Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Einsiedel und die Nymphe Arethusa

Auf der herrlichen Insel Euböa, nicht weit von der Stadt Chalkis, stand in hellenischer Vorzeit ein schönes Marmorheiligtum der Quellnymphe Arethusa, die dort unterhalb eines flachen, besiedelten Bergrückens mit silberhellem Mädchenlachen aus einer engen Felskluft sprang, sich nach einem Laufe von wenig Schritten kopfüber ins Meer stürzte und in kurzer Entfernung vom Ufer aus der Salzflut wieder auftauchte, ihre Haare schüttelte und einen Springquell von Süßwasser empor warf. An diesem munteren Wasserspiel hatten die Inselbewohner so viel Freude, daß sie der schönen Fröhlichen zum Dank und schuldiger Verehrung die Marmorgrotte nebst umgebenden Anlagen geweiht hatten, wovon man heute noch die Spuren sieht. Dort pflegten zu gewissen Zeiten des Jahrs die Bewohner von Chalkis, und was an fremden Gästen über den Euripos kam, ihre Opfer darzubringen. Da geschah es eines Tages, daß ein gewaltiges unterirdisches Beben den Fels am Meere durch und durch spaltete, wobei Quell und Heiligtum der Arethusa verschüttet, auch die darüber gelegene Ortschaft auf dem Berg zerstört wurde. Niemand hatte zum Ausgraben und Wiederaufbauen Zeit, denn es gingen Krieg und Pestilenz durch die Welt, römische und barbarische Heere ergossen sich über Hellas, und als es endlich stille, ganz stille ward, da gab es keine griechischen Götter mehr, die großen Olympier waren samt allen den kleinen Untergottheiten vor dem Gekreuzigten entflohen, niemand wußte wohin. Und Arethusa, die kein Tageslicht mehr sah und keinen Menschenlaut vernahm, schlief immerzu in ihrer steinernen Behausung.

An der ganz verödeten Stelle hatte sich aber ein frommer Klausner niedergelassen, der ferne von den Unbilden der Welt allein zwischen Meer und Bergwand heiliger Gedanken pflog. Die Schafhirten, die auf dem sonnverbrannten Bergrücken über dem Schutte der ehemaligen menschlichen Wohnstätten weideten, teilten ihr Brot und ihre Milch mit ihm, aber er litt oft große Not um frisches Wasser, daher er beschloß den Arethusaquell aufzugraben. Die Kunde, daß hier ein Quellheiligtum gestanden, hatte sich nämlich in der Gegend erhalten, es war sogar die Verehrung der Nymphe, die dem dürstenden Lande eine Wohltäterin gewesen, nicht völlig im Volke erloschen, denn gelegentlich fand der Einsiedel wohl einmal die Felsplatte mit einem Guß von Öl benetzt, oder die schöne Olive, die ihre Zweige über seine Klause breitete und ihm Früchte als Zukost spendete, mit bunten Bändern geschmückt, welche Überreste heidnischen Irrwahns ihn erstaunten und verdrossen. Er verschaffte sich Werkzeug und grub hart neben seiner Klause im Boden, wo er unter Trümmersturz die ehemalige Grotte vermuten mußte. Eines Tages war er tiefer in die verschüttete Schlucht eingedrungen, nachdem er eine große Menge teils behauener, teils unbehauener Steine auf die Seite geschafft hatte, da sprang ihm aus dem Dunkel unversehens mit silbernem Jubel die blanke Nymphe an den Hals und überschüttete den Entsetzten mit ihrem Gesprudel.

Der fromme Mann hielt sie für eins der gewohnten Spukbilder, womit ihn der Dämon zu versuchen pflegte, und begann alsbald seine Beschwörung. Allein die Schöne verschwand nicht unter Schwefeldampf, wie er erwartet hatte, sondern blieb so wie sie war, nur mit ihrem rieselnden Haare bekleidet, vor ihm stehen und fragte: Wer bist du, sonderbarer Mann, und was willst du hier?

Was willst denn du, Töchterlein des Dämons? fragte der Alte zurück und begoß sie mit Wasser, indem er den Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes anrief.

Davon litt sie augenscheinlich nicht die geringste Beschwerde, sondern sagte mit vieler Würde, wenn auch sehr lieblich lächelnd:

Ich bin Arethusa, die Herrin dieses Ortes, an dem du nur durch mich geduldet verweilen kannst. Also hast du kein Recht mich zu fragen, was ich hier will. Ich bin dir übrigens nicht böse, daß du mich aus dem Schlafe geweckt hast, und erlaube dir deinen Durst aus meinem Geriesel zu stillen. Auch wenn du ein Bad in meinem klaren Becken nehmen willst, so habe ich nichts dawider, denn du scheinst mir lange nicht gewaschen, lieber Mann, und dein Bart und Haar bedarf gleichfalls der Pflege.

Du hast hier wenig zu erlauben, meine Kleine, sagte der Einsiedel mit einem Spott, der nicht ganz ohne Gutmütigkeit war. Die Zeit für dich und deinesgleichen ist vorüber. Durchwandere die Insel nach allen Seiten und begib dich hinüber aufs Festland, du wirst in ganz Hellas keinen von deiner Sippe mehr antreffen. Sie sind längst beim Anblick des Kreuzes alle köpflings in die Hölle gestürzt, die ihr den Tartaros nennt. Ja, sieh mich nur so staunend an: es gibt keinen Vater Zeus mehr, und das ganze olympische Gesindel ist mit ihm verschwunden. Was deine Rechte an diesen Ort betrifft, so reibe dir die Augen und sieh, daß hier keine Nymphengrotte mehr steht. Auch das blanke Becken, zu dem du mich einlädst, ist nur in deiner Einbildung vorhanden, von deiner einst so berühmten Quelle läuft jetzt ein dünnes Fädlein ins Meer, dem ich soeben mit Hacke und Schaufel erst den Weg geschaffen habe. Hier nebenan steht meine Klause. Ich hoffe, du wirst mich nicht in meinen Betrachtungen stören. Wenn du dich aber bekehren willst und die Hoffart lassen und den Namen der heiligen Dreifaltigkeit anbeten, auch deinen etwas mangelhaften Anzug, so gut du's vermagst, ergänzen, so will ich sehen, was ich für dich tun kann. Jetzt aber will ich zunächst einmal allein in meiner Zelle für dich beten.

Damit trat er über das Gestein stolpernd einen vorsichtigen Rückzug an, denn es war ihm doch beim Anblick der lebendigen heidnischen Schönheit etwas sonderbar zumute geworden.

Arethusa aber trat aus den Trümmern ihres zerstörten Heiligtums, blickte aufs Meer hinaus und härmte sich, soweit eine Quellnymphe sich härmen kann, denn diese sind von kühler und flüchtiger Art und wenig der Gefühlsschwärmerei ergeben. Sie sann über die Rede des seltsamen Mannes, der ihr rauh aber nicht böse erschienen war, nach und begriff, daß sie lange, lange geschlafen hatte und daß jetzt in der Tat die Welt verwandelt war. Denn soweit sie umherschweifte, nirgends fand sie mehr eine bekannte Erscheinung. Von all ihren Schwestern, die sonst mit den vollen Urnen am Strande liefen, die durstigen Felder zu tränken, war keine mehr zu sehen, und an Stelle der Felder lag Ödland, die Flußgötter, die sonst um ihre Mündungen mit den Nereiden scherzten und den Quellnymphen auflauerten, waren zusamt den Flüssen verschwunden. Die Oreaden von der Bergeshöhe gaben auf ihre Rufe keine Antwort mehr, und selbst von den kleineren ländlichen Gottheiten, den Panisken, mit denen sie oft herablassend gespielt hatte, war nirgends eine Spur. Sie fuhr ins Meer hinab und durcheilte seine Tiefen: da gab es keine Nereiden mehr, die Tritonen, diese Faune der Salzflut, vor denen sie sich immer so sehr gefürchtet hatte, waren ausgestorben, nur die Fische kamen dummglotzend heran und schossen vorüber. Klagend irrte sie über die Insel, suchte die Haine und Standbilder der Götter und fand sie nicht mehr, selbst die prangende Stadt Chalkis lag verödet und ihre Tempel zerfielen. Über den Trümmern lebte ein spärliches, zerstreutes Hirtenvolk, das zu anderen, ihr unverständlichen Bildern flehte. Nur die grünen Wellen des Euripos schossen mächtig und rauschend hin wie zur Zeit, wo die zürnende Artemis hier die Schiffe des Atriden am Weiterfahren gehemmt hatte.

In solcher Einsamkeit konnte es Arethusa mit ihrer geselligen Natur nicht lange aushalten, und so pochte sie denn richtig eines Tages bescheiden an die Tür des Einsiedels nachdem sie, seiner Rüge eingedenk, sich um und um züchtig in ihre langen Haare verhüllt hatte.

Auf seine unwirsche Frage, wer ihn störe, antwortete sie bittend, sie sei gar so allein und möchte ihm gerne ein wenig Gesellschaft leisten dürfen.

Willst du dich bekehren und den Gekreuzigten anbeten? fragte er durch den Türspalt.

Ach nein, den kenne ich nicht, antwortete sie, und ich bitte dich, mir nicht von so schrecklichen Dingen zu sprechen. Ich möchte dir gerne etwas vorsingen, damit die Zeit hingeht, denn ich sagte dir ja schon, ich bin traurig.

Und alsbald erhob sie einen Gesang, der an das silberne Rieseln eines einsamen Waldbachs erinnerte. Aber der fromme Mann stopfte sich die Ohren zu und wollte nicht hören.

Wieder wohnten sie längere Zeit nebeneinander ohne sich zu sehen, denn der Klausner vermied es vor seine Tür zu treten. Und die Arethusa gab vor lauter Traurigkeit das Singen auf, daß er auch ihre Stimme nicht mehr hörte und am Ende fürchtete, es sei ihr ein Schade zugestoßen, daher er eines Nachts vor ihre Grotte schlich, um hineinzuspähen. Drinnen sah er sie beim Mondlicht in ihrer blanken Schönheit, die Urne im Arm, neben der Quelle ausgestreckt im Schlummer liegen, daß er heftig erschrak und hinwegeilte. Darüber wurde es Herbst, und keiner ihrer alten Freunde und Verehrer kam nach Arethusa fragen, nirgends entdeckte sie ein Anzeichen der Ihrigen. Nur einmal, da es schon dem Winter zuging, kam ein uraltes zitterndes Weiblein und hing ein ganz verblichenes Band um die junge Strandkiefer, die vor ihrer Höhle sproßte, um die Nymphe zu ehren, denn so hatte es ihre Ahne und ihre Urahne einst gehalten. Von dieser letzten Andächtigen erhielt Arethusa die traurige Bestätigung, daß der ganze Olymp entvölkert war und daß seine Bewohner sich auf einer fernen fremden Insel, die man die liparische heiße, durch den Schlund eines feurigen Vulkans ins Erdinnere zurückgezogen hätten.

Arethusa weinte so, daß ihr Wasser stieg und unter der geschlossenen Tür in die Zelle ihres Nachbars drang.

Jetzt öffnete er notgedrungen und sah Arethusa in Tränen.

Was ist denn das heute für ein Jammer? fragte er.

Du weißt es ja, die Meinigen sind alle von der Erde verschwunden, ich bin allein noch übrig und weiß nicht, wie ihnen nachfolgen, denn ich kenne die Insel nicht, die man die liparische heißt, und es wäre mir bange, durch den feurigen Schlund hinabzufahren.

Ich fürchte, du wirst noch durch einen ganz anderen Feuerschlund fahren müssen als den liparischen, wenn du noch länger der Bekehrung widerstrebst, die dir kraft der unerschöpflichen Güte des Herrn durch seinen unwürdigen Diener Athanasius zuteil werden könnte.

So will ich mich denn bekehren, seufzte die arme Arethusa, die sah, daß ihr kein anderes Mittel blieb, wenn sie wieder ein wenig Anschluß gewinnen wollte.

Da muß ich dich zunächst taufen, sagte der Einsiedel.

Er tauchte ihr nun das Haupt tief in ihre eigene Quelle, wozu sie mächtig lachen mußte und ihn beim Heraufkommen über und über mit Wasser bespritzte. Dann hieß er sie dem Teufel und seinen Werken widersagen, was ihr nicht schwer fiel, da sie selbigen ja gar nicht kannte. Zuletzt bekleidete er sie mit einem alten Mantel, der sich in seiner Klause fand und der ihr anfangs gar nicht gefallen wollte, dem sie aber schließlich nach vielem Probieren doch durch anmutigen Faltenwurf eine gewisse Kleidsamkeit zu verleihen wußte. Und nun hieß er sie auf dem Felsblock niedersitzen und aufmerksam zuhören.

Er erzählte ihr von dem Besuch des Engels, wie er mit dem Lilienstengel zu der Jungfrau kam, ihr die hohe Botschaft zu bringen. Dann von der Flucht nach Ägypten, und von dem Kindlein, wie es in der Krippe lag und wie die Öchslein und Geißlein es staunend umstanden, wie die Hirten und Engel sangen und die drei Könige, von dem Stern geführt, ihre Geschenke brachten.

Arethusa schmiegte den Kopf glückselig an seine Schulter und sagte:

O Vater Einsiedel, so schöne Geschichten hat mir noch niemand erzählt wie du.

Aber als er nun von der Sendung des Menschensohnes sprach, von seinen Wundern und Heilungen und von dem Haß der Schriftgelehrten, ermüdete sie sichtlich, und bis er zu der Festnahme des Erlösers und seinem Leidensweg nach Golgatha kam, da hatte sie ihr Haupt auf seinen Schoß herabsinken lassen, und er sah, daß sie so fest schlief wie einst die Jünger auf dem Ölberg.

Er weckte sie sanft und gab ihr das Kruzifix zu küssen, das in seiner Zelle hing.

 

Sie gehorchte und betrachtete es genauer, indem noch schlafbefangen fragte:

Ist das der liebe Himmelmensch, den die bösen Männer ans Kreuz gebunden haben?

Nicht gebunden, mein Töchterchen. Sie haben ihn an Händen und Füßen grausam mit langen Eisennägeln festgenagelt.

Da schrie sie laut auf: O gräßlich, gräßlich, gräßlich! und lief davon, daß ihr langes Haar flatterte und das Gewand ihr schwer um die Glieder schlug.

Aber in der nächsten Frühe klopfte sie schon wieder an seine Zelle, weil ihr nachträglich etwas eingefallen war. Denn die Nymphen sind nicht nachdenksamen Geistes und die tiefsinnigeren Fragen kommen ihnen meistens nachderhand.

Vater, warum ließ er sich das gefallen? fragte sie durch den Spalt.

Hast du mich denn noch nicht verstanden? Um dich und mich und die Welt zu erlösen.

Ach nein, sie hatte ihn nicht verstanden, es ging einfach über ihre Fassungskraft, und er hatte sich noch lange Zeit zu mühen, ehe sie ihn verstand.

Nun höre besser zu, sagte er mit aufgehobenem Finger wie zu einem Kinde. Und er holte weit aus, sprach vom Falle des ersten Menschen, und wie alles, was da lebt, in Sünde geboren und der Erlösung bedürftig sei.

Ich bin nicht in Sünde geboren, sagte die Nymphe seelenruhig. Und plötzlich fiel ihr ihre festliche Vergangenheit wieder ein, die Opferfeierlichkeiten und die Preisgesänge, die ihr zu Ehren gedichtet und vor ihrer Marmorgrotte vorgetragen worden waren, und sie begann mit heller Stimme zu singen:

Mich gebar dem waltenden Zeus die holdselige Mutter,
Merope, silbergewandet, des Stromgotts Tochter, des hohen,
Der am elëischen Strand ins Meer sein Gewässer ergießet.
Diesem gab mich die Mutter, die sterbende, daß mich der Alte
Aufzög' wie er vermöchte mit Hilfe dienender Nymphen
Dort am Gestad, dem schönen, und herzlich liebte der Ahn mich.
Spielte Haschen mit mir und sprang kopfüber ins Sturzbad,
Tauchte wieder empor, das Haupt mit Binsen umkränzet,
Vor dem jauchzenden Kind. Ja, selig war meine Jugend.

Jetzt höre aber auf mit dem langweiligen Gedudel, sagte der Klausner unmutig, der nicht musisch vorgebildet war.

Es ist kein Gedudel, gab die Nymphe gekränkt zur Antwort, es ist die Sprache, in der der göttliche Homeros seine Helden sang.

So singe in Gottes Namen weiter.

Die Nymphe konnte nicht lange schmollen, sie hob gleich ihre lieblich eintönige Weise aufs neue an:

Arethusa nannte in wehmutvollem Gedenken
Mich der Ahn, der Nymphe, der Wasserzerfloss'nen zu Ehren,
Die durch sprödes Versagen dereinst ihn mächtig entzündet,
Daß er der Fliehenden folgte, der Götterentrückten, und ganz das
Jonische Meer durchschwamm in unterseeischem Rasen,
Bis auf Ortygia Insel bei Syrakus. ( Anm.d.Verf.) beide das Land erstiegen und endlich
Sie den Wunsch ihm gewährt, sein Wasser dem ihren zu mischen.
Diese gab mir den Namen, doch ich bin jüngeren Alters.

Bist du jetzt fertig? fragte der Klausner, als sie einen Augenblick Atem schöpfte.

Aber sie nahm ihren Gesang wieder auf:
Jüngeren Alters bin ich, mit jener nicht zu vergleichen.
Dennoch hab' ich manches geseh'n, das heutigen Menschen
Traum und Fabel erscheint: der Völkerhirt Agamemnon
Nahte opfernd mir einst und flehend, als er die tausend
Schiffe gen Troja führt' und am Euripos bittern Verzug fand.
Selber kam ich heraus und tränkte die durstigen Scharen. –

Du mußt nämlich wissen, fügte sie hinzu, daß ich in meiner Jugend sehr gefeiert war, auch der große Dichter Euripides hat mich besungen.

Den kenne ich nicht, sagte der Vater Athanasius. Und nun laß es endlich gut sein mit den alten Geschichten. Setze dich wieder zu mir, daß ich dich weiter unterrichte.

Und er fuhr in seiner Lehre fort, wo er stehengeblieben war, indes sie gläubig zu seinem großen erhobenen Zeigefinger emporsah.

Dabei wurden sie immer bessere Freunde und konnten einander nicht mehr entbehren. Alle Tage saß er bei ihr mit dem aufgehobenen Finger, und das zarte Gebilde staunte zu der gewaltig großen Hand und dem langen weißen Bart empor. Aber sie wollte nur stets aufs neue von dem Kindlein in der Krippe und von den singenden Engeln hören, das Leiden des Gottessohnes vermochte sie nicht zu fassen. Allein er sagte es ihr wieder und wieder vor, sie mußte lernen zuzuhören, so schwer es ihr fiel, und das Gehörte wieder aufsagen, und er ruhte nicht, bis sie es am Ende doch begriffen hatte.

Da begann Arethusa so sehr zu weinen, daß sie drohte in Wasser zu zerfließen wie ihre noch berühmtere Namensschwester und ihre Quelle austrat und die Gegend überschwemmte. Und Arethusa weinte Tag und Nacht.

Auf ein so großes Leid war der Einsiedel nicht gefaßt, er suchte sie zu trösten und sagte, indem er ihre nasse Wange streichelte:

Fasse dich doch nur, mein Töchterchen, es ist ja schon so lange her, wohl vierhundert Jahre und drüber. Er sitzt jetzt längst wieder an der Seite des Vaters im ewigen Glanze.

Da trocknete Arethusa ihre Tränen und freute sich wieder.

So trieben sie's viele Jahre und waren auf ihre Art zufrieden und glücklich. Die Nymphe wurde gesetzter, sie lachte ihm nicht mehr zur Antwort gerade ins Gesicht, wenn sie ihn nicht verstanden hatte, und spritzte ihm auch nicht mehr die Kutte mit Wasser voll. Er pflegte seine Person besser, badete auf ihren Rat im Meere und wusch sich im klaren Süßwasser, erlaubte ihr auch das allzu üppige Wachstum seines Barts und Haares zu beschneiden. Sie lernte es beim Eintritt in seine Klause zierlich mit dem Finger in sein Weihwasser zu tippen und damit Stirne und Brust zu bekreuzen, wenn sie auch nicht weiter in die Heiltümer der christlichen Kirche eindrang. Er dagegen ließ sich ihren Gesang vor seiner Klause gefallen und fand sogar mit der Zeit Geschmack daran, nur wenn der Inhalt allzu leichtfertig wurde, klopfte er ihr mit dem Finger sänftlich auf den Mund.

Wie nun die Zeit kam, daß Vater Athanasius nach dem Laufe des Irdischen scheiden sollte, begann er sich um das fernere Schicksal seines schönen Schützlings zu sorgen. Er wußte, daß sie sehr unglücklich sein würde, wenn sie allein zurückblieb, und noch mehr bekümmerte ihn, was nach ihrem eigenen Hinscheiden aus ihr werden sollte. Denn auch die Nymphen sind sterblich, nur daß sie nicht altern und daß ihnen eine viel längere Lebensdauer geordnet ist als den Kindern der Menschen, und beim Tode lösen sie sich leidlos in die Elemente auf. Jetzt aber hatte sie durch die heilige Taufe und durch die Bekehrung, die er ihr angedeihen ließ, eine unsterbliche Seele gewonnen, und war doch nicht einer der wahren, dem Himmel anverlobten Christenseelen gleich zu achten. Sie gehörte weder hierhin noch dorthin, konnte weder ins Himmelreich eingehen noch in ihr Element zerfließen. Ihre hohen Verwandten aber saßen auf dem Grunde der liparischen Insel, und es war kein Weg, der dahin führte. Und schon begann durch die zunehmende Entholzung des Gebirgs die Arethusaquelle schwächer zu rinnen. Die Stunde, wo sie ganz versiegte, mußte Arethusas Todesstunde sein. Er sah nun ein, was er getan hatte, und betete Tag und Nacht für das Heil seines geliebten Töchterleins.

Als seine Stunde herankam, saß diese bei ihm und flehte ihn an, sie geradesweges mitzunehmen in seinen Himmelsgarten, wo der gute Himmelmensch sei zusamt all den schönen Frauen und musizierenden Engelknäblein, mit denen sie spielen und singen wolle. Er seufzte, segnete sie und verschied.

Nachdem Arethusa ihn mit ihren Händen in die Grube gelegt hatte, die er sich selbst schon vor Jahren gegraben, setzte sie sich vor seine Tür und ließ ihre Tränen fließen, bis ihr Gewässer beim Niederströmen in die Salzflut wie ehedem als Springquell im Meere wieder in die Höhe stieg. In der Nacht aber trat ihr verklärter Freund zu ihr in die Grotte. Arethusa richtete sich so jäh auf dem Ellbogen empor, daß ihre ganze Urne umgestülpt wurde und vollends auslief.

Will mich der liebe Himmelmensch bei sich haben?

Der süße Gottessohn ist dir gewogen, liebe Tochter, er hat nicht vergessen, wie du so bitterlich um ihn geweint hast, war die Antwort. Aber die vielen heiligen Frauen und die hohen Martyrfürstinnen fanden, daß dein Eintritt ins Paradies doch zu wohlfeil erkauft wäre. Und da du nun auch nicht weiter auf der Erde verweilen kannst, hat er mir gewährt, daß ich dich unter sicherem Geleit nach einer schönen Wiese führen darf, wo du viele Weise und Dichter von Hellas in ernsten und frohen Gesprächen beisammen finden wirst.

Ach, lieber Vater, klagte sie, was soll ich bei all den gelehrten Männern auf der Denkerwiese? Ich möchte sein wo du bist – an dem musikalischen Ort.

Tröste dich, liebes Kind. Es sind auch edle Frauen auf jener Wiese mit Gesang und Saitenspiel, voran die Dichterin Sappho, die man die Göttliche nennt, auch die athenische Aspasia und eine gewisse Arkadierin Diotima, die man nicht näher kennt, die aber für eine Frau von zuverlässigen Grundsätzen gilt. Diese alle werden dich freundlich empfangen, und du wirst dich dort als bei den Deinen glücklich fühlen.

So müssen wir uns für immer trennen, lieber Vater? fragte sie trostlos.

Nicht für immer, sagte er geheimnisvoll. Der süße Gottessohn hat mir ein Wort der Hoffnung zugeflüstert, ich darf es nicht wiederholen, aber ich weiß jetzt, daß auch für jene edlen Seelen, die kein Vorwurf trifft, als daß ihre Geburt vor die Erscheinung des Heiles fiel, der Tag kommen wird, der sie mit dem Höchsten vereinigt.

So brachte er sie unter dem Schutze Raphaels, des rüstigen Wanderers, nach der großen Dichter- und Denkerwiese, die weder dem Himmel noch der Hölle angehört und auch nicht dem Erdenland, sondern dem gleicht, was die Alten unter dem Elysion verstanden. Dort wurde die muntere Nymphe von den ernsten Frauen und Männern gütig aufgenommen, sie erheiterte ihre tiefsinnigen Gespräche durch Gesang und Tanz und Kopfsprung ins elysische Gewässer und mußte ihnen erzählen, wie es jetzt in Hellas aussah.

Daselbst fand sie auch den hohen Empedokles aus Agrigent, der ihr bestätigte, daß das Fahren durch vulkanische Schlünde eine heiße und mißliche Sache sei, die er selbst erprobt, aber niemand mit gutem Gewissen empfehlen könne.

Oft mußte sie der erlauchten Versammlung ihr heiteres Jugendlied von den Spielen am Ufer des Alpheios vorsingen. Zuweilen aber stimmte sie ganz plötzlich das Kyrie eleison an, wie sie es von dem Vater Athanasius vernommen. Dann sangen alle voll Andacht mit, denn die Nymphe hatte ihnen auf ihre Art von dem guten Himmelmenschen erzählt, und die Weisen wußten sich ihre kindischen Worte auszulegen, mancher alten Weissagung gedenkend, und sie hofften alle still dem Tag entgegen, der auch ihnen aus der Ferne gezeigt war.

* * *


 << zurück