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»Er ist aus altlombardischem Geschlecht«, lässt Schiller seine Thekla von dem Geliebten sagen. Allein hierin irrt sich der Dichter, denn die Piccolomini sind seit grauen Zeiten in Siena ansässig. Dort bezeugen die vielen Paläste und andere Baudenkmäler, die ihren Namen tragen, darunter vor allem die schöne von Pius II. als Vereinigungsort für seine Familie erbaute Loggia (loggia del Papa), den Rang und Reichtum der Piccolomini. Der Name bedeutet ursprünglich Kleine Leute, und noch jetzt sagt der Italiener scherzweise von einem, der zu kurz geraten ist, er gehöre zur Familie Piccolomini.
An der Spitze ihres Stammbaums steht im elften Jahrhundert ein Piccolomo (Kleiner Mann), der eine Persönlichkeit von Gewicht gewesen sein muss, denn sein Vorname wiederholt sich nun so häufig in der Familie, dass er, wie dies in Italien oft geschah, durch Anhängung der Pluralform zum Familiennamen wurde. Der bedeutendste des Geschlechts war der berühmte Gelehrte Aeneas Sylvius Piccolomini, Kanzler des Kaisers Friedrich III. und späterer Papst Pius II. Mit ihm wäre seine Linie erloschen, wenn er nicht die Söhne seiner beiden Schwestern Laudomia und Caterina adoptiert hätte, die so den Namen Piccolomini fortpflanzten. Der Sohn Laudomias 352 bestieg später als Pius III. selbst den päpstlichen Stuhl, von Caterina, der jüngeren, stammt der Zweig, dem der aus Schillers »Wallenstein« wohlbekannte Octavio Piccolomini angehört.
Das Konversationslexikon belehrt uns, dass Octavio kinderlos gestorben sei, und lange galt der dem deutschen Volk ins Herz gewachsene Max Piccolomini für eine reine Phantasiegestalt. Beides ist unrichtig. Einen Sohn Octavios hat es freilich nie gegeben, und seine im Alter von zweiundfünfzig Jahren geschlossene Ehe mit der sechzehnjährigen Prinzessin Maria Benigna von Sachsen-Lauenburg blieb in Wahrheit kinderlos. Dass Octavio dennoch Vater gewesen ist, wiewohl er diesem Namen keine sonderliche Ehre machte, geht aus Urkunden des florentinischen Staatsarchivs hervor.Die Entdeckung dieser Urkunden ist dem grössten Kenner der florentinischen Geschichte, Herrn Prof. Robert Davidsohn in Florenz, zu danken. In den dort befindlichen Papieren des Klosters della Concezione Immacolata, auch schlechtweg Monastero nuovo genannt, wird wiederholt eine Violante, »natürliche Tochter des Marschalls Ottavio Piccolomini« erwähnt, die mit ihrem Klosternamen Schwester Maria Octavia hiess. Sie war um 1627 geboren worden, ungefähr um die Zeit, wo ihr Vater nach rühmlichen Kämpfen auf italienischem Boden sein Regiment nach Deutschland führte und unter den 353 Oberbefehl des Wallenstein trat. Das Kind wurde nach Octavios eigener Mutter Violante genannt, ein Name, der auch sonst vielfach in der Familie Piccolomini vorkam. Bei Octavios Schwägerin, Frau Caterina Adimari Piccolomini, der Witwe seines älteren Bruders Silvio Enea, wurde die »Violantina«, wie sie in Briefen heisst, aufgezogen. Die Dame hatte auf Montughi, einem Hügel bei Florenz, ihren Wohnsitz, denn dieser Zweig der Piccolomini war florentinisch geworden, da der Vater unter Grossherzog Ferdinand die Würde eines General-Feldzeugmeisters der Toskana bekleidet hatte. Beide Söhne, zwischen denen noch ein dritter, Ascanio, später Erzbischof von Siena, stand, dienten von der Pike auf im Heer. Silvio Enea fiel als kaiserlicher Oberst in einer der ersten Schlachten des Dreissigjährigen Krieges auf böhmischem Boden; der bei weitem jüngere Octavio (geb. 1599), der als Achtzehnjähriger vom Grossherzog mit toskanischen Hilfstruppen nach Ungarn geschickt worden war und dort seine ersten Proben abgelegt hatte, sollte in glanzvoller Laufbahn, die ihn über alle europäischen Schlachtfelder führte, von Stufe zu Stufe emporsteigen, um schliesslich als deutscher Reichsfürst zu endigen. Durch seine bei Lützen bewiesene heldenmütige Tapferkeit wurde er der Vertrauensmann des Friedländers, der, von 354 astrologischem Wahne verblendet, in dem Piccolomini seine festeste Stütze sah, weil beide den Planetenstand der Geburtsstunde miteinander gemein hatten. Wie Octavio dieses Vertrauen benützte um den Untergang des gewaltigen Kriegsfürsten herbeizuführen, ist bekannt. Nach der blutigen Katastrophe von Eger wurde er vom Kaiser mit der Herrschaft Nachod, einem Besitz des ermordeten Grafen Terzka, belohnt. Damals erlangte er auch den Feldmarschallsrang, doch war diese Auszeichnung nur die Vorbereitung auf Grösseres, das ihm bevorstand.
Gerade um diese Zeit, wo der Stern des Vaters in so raschem Steigen war, wurde die arme, damals erst neunjährige Violante ins Kloster gebracht, das sie nicht wieder verlassen sollte. Eine Mitgift von 3000 Scudi nebst der Aussteuer war alles, was Octavio ihr aussetzte, und damit scheint der ruhmgekrönte Feldmarschall sich seiner Vaterpflichten für immer entledigt zu haben.
»Das war kein Heldenstück, Octavio!« möchte man auch hier sagen, wenn man nicht wüsste, wie allgemein damals die Gepflogenheit war, sich die Töchter, auch die legitimen, wenn sie der Familie zur Last fielen, auf diese Weise vom Halse zu schaffen. Das Kloster der »Unbefleckten Empfängnis« war übrigens hocharistokratisch und sehr reich; seine in der Via della scala gelegenen 355 prachtvollen, mit Malereien geschmückten Räume hatten in früheren Zeiten den Päpsten, die Florenz besuchten, zum Aufenthalt gedient. Es hing von dem zur Unterwerfung der Türken von Cosimo I. gegründeten Ritterorden des hl. Stephan von Pisa ab, und seine Nonnen, welche die Adelsprobe abgelegt haben mussten, genossen die Ehre, sich Cavaliere (Ritterinnen) zu schreiben.
Viele Mühe scheint man sich dort mit der Erziehung der kleinen Violante nicht gegeben zu haben, nach ihrem Profess zu urteilen, den sie mit siebzehn Jahren ablegte. Denn er ist von fremder Hand geschrieben und von ihr mit so kindisch unsicherer und ungeübter Schrift unterzeichnet, dass man aus diesem Schriftstück geradezu schliessen muss, Schwester Maria Octavia sei die ungebildetste Nonne des ganzen Konvents gewesen.
Ihr Geschick steht im grellsten Gegensatz zu der Laufbahn des Vaters, die über die ganze Familie ihren Glanz ergoss. Woher diese Unterdrückung einer Tochter, die er nach der Sitte der Zeit hätte anerkennen dürfen, ohne in Tadel zu verfallen? Vielleicht, dass in dem Schlossarchiv von Nachod, das seine Korrespondenz mit Frau Caterina Adimari Piccolomini enthält, auch noch Briefe liegen, die über den innern Beweggrund dieser Handlungsweise Aufschluss gäben.
356 Hatte er der Schwägerin seine Tochter anvertraut, so vertrat er dagegen Vaterstelle bei deren ältestem Sohne. Und der Sohn, den er für die Violante eintauschte, ist kein anderer als jener Joseph Silvio Piccolomini, »genannt Max«, dem Schiller die Züge seines jungen Helden entlehnt hat. Denn dass der Max nicht, wie vordem geglaubt wurde, eine reine Erfindung der Schillerschen Muse ist, hat Freiherr von Weyhe-Eimke in seiner Schrift »Die historische Persönlichkeit des Max Piccolomini« (Pilsen 1870) nachgewiesen. Dieser Lieblingsheld unserer Grossmütter ist wirklich einmal in Fleisch und Bein gewandelt, wenn auch nicht als leiblicher Sohn des Octavio, so doch als sein Wahlsohn, auf den der ruhmvolle Kriegsheld »ob seines heroischen Gemüts seine ganze Speranza gesetzt hatte«. Der junge Toskaner muss ganz das Kind des Lagers gewesen sein, wie Schiller ihn zeichnet. Schon in frühester Jugend wurde er wegen seiner Trefflichkeit zum Obersten ernannt, und er scheint der Dichtung auch Charakterzüge geliefert zu haben, nur dass die Daten völlig verändert sind.
Um seinetwillen verzichtete Octavio auf leibliche Erben. Dem Neffen sollten mit Uebergehung der natürlichen Tochter die grossen Besitztümer zufallen, die der Verrat an 357 Wallenstein – wenn man den Abfall von einem Verräter so bezeichnen darf – dem Oheim eingetragen hatte. Aber nichtig waren diese Voraussetzungen: mit dem frühen Tode seines Lieblings musste Octavio dem Glücke, das ihm in allem gelächelt hatte, seine Schuld bezahlen. In der blutigen Schlacht von Jankau, am 6. März 1646, geriet der Oberst Piccolomini, der an der Spitze seines Kürassierregiments dem Feinde furchtbare Verluste beigebracht hatte, in die Gefangenschaft der Schweden, nachdem sein Ross unter ihm gefallen war. Von der nachdringenden kaiserlichen Reiterei wieder herausgehauen, fiel er bei einem neuen Angriff der Schweden dem Feinde schwerverwundet abermals in die Hände, und dieser, um seinen Gefangenen nicht zum zweitenmal zu verlieren, trug keine Scheu, den Wehrlosen zu ermorden. Es war also von so ritterlicher Gesinnung, wie Schiller sie dem Feind beim Tode des jungen Helden zuschreibt, keine Rede. Auch die Liebe des Max und der Thekla ist eine Erfindung des Dichters, denn beim Tode des Friedländers war dessen Tochter, die mit ihrem wahren Namen Marie Elisabeth hiess, noch ein Kind. In der Stadtkirche von Nachod ruhen die Gebeine des ritterlichen Jünglings; sein anziehendes Bild, »mit den grossen, schwärmerischen Augen«, hängt im grossen Piccolominisaale auf Schloss Nachod, und 358 der Anblick dieses Porträts soll Schiller den ersten Gedanken an die lichte Gestalt seines Helden eingegeben haben, der über die düstere Welt des Wallensteinschen Lagers einen so hellen Schein giesst und nahe verwandt ist mit allem jugendlich Holden in Sage und Dichtung, das ein kurzes Leben hat.
Man pflegt im allgemeinen dem Dichter einen schlechten Dienst zu erweisen, wenn man, was er mit ordnender Hand zusammengefügt hat, wieder in seine historischen Bestandteile zerlegt. Im Falle der Piccolomini ist es anders: man kann nicht ohne erhöhte Bewunderung für den Schillerschen Genius die zerstreuten, zufällig daliegenden Steine betrachten, aus denen er sein herrliches Werk aufgeführt hat. Es war in einer seiner glücklichsten Stunden, dass ihm die fragwürdige Gestalt des korrekten, ehrenfesten Verräters Octavio aufging. Der historische Piccolomini mit seiner Herzenskühle, seiner sicheren Gewandtheit auf dem gefährlichen Boden und der Fähigkeit der langen tiefen Verstellung ist der echte Enkel der italienischen Renaissance, zugleich aber auch der Sohn einer neueren Zeit, die kein Condottierenwesen mehr dulden konnte und nur die legitime Gewalt verehrte.
Diesen Charakter hat Schiller seinem deutschen Publikum dadurch verständlich gemacht, 359 dass er den damals Fünfunddreissigjährigen in einen alten Mann verwandelte; so schuf er sich zugleich die Gelegenheit, ihm den Max als leiblichen Sohn zur Seite zu stellen – den reinen Jugendidealismus »faltenlos und leuchtend« neben die krummen Wege des alten Weltmanns und Menschenkenners. Shakespeare hätte den Octavio vielleicht zum teuflischen Intriganten gemacht. Schiller rettete in ihm die Würde der Menschheit, indem er seiner Tat die Soldatentreue gegen den Kaiser unterschob, nur mit einem leisen, uneingestandenen Nebenmotiv vermischt, das ihm aber Max als sein verkörpertes Gewissen ins Gesicht sagt:
»Du steigst durch seinen Fall. Octavio,
Das will mir nicht gefallen.«
Mit dem Tode dieses jungen Helden, der in Wahrheit erst elf Jahre später erfolgte, nahm Schiller die Sühne für den an Wallenstein begangenen Verrat voraus. Der Verlust des Max war auch für den historischen Octavio ein harter Schlag, denn sein Haus war nun in der Tat verödet. Fünf Monate zuvor hatte Violante in Florenz den Schleier genommen. Was nützte ihm nun der Titel eines Herzogs von Amalfi, den ihm der König von Spanien verliehen hatte, was der Reichsfürstenstand, in den ihn 1650 der Kaiser auf Ersuchen sämtlicher deutschen Fürsten 360 erhob, zur Belohnung für »hochvernünfftige, berümbde gute Conduiten«, »heroische Dapfferkeit, Prudenz und Vigilanz« und vor allem für die »weisvortreffliche Dexterität«, mit der er den Westfälischen Frieden zum endlichen Abschluss gebracht hatte, –wenn ihm für alle diese Würden und Ehren der Erbe fehlte? So entschloss er sich endlich zu der späten Ehe, die ihm aber keine Früchte mehr trug und die es nicht verhinderte, dass nach seinem 1656 erfolgten Tode der grosse fürstlich Piccolominische Besitz an entferntere Verwandte fiel.
Im Jahre 1692 schloss zu Florenz die Tochter des Octavio Piccolomini als arme alte Nonne die Augen. Die Sparsamkeit, mit der sie zu Lebzeiten behandelt worden war, verleugnete sich auch bei ihrer Beerdigung nicht, denn die Rechnung für die dabei aufgewandten Kosten ist befremdend niedrig. Keine der andern Stephansritterinnen ist mit so geringem Aufwand an Kerzen, Messen usw. zur Ruhe gebettet worden wie die Suor Maria Octavia Piccolomini. – Auf den wenigen Urkunden, die von ihr zeugen, gleisst noch der Silbersand, als ob er von gestern wäre, aber Violantens Leben liegt verschüttet und verschollen zwischen diesen Blättern. Unter den Nonnen des Monastero nuovo befanden sich übrigens zu ihrer Zeit noch zwei andere Piccolomini, und die Tante, 361 die so grosse Eile gehabt hatte, das Kind dem Kloster zu überliefern, stiftete dort ewige Seelenmessen für sich und ihre Angehörigen. Das Neue Kloster wurde erst in Napoleonischer Zeit aufgehoben, die Räume, wo Schwester Maria Octavia wandelte und wo für Joseph Silvio Max Piccolomini die Seelenmessen gelesen wurden, dienen jetzt als Militär-Erziehungsanstalt. Die uralte zahlreiche Familie der Grafen Piccolomini blüht noch heute in Italien; die in Oesterreich angesiedelte gefürstete Linie ist seit 1757 erloschen.