildebrands Schaffen in das Wesen der Bildhauerei nähere Einsicht gewann. »Du hast eigentlich alles von Natur,« sagte damals Marées zu dem jüngeren Freund, »du brauchst nur zuzulernen, nur immer feiner zu werden.«

Marées war keine naive Natur wie Hildebrand, und das Leben war schon zu unsanft mit ihm gefahren. Er litt an seinem Verkanntsein. Sich selber aufs stärkste empfindend, aber bei dem ewigen Ringen und Kreissen unvollendeter Werke gewissermassen ein König ohne Land, musste er äusserlich vor solchen zurückstehen, die er unter sich sah, die aber Geltung und Namen erworben hatten. Er litt auch unter dem Gefühl seiner Armut. In abgeschabten Kleidern, in denen doch jedes feinere Auge sofort den vornehmen Mann erkannte, trat er oft ohne Not hochfahrend auf, nur um das Missverhältnis auszugleichen. Viele hielten ihn für adelsstolz, denn es konnte vorkommen, dass er von Bekannten, die ihn schlechtweg Marées anredeten, erzürnt die Titulatur Herr von Marées verlangte. Es war das nur eine der vielen oft recht wunderlichen Formen, unter denen er, wenn 283 Entmutigung ihn beschleichen wollte, sich selbst in die Höhe riss; besonders in späteren Jahren, als der Abstand zwischen seinen Entwürfen und dem augenfälligen Vollbringen immer grösser wurde, trat dieser für die Freundschaft so erschwerende Zug immer stärker hervor. Von Hause aus scheint er eher eine weiche Natur gewesen zu sein, die den Verkehr mit Menschen brauchte; auch während des Schaffens wollte er Anteil und Verständnis um sich fühlen. Es war eine seiner schönsten Zeiten, als er die berühmten Fresken in Neapel schuf und sich dabei der Gegenwart Hildebrands, der mitarbeitete, erfreuen konnte.

Ein grösserer, sich glücklicher ausgleichender Gegensatz lässt sich kaum denken als dieses Freundespaar: Marées stolz, streng, aus preussischer Soldatenfamilie – eine tragische Kleistnatur, wie ihn die überlebenden Freunde schildern –, vom Schicksal hart geprüft, aus tausend grossen und kleinen Wunden des Lebens blutend und dazu im ewigen Kampfe mit sich selbst; Hildebrand von der glücklichsten Blutmischung, immer sachlich und harmlos, ein Kind der Natur, das den hochgestimmten Freund wohltätig am Erdboden festhielt. Er kam sich damals neben Marées bisweilen vor wie Sancho Pansa neben dem Don Quichotte. Wenn jener ihm seine Schmerzen klagte, so hörte er mit Erstaunen zu und konnte sich gar 284 nicht denken, wovon eigentlich die Rede war. Und sein Leichtnehmen machte, dass der andere gleichfalls leichter mit sich fertig ward.

Seine römische Zeit war für Hildebrand die Zeit des Austobens. Das Leben hatte für den Jüngling etwas so Berauschendes, dass er gar nicht aus der Peststimmung kam. Bei Nacht in den schlecht beleuchteten Strassen spielte er den römischen Wegelagerer, stellte und erschreckte die Vorübergehenden; auf dem Korso fiel er den heranfahrenden Equipagen in die Zügel, und die schnaubenden Pferde mussten stehen, bis er durch ein Zeichen dem Kutscher das Weiterfahren erlaubte. Seine zwei älteren und besonneneren Freunde, Marées und Conrad Fiedler, pflegten sich bei solchen Studentenstreichen etwas verlegen abseits zu halten, aber der Uebermut des Wildlings und seine ausserweltliche Naivität übten den tiefsten Zauber auf sie, und beide konnten ihn gar nicht mehr entbehren. In Damengesellschaft nahmen sie ihn niemals mit, sei es, dass sie ihn an eine stärkere Macht zu verlieren fürchteten, sei es, dass ihnen seine unberechenbaren Einfälle nicht geheuer waren, aber sie flossen über von beredten Schilderungen des originellen Menschenexemplars, das ihnen in den Weg gekommen war. Auch seiner späteren Gattin wurde er damals nur aus scheuer Entfernung als ein Meerwunder gezeigt. In der 285 Tat waren seine gesellschaftlichen Begriffe sehr eigentümlich. Eines Abends geschah es am Wirtstisch, dass einer der Anwesenden, ein schon älterer und geschätzter Künstler, der mit einem körperlichen Gebrechen behaftet war, von einem andern gehänselt wurde und darüber in so masslose Wut geriet, dass er sich nicht anders zu helfen wusste, als indem er über den Tisch hinüber seinem Widersacher ins Gesicht spie. Alle sassen starr, als man plötzlich den jungen Hildebrand mit dem Ausdruck höchster sachlicher Verwunderung rufen hörte: »So wird das gemacht?!« Der junge Hurone, der dem älteren, ihm als gebildet bekannten Manne keine grobe Unschicklichkeit zutraute, hielt diese Art, sich Satisfaktion zu nehmen, für eine der vielen durch das Herkommen sanktionierten, ihm aber unverständlichen Formen, in denen die Kulturmenschheit sich bewegt.

Bezeichnend war es für die Geistesrichtung des ganz mit den Augen lebenden jungen Künstlers, dass er damals die Einnahme Roms aus der Nähe miterlebte, ohne von dem Herzklopfen Europas bei dem weltgeschichtlichen Augenblick das geringste zu verspüren. Er sah den Auszug der Franzosen und den Einmarsch der italienischen Truppen, ergötzte sich an den grotesken unmilitärischen Gestalten des päpstlichen Militärs und fragte niemals, was alle die Bewegungen zu bedeuten 286 hätten. Diese Gleichgültigkeit gegen das Zeitgeschehen, gegen die Erregungen und Begeisterungen der Masse wurzelt tief in der Natur des Künstlers, dem das Pathos verhasst ist; sie hinderte ihn auch in der Jugend, die Grösse Schillers zu empfinden, wenn er sich gleich späterhin der Macht eines Werkes wie des »Wallenstein« nicht verschliessen konnte. Es mag diese Eigenheit mit des Vaters Flüchtlingsleben zusammenhängen, das dem Sohn das Wurzelschlagen im Volksboden verwehrte; auch ist ja die Plastik eine isolierende Kunst. Doch scheitert an solchen Zügen im letzten Grunde jedes Erklärenwollen: Michelangelo war ein leidenschaftlicher Politiker.

Als Hildebrand nach Berlin übersiedelte, duldete es auch Marées nicht mehr in Rom; mit Porträtaufträgen, die er unterdessen erhalten hatte, folgte er dem jungen Freunde nach Deutschland. Aber mit Marées reiste sein Dämon. Es gehörte zu seinen Eigentümlichkeiten, dass er nichts auf Bestellung malen konnte; er, der so herrliche Porträts hinterlassen hat, wurde durch das Bewusstsein, sich verpflichtet zu haben, jedesmal nervös und unsicher. Davon gab er sich jedoch keine Rechenschaft, sondern suchte die Gründe des Misserfolgs in äusseren Umständen. In den Häusern, wo er malte, verlangte er die unmöglichsten Rücksichten: die materiellen Bedürfnisse der 287 Bewohner, ihre Hausordnung, alles sollte dem zu schaffenden Bilde geopfert werden; alte Bäume mussten fallen, wenn sie ihm zu viel Schatten gaben. Er malte und änderte und fing wieder von vorn an; oft glaubte er in jauchzender Siegesstimmung nur noch einen Schritt zur Vollendung zu haben, er sah das Bild schon in einer Galerie der Zukunft hängen, den Leonardos gleich geschätzt, und, was merkwürdiger war, die andern sahen es ebenso, – am nächsten Tage war alles wieder verdorben. Das Ende vom Liede war jedesmal, dass das Porträt misslang, und dass der Künstler dem unglücklichen Original oder dessen Umgebung die Schuld beimass.

Während Marées so mit seinem Dämon kämpfte, sass Adolf Hildebrand friedlich in einem Hinterhaus der Friedrichstrasse in Berlin, wo er sich aus Latten und alten Türen selber ein Atelier zurechtgezimmert hatte, und arbeitete in der Stille weiter. Jeden Abend um fünf Uhr kamen aus dem ganzen Bezirk die Kinder gross und klein bei ihm im Hofraum zusammengeströmt, wo er eine Stunde lang mit ihnen spielte, tollte und Geschichten erzählte. Später zogen die beiden Freunde wieder zusammen nach Italien. In Florenz hatte Marées schon früher ausserhalb der Porta Romana das schöne alte Kloster entdeckt und sogar eine Zeitlang bewohnt. Dort liessen sie sich zusammen 288 nieder, und auch Fiedler nahm an dem gemeinsamen Haushalt teil. Da der schöne Sitz samt einem herrlichen podere gerade um lächerlich geringen Preis zu kaufen war, erbat Hildebrand die Summe von seinem Vater, der ihm auch unbedenklich in dem Kaufschilling sein künftiges Erbteil vorausbezahlte. Fiedler, der grosse Mittel besass und damals schon begonnen hatte, seine schützenden Hände über Marées zu halten, baute diesem ein Atelier im obersten Stockwerk, wo nun der Maler bei dem Bildhauer zur Miete wohnte. Marées aber, der sich als der Entdecker und geistige Besitzer des schönen Heimwesens fühlte, trat dort, die materiellen Verhältnisse nach seiner Art vergessend, als der wirkliche Eigentümer auf. Der jüngere Freund mit seinem glücklichen Humor und dem freien, immer auf das Ganze eines Menschen gerichteten Blick ertrug gelassen diese Eigenheit und die wechselnden Stimmungen des Reizbaren. Erst als er sich um das Jahr 1875 zur Heirat anschickte, löste er das Zusammenleben mit Marées, das jetzt unhaltbar wurde, auf. Es war der schmerzlichste Strich durch Marées' Lebensrechnung. Auch Männerfreundschaften dulden keine Teilung; man weiss, welchen Riss die Heirat Rohdes in Nietzsches Leben brachte. Marées zog nach Rom und umgab sich dort später mit einem Kreis verehrender jüngerer Freunde 289 und Schüler, unter denen er wie ein König einhertrat. Aber ein Stachel blieb in seiner einsam gewordenen Seele zurück, den Hildebrand als der Glücklichere und nun doppelt glücklich Gewordene nicht mitempfand. Doch hatte zum Glück die Welt kein Interesse daran, sich verbitternd zwischen die beiden zu drängen; die blosse eingetretene Entfremdung liess ihnen immer noch den Rückweg offen, und Hildebrand war stets der Meinung, dass sie sich noch einmal ganz zusammengefunden hätten, wäre nicht der Tod dazwischengetreten.

Ich kam zu spät, um Marées' Stern noch in Hildebrands Leben scheinen zu sehen, aber Marées selber habe ich 1885 in Rom bei einem Ausflug nach Frascati zwei Jahre vor seinem Tode noch kennen gelernt. Sein Aeusseres dämmert mir nur in ganz unbestimmten Umrissen: eine mittelgrosse Gestalt mit sehr geraden Schultern, die Züge hart, die Augen aber weich. Im Benehmen hatte er bei aller Einfachheit etwas von der Ritterlichkeit der alten Schule, das er offenbar dem andern Geschlechte gegenüber zu betonen liebte. Sein Gespräch war mir wie ein Teil der Campagna, wie der weite Himmel und das ferne Meer, es blieb mir nur die Tonart haften, ohne dass ich etwas Einzelnes davon nach Hause nahm. Bei einer späteren Begegnung aber hörte ich aus seinem 290 Munde Bemerkungen über Shakespeare, wie sie nur ein Mensch mit tiefer schöpferischer Erfahrung machen kann. – Eigen berührte es mich damals, wie er sich leise tastend mit scheinbarer Gleichgültigkeit von mir über Hildebrands Gewohnheiten in Florenz berichten liess, so wie ein Liebender nach der einst über alles Geliebten fragt und es doch nicht Wort haben will! Die beiden Freunde haben sich auch wirklich vor Marées' Tode in Rom noch einmal wiedergefunden und sich des Glückes ihrer Ebenbürtigkeit erfreut, das ein noch schönerer Lohn der Taten ist als selbst der Ruhm, wie es Goethe, der dabei seines Schiller gedacht haben mag, dem Achill so schön in den Mund legt:

– mir ward auf Erden nichts Köstlichers jemals gegeben,
Als wenn Ajax mir, der Telamonier, die Hand drückt,
Abends nach geendigter Schlacht und gewaltiger Mühe.

Nach Marées' Tode, als Hildebrand sich mit dem Entwurf zu seinem Denkstein auf dem Friedhof bei der Cestiuspyramide trug, sah er im Traum ein herrliches, ihm bis in alle Einzelheiten klares Brunnenbecken, mit dem er das Grab schmücken wollte. Wie schön hätte der Traumgedanke, der natürlich wegen des mangelnden Wassers nicht 291 durchführbar war, den spendenden Urborn in Marées' Wesen ausgedrückt, der die nachlebenden Geschlechter tränkt. Um jene Zeit waren im Hildebrandschen Atelier und den anstossenden Räumen die Bilder aus Marées' Nachlass aufgehängt, die einen unvergesslich tragischen Eindruck hinterliessen: eine hohe, höchste Welt, die ein böser Dämon durcheinandergerüttelt hat; von der formensicheren Meisterhand Verzeichnungen, wie sie einem Kinde zustossen würden, und die Oberfläche der Bilder meist uneben, hügelig, an geographische Reliefkarten erinnernd, lauter Folgen der Uebermalungen, mit denen er jeden Tag aufs neue über ein angefangenes Bild ging. Marées war wie ein Dichter, der während des Schaffens den Plan immer wieder umwirft, um stets mehr und Grösseres von der Menge des innerlich Erlebten und Gesehenen hineinzubringen, bis der Faden, der alles zusammenhält, zerreisst. Technische Missgriffe kamen hinzu. Er hatte sich bei den Fresken in Neapel so sehr an das flüssige Malen gewöhnt, dass er auch beim Atelierbild nicht darauf verzichten mochte. Wie er dort den Pinsel in Wasser getaucht hatte, das gleich von der Mauer verschluckt wird, tauchte er ihn jetzt in Firnis, der breit an der Leinwand niedertroff und zu dickem glänzendem Gewürm erstarrte; daher unvorbereitete Laienaugen an diesen Werken 292 zunächst nur das Befremdliche wahrnahmen. Wieviel wurde zu Anfang über die Maréesschen Bilder gelächelt oder die Nase gerümpft. Heute fällt das niemand mehr ein. In Schleissheim sieht man nur Andächtige, die sich traumumfangen dem Zauber hingeben. Die Mängel dieser Bilder sind längst als bekannt vorausgesetzt; nur noch ihr stiller Adel, ihr lächelnder, gehaltener Ernst spricht zu dem Beschauer, und als leise Tragik geht das Nichterreichte nebenher. Es ist die Welt des Schönen, die sich in unvergleichlicher Grösse und Hoheit vor uns auftut. So einfach sie aus der uns täglich umgebenden Natur herausgeholt ist, scheint sie doch irgendwo über der Erde zu sein.

Heute ist Marées kein Verkannter mehr; der Triumph, den er oft in seinen hohen Glücksstunden vorausgenoss, den er aber später nach so viel Enttäuschung und Verbitterung nur noch theoretisch glaubte, weil er überzeugt war, dass keine Kraft verloren gehen könne, dieser Triumph ist zur Wahrheit geworden. Die Jugend vor allem hat das Ewige in ihm erkannt, und täglich wächst die erst so kleine Schar derer, die in ihm den Wegweiser zu einer neu aufzufindenden grossen Kunst erblicken. Nach der Jahrhundertausstellung in Berlin sagte Hildebrand: »Dass man ihn herbeschwören könnte, um mit Geisteraugen seinen Sieg zu sehen!«

*

293 Man kann nicht von Hans von Marées und Adolf Hildebrand sprechen, ohne dabei ihres Freundes und Förderers Conrad Fiedler zu gedenken, der neben den zwei Schaffenden wie die Verkörperung ihres künstlerischen Bewusstseins stand. Gemeinsame Freunde pflegten zu sagen, in der Trinität Marées-Hildebrand-Fiedler spiele der letztere die Rolle des heiligen Geistes. Fiedler besass die merkwürdige und sehr seltene Eigenschaft dass er, ohne selber schöpferisch angelegt zu sein, den schöpferischen Naturen auf dem Schaffensweg nachgehen konnte. Er hatte ein tiefes, rein natürliches Verhältnis zur bildenden Kunst, das ihm angeboren war, wie es sonst nur die Talente zu sein pflegen; er lebte wie die Künstler mit dem Auge. Schon Ende der sechziger Jahre hatte er in Rom den noch ganz unbekannten Marées entdeckt, das Ausserordentliche seines Naturells und seiner Begabung erkannt. Nach Marées' Bruch mit Schack, an dem seine Existenz zu scheitern drohte, sprang Fiedler ein, nicht um ihn bloss der Not zu entreissen, sondern um ihm jene breite Grundlage des Daseins zu gewähren, die jenem zum Schaffenkönnen ein Bedürfnis war. Den Stachel der Armut sollte Marées fortan nicht mehr empfinden, und den der Abhängigkeit hat er nicht dafür eingetauscht. Die Hilfe wurde in gleich grossem Sinne gegeben und 294 genommen. Keine triviale Dankbarkeit schlich sich in das Verhältnis ein, es zu beengen und unfruchtbar zu machen. Wie kein zweiter verstand es Fiedler, sich seiner Freunde »schonend zu erfreun«. Indem er gab, schien er selbst der Empfangende zu sein, was er ja in höherem Sinne auch war, nur dass die Seelen, die in einem geistigen Gewinne dauernd den Ausgleich für materielle Leistungen sehen, unendlich seltener sind, als man denkt. In der Tugend der grossen Mediceer, die schaffenden Künstler auch in ihren Wunderlichkeiten zu verstehen und ihren Launen mit Nachsicht zu begegnen, hat Conrad Fiedler das Höchste geleistet. Er teilte und trug Marées' hohen Glauben an sich selbst, richtete sich auf seine Ecken und Kanten ein, wie sehr seine eigene, fein besaitete Natur bisweilen darunter litt, und ertrug mit äusserster Selbstüberwindung des Freundes unberechenbare, herrische Stimmungen, um jede Möglichkeit eines Bruches zu vermeiden, durch den Marées' Lebensschiff zum zweiten Male und hoffnungslos auf die Klippe geschleudert worden wäre. Die unbedenkliche Rücksichtslosigkeit des Künstlers gegen den hilfreichen Freund, so wenig erfreulich sie oft in ihren Aeusserungen sein mochte, ehrt im Grund beide Teile. Denn nur dadurch, dass er nach seiner Art die materiellen Dinge als nicht-seiend behandelte, und dass Fiedler ihn 295 auf diesem Standpunkt bestärkte, blieb die innere Noblesse ihres Verhältnisses gewahrt. Fiedler tat aber mehr. Als er zuerst von allen das tragische Verhängnis erkannte, dass Marées' Ziel jenseits der ihm gesteckten Grenze lag, zeigte er ihm doch nie einen Schatten von Entmutigung und erhielt dem Leichtverletzlichen den Traum der nahen Vollendung.

Weit länger als Fiedler hielt der optimistische Hildebrand den Glauben fest, dass Marées das Land der Verheissung, das er mit Augen vor sich sah, auch wirklich erringen werde. Er trug sich noch mit der Absicht, ihm eine gemeinsame Arbeit vorzuschlagen, wobei Marées die malerische Ausgestaltung des Raumes, er selber die architektonische Umrahmung übernehmen sollte. Erst als er bei ihrem letzten Wiedersehen in Marées' Atelier dem Chaos gegenüberstand, sanken auch seiner Hoffnung die Flügel. In dieser letzten Lebenszeit, wo Marées sich immer tiefer ins Gestrüpp ohne Ausgang verstrickte und nur noch durch schroffe Selbstbekräftigung seine Illusionen gewaltsam festhielt, musste Fiedler ihn mit immer grösserer Vorsicht behandeln, und am Ende verzichtete er lieber ganz auf des Freundes Umgang, damit kein verstimmender Hauch jenem die fernere Annahme der materiellen Sicherung erschwere. Nach Marées' unerwartetem Tode 296 sammelte er, was von seinen Werken zu retten war, und machte es durch die Stiftung nach Schleissheim der Oeffentlichkeit zugänglich. Und schliesslich setzte er dem Werk der Freundschaft die Krone auf, indem er durch Herausgabe der Marées-Mappe und durch eine schöne, weihevolle Monographie den Fernstehenden dieses in seiner Trümmerhaftigkeit so grosse Leben vermittelte. Durch die Diskretion, mit der er in dieser Schrift sein eigenes Ich völlig auslöschte, die nahen Beziehungen und sein warmes Gefühl hinter einer zurückhaltenden unpersönlichen, nur von der tiefsten Ueberzeugung getragenen Ausdrucksweise verschleiernd, hat er dem eingeweihten Auge das edle Bild seines eigenen Wesens mitgezeichnet.

Hatte die Freundschaft Marées' für Fiedler ihre Dornen, so genoss er um so ungetrübter Hildebrands Glücksnatur. Als sie sich zu Ende der sechziger Jahre in Rom kennen lernten, soll das Wesen des Jünglings, der wie aus einem andern glücklicheren Gestirn heruntergefallen war, der Glanz, den seine hellen Augen auf alle Dinge warfen, für den gereiften, ruhigen Mann geradezu berauschend gewesen sein. Wenn sie zusammen auf Reisen gingen, wie nach Dalmatien und später nach Griechenland, war es Fiedlers schönstes Erlebnis, den jungen Freund erleben zu sehen, er gewann durch ihn neue stärkere Organe, die Welt 297 aufzunehmen, denn Hildebrand hat die Gabe, dass er, wie der Pater Seraphicus die seligen Knaben, andere in sich nehmen und sie durch seine Augen die Gegend betrachten lassen kann.

Auch an dieses Künstlers Entwicklung hatte Fiedler seinen Teil, denn er war es, der ihm rechtzeitig unter die Arme griff, als Hildebrand nach seinem ersten jugendlichen Erfolge in Wien sich in die Einsamkeit zurückzog und alle Bestellungen abwies, die ihn in seinem ernsten Streben nicht fördern konnten. Damals trat Fiedler ein und sicherte ihm für einige Jahre die Existenz, wofür dann des Künstlers erste fertige Werke ihm gehörten.

Seine Verehrung für Marées und Hildebrand, die zwei grossen Alleinstehenden, hinderte ihn aber nicht, sich auch für Künstler zu interessieren, die auf völlig andern Bahnen gingen. Neben Feuerbach, Böcklin, Thoma förderte er durch Bilderkauf auch solche Talente, die mit dem Strome der Zeit schwammen, wenn er sie nur für wirkliche Talente erkannte. Dabei hatte er durchaus nicht das Sammlerinteresse, das nur Kunstwerke zusammentragen will, ihm kam es einzig darauf an, Leben zu wecken.

Als Träger der höchsten Kultur besass er natürlich einen ebenso feinen und vielseitigen literarischen Geschmack, aber sein eigenstes 298 unmittelbarstes Verhältnis hatte er doch zur bildenden Kunst. Hier stieg er bis zu den Wurzeln nieder. Durch seine Nähe zu Marées und Hildebrand war es ihm möglich, den Werdeprozess des Kunstwerks gleichsam in sich selber mitzuerleben, und in seinen Schriften suchte er sich von diesem Vorgang Rechenschaft abzulegen. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens trug er sich noch mit einer neuen Absicht; er wollte eine Geschichte der Laienirrtümer in der Auffassung der Kunst von Aristoteles (den er für den Urheber des Uebels ansah) bis auf Winckelmann und unsere Tage schreiben. Es wäre eine sehr dankenswerte Arbeit gewesen, die früher oder später gemacht werden wird, und für die Fiedler mit seinem natürlichen Kunstorgan und seinem reichen Wissen gerade der rechte Mann war, aber sie kam nicht über wenige Aufzeichnungen hinaus. Es scheint, dass er die Lust verlor, als Hildebrand seine vielbesprochene Schrift über das »Problem der Form« veröffentlicht hatte und er an diesem Beispiel sah, wie glücklich der Autor ist, wenn er mit jedem Wort den festen sicheren Boden der eigenen Erfahrung tritt, statt mit lauter ungewissen Grössen hantieren zu müssen.

Wie Hildebrand für Fiedler ein immer sprudelnder Quell der Anregung und Verjüngung war, so fand jener in ihm seine Ergänzung nach der 299 Seite des praktischen Lebens. Sie waren so verwachsen, dass der Künstler ihn als sein zweites Ich betrachtete, ihm ruhig die Erledigung von geschäftlichen Dingen und allem andern, wofür er selber den Sinn nicht hatte, überliess und gar keinen Wert darauf legte, sich solche für das Leben brauchbare Kenntnisse zu verschaffen, die Fiedler schon für ihn besass. Die Büste, die er von ihm gemacht hat, gibt das ganze Wesen Fiedlers wieder. Ernst und gütig, aber zurückhaltend, mit einem Schleier von Resignation über Gesicht und Augen und mit dem Ausdruck feinen Lauschens; es ist ganz der Mann mit der vornehmen Gesinnung und dem gedämpften Wesen, der lieber andern zuhört, als selber laut wird und dennoch in jedem Augenblicke ganz genau weiss, wie er zu den Dingen steht. Obgleich er sehr heiter sein konnte und für jede Art von Witz und Humor empfänglich war, blieb immer etwas Gehaltenes über ihm; es schien ihm versagt, aus sich selber herauszutreten; daher schätzte er ein impulsives, sinnenfrohes Temperament an andern doppelt hoch. Marées pflegte von ihm zu sagen, sein Talent sei der Charakter.

Als ich im Januar 1895 vor der Rückkehr nach Italien mit Fiedler, der auch mir ein treuer Freund geworden war, zum letzten Male im Englischen Garten in München spazieren ging, fiel mir eine 300 Veränderung in seinem Aeusseren auf, und beim Abschied hatte ich die plötzliche Gewissheit, dass dieser Mann am Ziel seines Lebens stehe. Ich teilte andern meinen Eindruck mit, ohne Glauben zu finden. Leider war er nur zu sehr begründet; denn Fiedler war leidend und verheimlichte es den Freunden, um sie nicht zu betrüben; dennoch schlich sich auch in Hildebrands immer heitere Seele eine dunkle Ahnung ein, doch ohne sein Bewusstsein zu erreichen. Kurz vor Fiedlers jähem Tode träumte er, dass ein fürchterlicher Kerl mit geschwungener Axt ins Zimmer stürze, um dem Freunde den Kopf zu spalten; er konnte im Traum noch dazwischen springen und ihn retten. Vierzehn Tage später tat Fiedler, wahrscheinlich infolge eines Schwindels oder plötzlichen Ausgleitens, jenen verhängnisvollen Sturz aus dem Fenster, und Hildebrand, der ihn soeben noch gesund verlassen hatte, fand ihn beim Zurückkommen tot, mit zerschmettertem Haupt auf dem Pflaster, wie es der Traum, nur in einer Verkleidung, gedroht hatte. – Es ist ein dunkler Punkt in Hildebrands sonnigem Leben, dass er alle seine Jugendfreunde, einen nach dem andern, unzeitig sterben sehen musste; in ihnen hat er dem Glück seine Schuld bezahlt. Doch die Anforderungen der Welt und ein reiches, alle Lücken ausfüllendes Familienleben bewahrten seinen Genius vor der Vereinsamung.

*

301 Welch eine Reihe vertrauter Schatten schwebt heran, wenn ich der Sonntagabende auf San Francesco gedenke. Da ist eine kurze, beleibte, aber immer von innerer Leidenschaft bewegte Gestalt, Hildebrands Jugendfreund und Lehrer, der feine englische Poet Charles Grant. Sein Gesicht ist kupferbraunrot, als ob Aetnafeuer durchschiene, Bart und Haare sind tiefschwarz, die dunklen Augen rollen und flammen. Ein Maréessches Doppelporträt, das durch die Jahrhundert-Ausstellung bekannt geworden ist, hat diese dunklen Züge neben dem hellen Gesichte Hildebrands festgehalten. Grants Vater hatte lange als Missionar in Afrika gelebt, und es sah aus, als ob etwas von der Glut der Sahara am Sohne hängen geblieben wäre, obwohl er in England zur Welt kam. Manche glaubten, er habe Negerblut in den Adern. Der Leidenschaftlichkeit seines Naturells hielt das allerempfindsamste Zartgefühl die Wage, und ein Element von Humor, das sein ganzes Wesen umflutete, vermittelte die Widersprüche. Dabei war er ein glänzender Gesellschafter, bei dem Witz und Phantasie immerzu in hundert farbigen Lichtern spielten. Es wurde mir einmal erzählt, sein Vater habe seine Mutter zum ersten Mal gesehen, als sie scheintot im Sarge lag, habe sich in sie verliebt und sie von der Bahre weg geheiratet – eine Geschichte, der man gerne Glauben schenkte, weil 302 sie dem romantischen, glühenden und doch so zarten Gefühlsleben des Sohnes entsprach. Grant brachte das Unmögliche fertig, als protestantischer Predigersohn eine brünstige Hinneigung zum Katholizismus mit philosophischem Unglauben zu vereinigen. Er war ein feiner Kenner Shakespeares und Goethes, wie er überhaupt in der deutschen Literatur von ihren Anfängen an bis auf unsre Tage wie in der eigenen zu Hause war, auch das Deutsche fliessend und mit voller persönlicher Beherrschung sprach, nur dass unsere Artikel, die er als nebensächlich verachtete, ihm gerne ein Bein stellten. Seine tiefsten Instinkte aber zogen ihn zu Dante. Er sagte mir einmal, mit Shakespeare möchte er zusammensitzen und kneipen, Goethe aber würde er die Stiefel wichsen; in den grossen Florentiner hätte er sich gewiss am liebsten hineingestürzt wie Empedokles in den Feuerberg, um darin zu vergehen.

Seine eigene poetische Begabung war fein und originell, aber er konnte sich in einer höchst ungünstigen literarischen Epoche nicht völlig zu sich selber durchringen und noch weniger sich vor der Welt behaupten. Sein Trauerspiel aus der Brunhildensage (The Charm and the Curse) fand nur unter Freunden, deren er vor allem in der geistigen und gesellschaftlichen Elite Englands sehr 303 überzeugte besass, Beachtung, ebenso ein schlankes Bändchen Gedichte, in dem manch ergreifender Naturlaut überrascht. Er korrespondierte für deutsche und englische Zeitschriften, aber das Artikelschreiben war ihm eine Qual. Romantiker durch und durch, auch dem katholischen Zuge nach, und ganz in Sage und Volkslied heimisch, suchte er sich später in den Realismus hineinzuarbeiten und schrieb sehr gut beobachtete Geschichten aus Neapel und der Camorra, die ihm grosse Mühe machten, denn solche peinliche Beobachtung lag von Hause aus gar nicht in ihm. Aber sein Inneres konnte sich in diesen Versuchen nicht lösen, wenn er sie noch so liebevoll wie ein kunstreiches Geschmeide ziselierte. Es sind feine Stücke darunter, wie das von dem Gassenjungen Pepiniello; allein in dieser Gattung übertrafen ihn andere, die dafür geboren waren. Hier lag der Angelpunkt seiner Lebenstragödie. Er drang mit diesem Zugeständnis an den Zeitgeschmack erst recht nicht durch. Die Erzählungen wurden nur zum kleineren Teil in Zeitschriften gedruckt, der Rest vergilbte ihm in der Mappe, und erst Jahre nach seinem Tode konnte die unermüdliche Pietät einer edlen Freundin die Sammlung in London als Buch herausgeben. Hätte Grant jene Zeiten überdauert und seine Kraft sich erhalten, heute 304 würde er in der Welt um vieles besser am Platze sein. Aber das Leben wurde zu schwer über ihm oder zu reizlos, er wendete sich am Ende ganz davon ab, und es war ein langsamer Selbstmord, von dem keine Freundeshand ihn zurückhalten konnte, dass er im Glase Vergessenheit für ein verfehltes Schicksal suchte.

Merkwürdig war es, wie dieses liebeglühende Gemüt hassen konnte, und häufig ohne alle Not. Gewisse Antipathien, die ihn plötzlich befielen, übertrieb er sich alsdann so, dass er am Ende selber darüber lachen musste. Ueberhaupt sah man ihn niemals schlechter Laune, wie sehr auch die Berührungen mit der Welt ihn reizten und quälten; immer behielt der Humor das letzte Wort. Eine Abneigung, die bis zur Idiosynkrasie ging, hatte er gegen seine reisenden Landsmäninnen. Als ich einmal in grosser Hitze mit ihm und Hildebrand von Florenz nach Serravezza fuhr, warfen zwei Engländerinnen begehrliche Blicke in unser fast leeres Kupee. Alsbald legte Grant sich breit ins Fenster, sein Gesicht glühte kupfern, seine Augen rollten und drohten. Da die zwei Unerschrockenen dennoch einstiegen, grollte er vor sich hin: »Oh, but I shall smoke all the time!« – zündete auch wirklich Zigarre um Zigarre an und schnob Rauch und Feuer, bis er sie glücklich hinausgeärgert hatte. 305 Als ich ihm seine Grausamkeit vorhielt, antwortete er, man müsse selber Engländer sein, um sich die harte, dürre, männische Seele vorzustellen, die in solch harten, dürren, männischen Leibern wohne. Ueberhaupt war er nach seinen Instinkten kein Engländer und freute sich, wenn diese gelegentlich eins ans Bein bekamen, wie ihn z. B. Heines Ausfälle gegen seine Landsleute höchlich belustigten.

Sehr ergötzlich war es, wenn zwischen den beiden Jugendfreunden der Born der Erinnerungen floss oder wenn einer auf Kosten des andern eine humoristische Geschichte zum besten gab. Eine der lustigsten fällt in ihre gemeinsame Berliner Zeit, wo Grant für eine englische Zeitung tätig war und häufig die Abende mit Hildebrand auf dessen Atelier verbrachte. Einstmals kam zwischen ihnen die Rede auf Spiritismus, der gerade die Oeffentlichkeit beschäftigte; da knarrten bei einer zufälligen Bewegung Hildebrands Schuhe. – »Hörst du das?« fragte Grant aufgeregt. Der andere wollte nichts gehört haben, brachte aber nach einer Weile das gleiche Geräusch absichtlich hervor. – »Hörst du wieder nichts?« fragte Grant noch aufgeregter. – »Ja, jetzt hab ich's auch gehört,« antwortete Hildebrand gelassen. Da begann Grant mit feierlicher Stimme zu beschwören: 306

»Bist du ein guter Geist, der aus diesem Tische zu uns spricht, so gib ein Zeichen, ob du in der üblichen Weise dich mit uns unterreden willst?«

Der Tisch klopfte nach Geisterbrauch und -herkommen sein Ja. Jetzt fragte Grant, der die Sache immer pathetischer nahm, den ungerufenen Gast um seinen Namen. »B–e–e–l–z–e–b–u–b!« kam es langsam aus dem Tische. Das ging über Grants Erwarten, seine rasche Phantasie lief mit ihm davon, es wurde ihm höllenbrenzlich zumute, seine Augen starrten. Um keinen Preis wollte er in der Sitzung fortfahren. Aber Hildebrand, der bisher die grösste Gleichgültigkeit an den Tag gelegt hatte, erklärte, jetzt fange die Sache ihn zu interessieren an, und er bestand auf dem Fortgang der Unterredung. Es wurde beschlossen, dass er die Rolle des Fragers übernehme, und nun stellte Hildebrand den unterbrochenen Zusammenhang mit der Geisterwelt wieder her. Sogleich liess Beelzebub sich vernehmen: »Du – wirst – ein – Verbrecher – werden.« Dem armen Grant begannen sich die Haare zu sträuben, daher der Tisch, um den Schrecken zu dämpfen, hinzusetzte: »an – der – Kunst.« Es half aber nichts; Grant war fassungslos über den furchtbaren Spruch, und auch als der Tisch noch weitere Schnörkel anhängte und mit einem langgezogenen »Pfui!« schloss, brachte ihn das nicht 307 zur Besinnung. – »Frage ihn, wen er meint, mich oder dich,« flüsterte er ausser sich. – »G–r–a– n–t!« buchstabierte der höllische Gast. Entsetzt wollte der arme Poet davonstürzen, als ob ihn schon das böse Gewissen am Schopf hätte; der Freund hielt ihn fest, und damit kein Unheil entstehe, begann er die Mystifikation zu erklären. Aber Grant behauptete, ein solches Spiel sei materiell unmöglich; und Hildebrand musste ihm endlich ganz genau vormachen, wie er zuerst aus dem Schuh, dann aus dem Tisch gesprochen hatte, bevor er Glauben fand. Es wurde Morgen, bis die Geisterkomödie zu Ende war, und man sich satt gelacht hatte. Charakteristisch war es für Grants goldenen Humor, dass er am Ende sagte: »Es ist mir lieb, das erlebt zu haben, jetzt weiss ich doch, wie es denen zumute ist, die wirklich glauben.«

Die zwei Freunde hatten ein breites, geistiges Grenzland, wo sie sich in gemeinsamen Instinkten begegneten, ihre eigentlichen inneren Welten aber waren grundverschieden. In Grants Dichternatur schlug das überfeurige Lebensgefühl, das nicht den Abfluss in die Produktion finden konnte, zuweilen in Selbstzerfleischung um, er dürstete nach Schmerzen, und in katholischen Kirchen riss es den Ungläubigen in spiritualistische Ekstasen. Solche Zustände hielt er vor dem sonnenklaren 308 Auge seines Freundes geheim, er wusste, dass der Künstler, dessen Kraft sich in einen ununterbrochenen Strom des Schaffens ergoss, ihn nicht verstanden hätte. Mitunter nahm er ihm auch das rücksichtslose Ausschliessen alles dessen, was ausser seiner eigenen Natur liegt, ein wenig übel, und lebhaft erinnere ich mich, wie er einmal auf dem Heimweg von San Francesco, wo wir uns in ein gemeinsames Gefecht mit Hildebrand verwickelt hatten, diesem Gefühle Ausdruck gab, sich aber plötzlich mit den Worten unterbrach: »But he is the only man of genius I know.« – Sehr schön erklärte er mir auch einmal den Unterschied zwischen Hildebrands Wesen und dem Marées', den ich damals noch nicht kannte, indem er sagte: Hildebrand gebe ein immer gleich starkes, fast blendendes Licht von sich, Marées aber gehe in einem Halbdunkel und werfe nur dann und wann einen raschen Blitzschein über die Dinge, der wie eine Offenbarung wirke.

Von Grant führt eine natürliche Gedankenbrücke in das Hillebrandsche Haus hinüber, wo er wie auf San Francesco öfter als Logiergast weilte. Nach Karl Hillebrands frühem Hingang half er der Witwe beim Ordnen des Nachlasses und sah ihre englische Uebersetzung von Schopenhauers »Vierfacher Wurzel« mit ihr durch, eine Arbeit, die viel Mühe und Hingebung 309 erforderte. Oft erzählte er von der fast unübersteiglichen Schwierigkeit, die rechten Worte zu finden, weil der englische Geist philosophischer Begriffsbildung widerstrebe, und daher die Sprache auch nicht auf solche eingerichtet sei. Die geistesstarke Frau mit dem grossen Herzen erfüllte die ersten Jahre ihrer Witwenschaft ganz mit dieser schweren Aufgabe, wie sie überhaupt eine Meisterin des Lebens war, die jede Stunde wertvoll und fruchtbringend zu erhalten wusste. Frau Jessy war Engländerin durch und durch, aber alles Deutsche am Herzen hegend, eine Frau von männlicher Sehweite und grossem Weltblick und Weltverstand, der sich auf Männerart mehr mit den Dingen als mit den Menschen beschäftigte. Wunderbar war ihre Selbstbeherrschung. An der Leiche des über alles geliebten Gatten liess sie sich keinen Augenblick gehen, sie reichte noch den erschütterten Freunden die gewohnte Tasse Tee, damit auch diese sich fassten. Und sie setzte es durch keinen Riss in ihr Leben kommen zu lassen. Ihr Mann war ihr nicht tot, er durfte nicht tot sein. In dem Saale, wo er sonst neben ihr die Freunde empfangen hatte, stand jetzt das schöne von Hildebrand gefertigte Kästchen mit seiner Asche; von der Wand blickte sein ernstes Oelbild den Besucher an, und die Witwe sprach von ihm noch in der Präsenzform, als ob er jeden 310 Augenblick hereintreten könnte. Das Verhältnis der kinderlosen Gatten, die erst in späten Jahren eine lange Lebensgemeinschaft durch die Ehe besiegeln konnten, war ein besonders schönes und edles gewesen. Auch wer mit Hillebrand keine tieferen Berührungspunkte hatte, musste sich an der ritterlichen Aufmerksamkeit erfreuen, mit der er die ältere, frühe schon harthörige und schwerbewegliche, aber immer liebenswürdige und kindlich heitere Frau umgab.

Sie war ein übersichtlicher Geist wie ihr Gatte und lebte ganz in seinen Ideen weiter. Unter englischen, französischen, deutschen, italienischen Zeitungen und wertvollen literarischen Veröffentlichungen fand man sie beim five o'clock, die immer gesellige Frau mit dem unverwüstlichen Kindergesicht, das im Alter noch Perlenzähne besass, umgeben von einem Kreis ansässiger oder durchreisender Freunde, mit denen sie sich durch das Hörrohr und in den letzten Jahren bei zunehmender Taubheit mit dem Bleistift unterhielt. Die Freundin Liszts und Bülows mit der ausserordentlichen musikalischen Begabung und Bildung, die so viel für das Musikleben in Florenz getan hatte, war gleichwohl keine künstlerische Natur, sondern gehörte eher zum Schlage der politischen Frauen, wenn sie das auch nicht auf grösserem Felde betätigen konnte. Ihr Drang war ins Breite zu 311 wirken, vielen viel zu sein. Immer hatte sie etwas zu schlichten, zu ordnen, zu vermitteln. Ihr war es selbstverständlich, dass ihr Leben nicht ihr allein noch ihrem nächsten Kreis gehören durfte, jeder in Not Befindliche oder der Förderung Bedürftige, jeder Betrübte, Einsame oder Freudlose hatte ein natürliches Anrecht an sie. Selbst ihre Musik sah sie nicht als Privateigentum an, sondern fühlte sich noch in ihren hohen Jahren verpflichtet, sich der Prüfung und Ausbildung unbemittelter Talente zu widmen. Das geschah aber alles so still und scheinlos, dass zu ihren Lebzeiten kaum jemals über diese Eigenschaften, die doch so einzig seltene sind, gesprochen wurde.

Dieser ernste Geist hatte besonders mit zunehmenden Jahren zuweilen das Bedürfnis im Spiele auszuruhen, und da sie nicht mit der Phantasie lebte, brauchte sie in solchen Stunden ein sichtbares Spielzeug. Die unzähligen Katzenbilder, mit denen sie sich umgab, sind allen Besuchern ihres Hauses in Erinnerung. Bei einem Sommeraufenthalt in Meiningen erblickte sie einmal im Schaufenster eines grossen Spielwarengeschäftes einen als Gigerl gekleideten Hasen, in den sie sich alsbald verliebte. Leider musste sie hören, dass der Hase ein Modell und somit nicht verkäuflich sei. Ihre Gesellschafterin redete ihr vergeblich zu, sich nach einem Ersatze umzusehen, sie konnte 312 vom Hasengigerl nicht lassen und ging täglich an dem Laden vorüber, ihn zu sehen. Vor ihrer Abreise schrieb sie einen scherzhaften Brief an den Inhaber des Geschäfts, der auf Ferien auswärts war, und schilderte ihm ihre unglückliche Leidenschaft, worauf dieser sofort Auftrag gab, der geistreichen Briefschreiberin den Gegenstand ihrer Gefühle zu überlassen. Voll Glück nahm sie das Spielzeug, in Seidenpapier gehüllt, mit sich ins Coupé, und als zu ihrer Durchfahrt in München Hildebrand am Bahnhof erschien, legte sie ihm als ersten Gruss den Hasengigerl in die Arme. Dass auch der Freund ihrem Liebling Anerkennung zollte, machte ihr den Besitz doppelt teuer, und mit strahlendem Gesicht erzählte sie mir in Florenz, wo alles dem Hasengigerl huldigen musste: »Hildebrand allein hat mich ganz verstanden.«

Frau Hillebrand war die letzte, die aus diesem glänzenden Kreise hinwegschied; sie starb im Frühjahr 1905. In ihren letzten Lebenstagen verlangte sie immer nach Hildebrand, dessen Ruhmesweg sie mit so grosser Liebe durch dreissig und mehr Jahre begleitet hatte, aber wenn er erschien, so konnte sie bei ihrer Taubheit, und da zuletzt auch die anderen Sinne gelitten hatten, seine Gegenwart nicht mehr deutlich wahrnehmen, und während er an ihrem Bette sass, verdämmerte sie leise.

313 Zwischen den zwei ruhmreichsten deutschen Künstlern in Florenz, Arnold Böcklin und Adolf Hildebrand, wollte sich nie ein näheres Verhältnis entwickeln. Immer blieb eine gewisse Fremdheit zwischen ihnen, die nicht gewollt, aber in beider Naturen begründet war. Keiner fand sich in der Welt des andern zurecht. Hildebrand hatte wohl an der prachtvollen Persönlichkeit des Schweizers seine helle Freude, aber er sagte mir einmal, er könne »nicht mit ihm denken«. Böcklin seinerseits bedurfte, wie mir scheint, eines inneren Dämmerlichts, um darin zu weben; wussten ja doch häufig sogar seine nächsten Angehörigen nicht, wie er innerlich zu einer Sache stand. Hildebrands immerwährender strahlend heller Tag mochte ihm störend sein, und er musste ihn abwehren. Auch war die Frische und Urwüchsigkeit seines eigenen Naturells kein Grund, dass er auf jedem Gebiete das Frischeste und Ursprünglichste geliebt und verstanden hätte; in der Poesie z. B. schätzte Böcklin den künstlichen Platen über alles, worüber mein Bruder Edgar, der ihm als Arzt und Freund so nahe stand, aber seinen literarischen Geschmack nicht teilte, manchen Strauss mit ihm ausfocht.

In der Kunst bewohnte jeder der beiden Künstler seine eigene abgeschlossene Insel. Hildebrand wusste mit der Böcklinschen Romantik nicht viel 314 anzufangen, und Böcklin seinerseits scheint zu Hildebrands strenger monumentaler Kunst auch keinen rechten Zugang gehabt zu haben. Als bei Gelegenheit seines siebzigsten Geburtstags der Maler dem Bildhauer zu seiner Büste sass, verbreitete sich unter den Bekannten eine bezeichnende kleine Anekdote. Hildebrand sollte während einer Sitzung dem Alten erzählt haben, dass es unter den jungen Münchner Künstlern, wenn sie sich gegenseitig in ihren Ateliers besuchten, Sitte sei, sich jeder Kritik zu enthalten und vor einem neuen Bilde nur im Ton der Hochachtung »Donnerwetter!« zu sagen, zu welcher Mitteilung der schweigsame Böcklin gelächelt und selber am Schluss der Sitzung, als er die Büste betrachtete, nichts geäussert haben soll als »Donnerwetter!« Immerhin beweist dieses Geschichtchen, wenn es wahr ist, dass beide sich doch hinlänglich kannten und schätzten, um Spass zu verstehen.

 

Seit den verklungenen Tagen von San Francesco hat Hildebrand für die deutsche Kultur eine eindringliche Bedeutung erlangt. Er hat durch die Macht seiner Persönlichkeit und durch das Beispiel seiner Werke in München eine ganz neue Atmosphäre geschaffen; auch auf Gebieten, wo er nicht selber tätig sein kann, fühlt man die Wellen seiner Wirkung sich verbreiten, und es wäre 315 wünschenswert, dass er seiner Nation im höchsten geistigsten Sinn ein »Erzieher« würde, der sie lehrte, wie er so oft seine Freunde gelehrt hat, dass nur das Einfache gross und nur das Naturgewachsene schön ist, und dass nicht vom schrankenlosen Ausleben des Individualismus, sondern vom Erstehen geschlossener künstlerischer Persönlichkeiten das Heil zu kommen hat. Aber seltsamerweise wird diese Macht, die so Grosses zu wirken vermag, in ihrem Ursprung vielfach nicht mehr verstanden. Hildebrand heisst jetzt Professor, »Doktor gar«, ja Doktor mehrerer Fakultäten, und was noch mehr ist, er hat ein Buch geschrieben, ein kleines Buch, worin er sich von dem Zustandekommen der Bildwirkung in der Plastik auf Grund seiner schöpferischen Erfahrung Rechenschaft gibt. Dieses zu Anfang vielumstrittene, halb-, miss- oder unverstandene Buch brachte mit der Zeit einen leisen aber stetig wachsenden Umschwung in der Anschauung der Kunst bei Künstlern und Laien hervor, wie es seine schönsten Werke allein nicht vermocht hätten; denn diesen Vorteil hat nun einmal das Wort vor allen andern Aeusserungen des Geistes voraus, dass es am weitesten dringt und die kräftigste Wirkung übt. Zugleich aber gab es seinem Verfasser auf einmal für die Oeffentlichkeit einen anderen Stempel, ja, es brachte mit der Zeit in sein persönliches Bild 316 für die Fernerstehenden eine Verzeichnung. Die theoretische Seite prägte sich dem Publikum als sein wesentlichstes, als die Hauptsache ein, sein Name verschmolz nicht sowohl mit dem Wittelsbacher Brunnen, der ungefähr gleichzeitig fertig wurde, als mit dem »Problem der Form«. In der Phantasie der Vielen stand dieser Schöpfergenius nunmehr als der »Professor« da, der Prinzipien ausheckt, ein halb spasshafter, halb ärgerlicher Anblick für die alten Freunde, die sich eher seine Verwandlung in einen Fluss- oder Flurgott hätten träumen lassen als diese.

»Wo eine Erkenntnis formuliert wird, ist immer ein Kampf vorangegangen, denn das, was einem leicht und selbstverständlich erscheint, spricht man nicht aus,« sagte er mir einmal in bezug auf sein Buch, und nichts ist einleuchtender als das. Hildebrands angeborener stärkster Zug ist auf die Wiedergabe des stummen Naturlauts in der Erscheinung gerichtet. Aus einer solchen Vorstellung, deren er innerlich zum Ueberfliessen voll ist, entspringt jede seiner Figuren. – Wer dürstet nicht mit und fühlt sich zugleich mit gelabt, der seinen bronzenen Knaben so gierig trinken sieht! – Das Prinzipielle kommt erst später hinzu und zuweilen unter grossen Wehen, denn es ist nicht das angeborene, sondern das erworbene. Er hat, wie er selber gesteht, lange gebraucht und 317 manchen Fehler gemacht, bis ihm die Gesetze der Plastik aufgingen, wie er sie in dem »Problem der Form« niedergelegt hat. Anfangs nahm auch er die Figur als runden Gegenstand, bis er aus der Erfahrung die Erkenntnis der Reliefvorstellung gewann. Die Leser seines Büchleins aber hielten das Prinzipielle für das Erste, für den Ausgangspunkt seines Schaffens. Ein wenig mag ja die Schreibart des Buches zu dem Missverständnis beigetragen haben. Es war merkwürdig genug, wie die Schrift zustande kam. Mit der geringen literarischen Vorbereitung, die er von der Schule mitgebracht hatte, ohne zu fragen, ob ihm vielleicht schon von andern vorgearbeitet sei oder nicht, stürzte er sich in das Unternehmen, auf neuen Denkwegen, für die die Worte erst geschaffen werden mussten, sich einem gleichfalls unvorbereiteten Leser mitzuteilen. Dabei geschah es dann des öfteren, dass die Worte, die seine Begriffe am besten ausgedrückt hätten, schon von der Sprache zu anderm Gebrauch gestempelt waren und darum den Sinn trübten. So abstrakt das Buch sich liest, es ist eine erstaunliche Leidenschaft hineingegossen, und die Arbeit war wie das Ringen Jakobs mit dem Engel. Unter der allergespanntesten Denktätigkeit schrieb der Autor oft zehn Stunden ununterbrochen fort, ohne Hunger und Durst zu fühlen, Worte schmiedend, 318 verwerfend, seine Fülle immer straffer und straffer zusammenfassend. Er selber verglich es später einem haarscharfen Gehen auf steilstem Grat, wo jeder Schritt nach rechts oder links zum Sturze führe. Von Hauptsatz zu Hauptsatz, von Beweis zu Beweis eilt er unaufhaltsam fort, kaum jemals beim freundlichen Grün eines Beispiels Atem schöpfend, dass dem Leser Hören und Sehen vergeht und dem Autor selbst wohl später beim Wiederlesen etwas schwindlig werden mochte in der dünnen Aetherluft seiner Abstraktionen. Denn er, der als Künstler so viel für das Auge getan hat und auch beim Schreiben inwendig ganz voll ist von gesehenen Dingen, gibt nur den Niederschlag seiner Erfahrungen in der abstraktesten Form wieder, rasch, knapp, gedrängt, ohne dem Leser das erläuternde Konkrete zu gönnen, weil es ihm eilt, vom Schreibtisch weg und wieder in seine Werkstatt zu kommen. Ihm freilich sind seine Abstraktionen nur die bequeme Abkürzung für unendliche Reihen sichtbarer Vorstellung. Der Leser aber, der die grünen Pfade seiner schöpferischen Erfahrung nicht mit ihm gewandelt ist, sondern sich die fertigen Ergebnisse durch eine angestrengte Denktätigkeit aneignen muss, kommt leicht zu dem Schluss, dass sie auch durch pure Denktätigkeit gewonnen seien, und verwechselt sie gar mit der Theorie, die grau geboren ist! 319 Der Künstler hatte vergessen, dass neben dem Kultus der Sache doch auch der Leser einige Rücksicht verlangt.

 

Wer in die geistigen Tiefen eines Menschen zu blicken wünscht, der versäume nicht, ihn nach seinen Träumen zu fragen. Hildebrand, der Plastiker, träumt als Poet. In Freundeskreisen ist sein Traum von den drei Schlüsseln berühmt geworden, der sich anhört wie die liebliche, symbolisch-märchenhafte Erfindung eines Dichters. Ich habe kein Recht, ihn zu erzählen, er wäre auch zu lang zur Mitteilung. Ein andrer, kürzerer hat gleichfalls symbolischen Gehalt. Ihm träumte, er befand sich mit Albrecht Dürer und Gottvater zusammen, wobei er selber halb in Dürer, halb in eigener Person zugegen war. Dürer wies Gottvater, den ein langer Bart und wallende Gewänder umhüllten, sein jüngstes Werk, und der kleine Schöpfer sagte zu dem grossen:

Ich mochte schier verzagen,
Vor grosser Angst vergehn,
Als ich mit deinen Augen,
Herrgott, die Welt tat sehn.

Das innere Kleinwerden des Grossen vor einem geahnten unendlich Grösseren, aus dessen Augen ihm doch einmal zu blicken vergönnt ist, und die Einfalt der Sprache, die wirklich an die dem 320 Träumer, wie er mir sagte, gar nicht erinnerlichen Dürerschen Knittelverse mahnt, das ist einer jener Einfälle des Traumgottes, die das Medium zum Dichter stempeln.

Seit der Künstler wieder dauernd in Deutschland lebt, tritt das poetische Element in seinen Werken erst mit seiner ganzen unwiderstehlichen Kraft und Freiheit hervor. In seinen neuen Brunnenschöpfungen verbinden sich Züge des deutschen Märchens mit der klassischen Formenklarheit zu einem Stimmungszauber, wie er sonst der Plastik nicht erreichbar schien. Wenn seine Jugendgebilde, als Individuen genommen, zuweilen in ihrer Naivität beinahe etwas tapsig erscheinen wollten, wie Adam im Paradiese, wenn man dann späterhin vielleicht ab und zu das Ringen mit dem Prinzip spürte, so gilt von jedem seiner neueren Werke das Dichterwort:

Ausgestossen hat es jeden Zeugen
Menschlicher Bedürftigkeit.

So von Werk zu Werk fortschreitend, sich immer erneuend und wachsend wie ein breiter Strom, der weithin Fülle spendet, gibt Adolf Hildebrand der Welt den seltenen, kaum je gesehenen Anblick des Genius, der glücklich ist. Möge er es lange bleiben!

 


 


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