Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Einem reichen Herrn aus dem Geschlechte der Salimbeni, der zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts im Sienesischen lebte, war sein edles Weib gestorben und hatte seine Lebensfreude mit sich ins Grab genommen. Gleichwohl sah er sich nach Ablauf der Trauerzeit um eine zweite Gattin um, denn seine Waislein Lehen der Pflege und sein Haus einer tatkräftigen Herrin. Durch den Rat unkluger Freunde ließ er sich bewegen eine schöne und stolze Wittib heimzuführen, die eine abenteuerreiche Vergangenheit hinter Reichtum und hohem Gebaren verbarg. Frau Orsa war Römerin, von dem prachtvollen und wilden Schlag, der bei großer Körperschönheit noch Züge von der Wesensart der räuberischen Stammväter bewahrt. Sie war in frühester Jugend mit einem provenzalischen Kriegsknecht Namens Théraudac aus dem Heerbann des Valois nach Neapel entlaufen, hatte auf langen Kriegszügen und im Zeltlager an sich gerafft, was als Beuteteil oder durch die Gunst großer Herren zu erschnappen war, und sich zuletzt nach dem Tode ihres streitbaren Begleiters mit ihren Reichtümern in Siena niedergelassen, wo sie sich seinen Namen nebst einem Grafentitel zulegte. Daß die Grafschaft Théraudac, aus der sie ihre Gelder zu beziehen vorgab, im Monde lag, blieb den wackeren Sienesen verborgen. Sie nahm auch gleich im Hause des Ritters die Zügel in feste Hand. Allein der Gatte sollte des erhofften Segens nicht froh werden. Eine Unruhe lag der Orsa im Blute, die sie trieb alle vorgefundenen Einrichtungen auf den Kopf zu stellen. Zuerst mußte der schöne, von Künstlerhand entworfene ländliche Sitz, wo die Familie den größten Teil des Jahres verbrachte, in prunkender aber unbequemer Weise umgebaut werden. Dann ließ sie die herrlichsten Baumgruppen, in deren Schatten ihre Vorgängerin gerne gesessen hatte, niederhauen, wie sie überhaupt die Erinnerung an die erste Gattin in Haus und Herzen des Gatten völlig auszutilgen suchte. Dieser sah bald ein, daß er solcher Herrschsucht nicht gewachsen war, und nur um nicht kämpfen zu müssen zog er sich fast ganz auf seine Liebhaberei, die Gartenkunst, zurück. Er legte Beete an, die er selbst bewässerte, zog Edelobst an Spalieren und ließ die Leitung von Haus und Familie der Orsa.
In den Kindern die er mit dieser erzeugte überwuchs die mütterliche Art den edleren väterlichen Stamm, und sie begannen bald die verfeinerten Sprossen der ersten Ehe zurückzudrängen. Der schwache Vater wagte nicht, seine Erstgeborenen, die ihm doch die teuersten waren, gegen das rauhe Geschlecht der Orsa in Schutz zu nehmen. Allein diese fühlte den heimlichen Vorzug, den die Stiefkinder in seinem Herzen genossen, durch und faßte gegen die Zwei einen nagenden Unmut. Vom Übelwollen der Orsa aber war nur ein Schritt zur Verfolgung. Aeneas, der Älteste, ein bildschöner feuriger Knabe, in dem sie das Ebenbild seiner Mutter haßte und ihn, wo sie nur konnte, durch erfundene Bezichtigungen herabzusetzen suchte, hielt dieses entwürdigende Leben nicht aus. Er entwich heimlich ins Neapolitanische, um dem berühmten Feldhauptmann Muzio Attendolo, genannt Sforza, der der Stammvater des gleichnamigen Fürstengeschlechts werden sollte, seine Dienste anzubieten. Er fand ihn im Golf von Gaeta, wo der Sforza in einem auf das Meer hinausgebauten Kastell sein Hauptquartier errichtet hatte. Der Feldherr betrachtete den Knaben, der durch die Wache vor ihn gebracht wurde, kurz und scharf, dann sagte er, um ihn zu prüfen: Spring aus dem Fenster hier – denn Aeneas war zart und schlank von Wuchs und glich im Äußeren mehr einem Mägdlein als einem angehenden Kriegsmann. Aber noch hatte der Sforza nicht ausgesprochen, so lag der Knabe schon unten in der Flut und kämpfte um sein Leben, bis einer von der Wachmannschaft auf den Wink des Gebieters ihm nachsprang und ihn herauszog. Der Feldherr lobte seinen Mut und Gehorsam, reichte ihm eigenhändig einen Schluck Wein zur Kräftigung und sagte:
Du bist noch zu schwach zum Waffenführen, aber du sollst mich persönlich in die Schlacht begleiten, um mir Wein und Wasser nachzutragen, denn ich bin von hitzigem und durstigem Geblüt und bedarf im Getümmel öfter der Labung.
So zog nun der Knabe Aeneas mit dem großen Feldhauptmann im Königreich Neapel umher und diente ihm während der Kriegswirren treulich im Feldlager und auf dem Schlachtfeld. Allein den Lohn, den jener ihm inskünftige zugedacht hatte, strich das Schicksal. Zur Winterszeit wurde der Sforza der belagerten Stadt Aquila in den Abruzzen zu Hilfe gesandt und wollte seine Truppen über den Sangrofluß führen, um den Feind bei Pescara anzugreifen. Da träumte ihm in der Nacht, er befinde sich mitten in einem See in Lebensgefahr und rufe den heiligen Christophorus, den Schutzpatron gegen Wassersnot den er von weitem erblickte um Hilfe an, der Heilige aber wende ihm den Rücken. Die böse Vorbedeutung schreckte seine ganze Umgebung, er gab jedoch ihren Bitten, an diesem Tage im Lager zu bleiben, kein Gehör. Als er am Morgen den Sangro bei seiner Mündung erreichte, die eine weite seeartige Ausbuchtung bildete, erhob sich ein starker Wind und trieb die Wellen des Meeres mit Gewalt stromaufwärts, daß der Fluß mächtig anschwoll. Die Truppen standen betreten, um sie anzufeuern, ritt der Sforza voran, aber niemand folgte ihm als der Knabe Aeneas, der seinen Helm trug. In der Mitte des Stromes verlor dieser den Grund, der Sforza der stark wie ein Löwe war wollte ihn an den Haaren emporreißen, da glitt sein Pferd gleichfalls auf dem schlammigen Boden aus, und er versank. Noch zweimal tauchten seine Eisenhandschuhe über dem Wasser auf, aber die schwere Rüstung hinderte ihn am Schwimmen, so verschwanden beide, der Held und sein tapferer Page, in dem Gestrudel und wurden niemals wiedergesehen.
Als die Kunde von dem Ausgang des kühnen Aeneas seine Angehörigen erreichte, da wurde der Vater binnen weniger Wochen zum alten Mann. Der stumme Gram um seinen Liebling, den er nicht verheimlichen konnte, erbitterte die Orsa tief, und nun warf sich ihre Eifersucht auf die heranblühende schöne Stieftochter Blanda, der jetzt die Anwartschaft auf die großen, von mütterlicher Seite stammenden Güter zufiel. Sie war schon seit dem Tage ihrer Geburt einem Sohn aus befreundeter Familie zugedacht, und die Väter waren einig, daß die Hochzeit stattfinden sollte, sobald die Kinder das nötige Alter erreicht hätten. Grund genug für die Orsa, ein Band zu sprengen, das nicht durch sie selbst geknüpft war. Sie ruhte nicht, bis sie zwischen den beiden Familien Feindschaft gesät hatte, worüber die Verlobung in die Brüche ging. Danach beredete sie den schwachen Mann, seine Tochter erster Ehe dem Kloster zu bestimmen. Nach diesem Siege aber traf sie das himmlische Strafgericht, denn ganz schnell nacheinander verlor sie zwei blühende Knaben, auf denen ihre stolzeste Hoffnung gestanden, und eine bildschöne, ihr von außen und innen ähnliche Tochter an ein und derselben seuchenartigen Krankheit. Es blieb ihr aus ihrer Ehe mit dem Salimbeni nur der Erstgeborene, Silvio, an dem sie bis jetzt wenig Freude gehabt hatte. Denn dieser Knabe war von stiller sanfter Gemütsart, und wegen eines kleinen Sprachfehlers, um den er vielen Spott der jüngeren Geschwister hatte dulden müssen, ein wenig verschüchtert. Er redete nur das notwendigste und saß den halben Tag über Büchern, ging auch gerne dem Vater beim Gartenbau zur Hand, indem er ihm Obstbäume beschneiden und veredeln und Blumen aus fremden Samen ziehen half, vor allem waren beide als liebevolle Züchter köstlicher Rosenarten bekannt. Seit Blandas Wegzug war der Jüngling in eine stille Schwermut verfallen, denn die nur wenig ältere Stiefschwester, die ihn, solange er klein und schwächlich war, beschützt und gepflegt hatte, war ihm das Teuerste was er besaß. In diese Trauer seiner Seele fuhr jetzt mit einem Male wie ein Sturmwind seine Mutter herein, um ihm gewaltsam Lebenslust einzublasen. Da sie keinen lassen konnte, wie ihn Gott erschaffen hatte, vielmehr einen jeden der in ihre Nähe kam nach eigener herrischer Laune umzumodeln suchte, so sollte jetzt mit einem Male der stille Silvio ein Musterbild ritterlicher Künste werden, wie es die verstorbenen jüngeren Brüder gewesen. Aber Silvio ging dem Klang der Waffen weit aus dem Wege, und das Weidwerk, dem jene mit Leidenschaft obgelegen, verabscheute er als blutiges Mordgeschäft. Da faßte sie einen Haß gegen den Einen, Entarteten, der ihr noch geblieben war, und bäumte sich innerlich dagegen auf, in dem Schwächling und Bücherwurm den künftigen Herrn der großen Salimbenischen Güter zu sehen. Und ihr erfinderischer Geist setzte ihr ein neues Ziel der Ränke, ohne die sie nicht leben konnte.
Sie besaß aus der Gemeinschaft mit ihrem provenzalischen Freibeuter einen Sohn, der unter dem Namen Johann von Théraudac das väterliche Handwerk fortsetzte und mit angeworbenen Söldnerhaufen bald bei dieser, bald bei jener Partei Kriegsdienste tat. Zwar hatte sie ihn seit seinen Kinderjahren nicht gesehen, aber sie war stolz auf ihn, denn er galt etwas in seinem Beruf und war besonders wegen der Plötzlichkeit und Unwiderstehlichkeit seiner Überfälle gefürchtet, woher er den Zunamen »Kapitän Wetterschlag« führte. Da nun gerade in den kriegerischen Wirren eine kleine Pause eingetreten und der Théraudac somit ohne Soldgeber war, rief sie diesen Sprößling zu sich und zwang ihren schwachen Gatten ihn aufzunehmen, damit im Hause wieder junges Leben einziehe. Zuvor aber holte sie gewalttätig die junge Novize aus dem Kloster zurück unter dem Vorgeben, daß sie ihr Inneres noch im Weltleben prüfen müsse, bevor sie den schweren Schritt fürs ganze Leben tue. Ihre Absicht war aber, die schöne Stieftochter mit dem Théraudac zu vermählen, um ihm so auf die bequemste Weise das große Vermögen zu sichern. Und damit sie auch seinen Augen wohlgefalle, nötigte sie der Widerstrebenden Schmuck und kostbare weltliche Gewänder auf, aus denen ihre ernste Schönheit fremdartig und ergreifend leuchtete.
Als der Kapitän Wetterschlag in phantastischem kriegerischem Aufputz, von Knechten umgeben und von Hunden umbellt, das Haus betrat, erschrak seine Mutter zuerst wie vor einem Gespenst ihrer eigenen Vergangenheit, denn es sah aus, als ob der provenzalische Kriegsknecht der ihm das Leben gegeben leibhaft zurückgekehrt wäre. Sein Sprechen war rauh und bäurisch, und sein Lachen ein Gebrüll, von dem das Haus bebte. Und Sitten brachte er mit, die einst auch die ihren gewesen, deren sie sich aber nun im langen Umgang mit Edelgeborenen entwöhnt hatte. Allmählich jedoch wachte der Zauber jener wilden Erinnerungen wieder auf, ihr Auge begann sich an seiner kriegerischen Erscheinung zu weiden, sein Lärmen, Trinken, Fluchen, worin er mit seinen Knechten wetteiferte, weckte ihr feurige Bilder ihrer eigenen Jugend, und sie hörte mit wallenden Pulsen zu, wenn er von nächtlichen Überfällen, Beutezügen, Brand und Gemetzel erzählte. Das gehörte zum Leben des Kriegsmanns, niemand durste ihn darum schelten, aber seine Stiefgeschwister saßen stumm, mit niedergeschlagenen Augen bei seinen Reden, und der alte Ritter wich ihm, wo er konnte, mit schweigender Höflichkeit aus.
Bei aller Rauheit war der Théraudac nicht auf den Kopf gefallen, und er verstand fast ohne Worte, welcher Beuteteil ihm zugedacht war. Die schöne Blanda gefiel seinen Augen wohl, nicht minder gefielen ihm ihre großen, im Lande verstreuten Besitzungen. Also bestrebte er sich auf die Weise, die ihm die natürliche schien, Blandas Herz zu gewinnen. Er strich beständig um sie her und verfolgte sie mit begehrlichen Blicken und Reden, vor denen sie schauderte. Noch hatte die Stiefmutter ihr nichts von ihren Absichten mitgeteilt, weil der alte Herr mit seinem Jawort zögerte, aber ihr feines Ahnungsvermögen witterte die Gefahr. Darum lag sie dem Vater inständig an, sie ihrem klösterlichen Beruf zurückzugeben. So von zwei Seiten bestürmt, wußte der alte Herr nicht, wohin sich wenden, und entwich vor der Entscheidung in seinen Obstgarten. Silvio ging ihm bei der Arbeit zur Hand, und als sie eben liebevoll geschäftig einem wilden Pfirsichbäumchen ein Edelreis aufpfropften, öffnete der Schweigsame plötzlich den Mund und fragte:
Vater, geschieht es auch umgekehrt, daß man Wildreiser auf Edelstämme pfropft?
Verwundert über solche Einfalt sagte der alte Herr:
Das könnte nur einem ausgesuchten Narren einfallen.
Darauf erwiderte der Sohn mit Beben:
Wenn man solches nicht einmal den Bäumen antut, weshalb dann einen rohen Wilden in ein edles Geschlecht einpflanzen?
Jetzt verstand der Vater den Sinn der mühsam vorgebrachten Rede und schwieg erschüttert und beschämt.
Aber noch am selben Tag teilte er seiner Gattin den unwandelbaren Entschluß mit, die Novize nach ihrem Wunsche unverweilt ins Kloster zurückzusenden.
Nun war für Orsa keine Zeit mehr zu verlieren, denn wenn der alte Herr sich wirklich zu einem Entschluß aufraffte, so blieb er bei seinem Kopf. Sie heuchelte Zustimmung und heckte mit Théraudac ein teuflisches Bubenstück aus. Sie wußte das Gesinde geschickt aus dem Stockwerk wo Blanda schlief zu entfernen, und schwärzte auf die Nacht den Théraudac in ihrer Kammer ein, wo er sich unter das Bett verkriechen sollte. Dann führte sie unter falschen Liebkosungen die Stieftochter selber bis an das Schlafgemach und schloß die Tür hinter ihr ab. So glaubte sie ihm die Jungfrau rettungslos in die Hände gegeben zu haben. Am Morgen wollte sie in der Kammer erscheinen, die beiden beisammen finden und der Sache den Anschein geben, als ob ihre Stieftochter selber den jungen Mann hereingelassen hätte. Dann, sagte sie sich, würde diese am Ende froh sein, durch eine sofortige Heirat ihre Ehre wiederherstellen zu können.
Gleich beim Eintritt legte sich eine Beklemmung auf das Mädchen, die unheilige Gegenwart teilte sich ihr unbewußt durch einen Schauder mit. Es war Sommer und das Fenster gegen die Stechmücken fest geschlossen.
Sie löschte das Licht und öffnete beide Fensterflügel weit, denn sie schrieb der eingesperrten Luft ihre Bangigkeit zu. Aber vergeblich, die Angst wuchs mit jedem Augenblick, das Gefühl, daß ein Unglück nahe sei und ihr mit jedem Pulsschlag näher komme, legte sich wie mit Krallen um ihr Herz. Nahe dem Bett stand ihr Betpult, ein Strauß herrlicher Rosen den Silvio ihr hereingestellt duftete darauf. Sie kniete auf dem Schemel nieder, ein zitterndes Gebet um Schutz vor allen finstern Mächten rang sich zu der heiligen Jungfrau empor. Da drang durch den Rosenduft der das Zimmer erfüllte ganz leise ein scharfer beizender Geruch an ihre empfindlichen Sinne. Sie erkannte den Stallgeruch, der von Théraudacs Person unzertrennlich war und ihr körperliche Übelkeit zu erregen pflegte. Ihr stummes Gebet stockte, und ihr ganzes Wesen verwandelte sich in angestrengtes Lauschen. Jetzt vernahm sie unter dem Bett hervor die verhaltenen Atemzüge des in gepreßter Enge Liegenden. Und wie durch einen Blitzstrahl sah sie taghell ihre furchtbare Lage. Nur für die Länge eines Herzschlags ging ihr alles Denken in einem Wirbel des Entsetzens unter, dann hatte ihr schon die Heilige in deren Obhut sie stand Besinnung und Schnelligkeit des Entschlusses eingeflößt. Sie erhob sich von den Knien, ging ein paarmal in der Kammer hin und her, wie um Schmuck und Gewänder abzulegen, wobei sie eine ihr gewohnte schwermütige Weise vor sich hinsummte, damit das laute Pochen ihres Herzens sie nicht verrate. Darüber war sie wie absichtslos dem offenen Fenster nahe gekommen, leicht und leise schwang sie sich auf das Gesimse, befahl ihre Seele Gott und sprang hinab. Ihr Zimmer lag zwei Stockwerke hoch über dem Garten, sie glaubte unten zu zerschellen, aber ein Engel Gottes spreitete seine Flügel unter ihr, daß sie heil und sicher auf beiden Füßen den Boden erreichte. Sie hielt sich nicht mit Staunen über das Wunder auf, sondern lief ohne umzusehen über den Rasenplatz nach dem anderen Flügel des Schlosses, wo Silvio in einem Gartenzimmer zu ebener Erde noch über den Büchern saß. Sein Licht glänzte ihr schon von weitem entgegen. Atemlos erreichte sie seine Tür und fiel ihm mit den Worten: Fliehen! Fliehen! halbohnmächtig in die Arme. Aus ihrem verworrenen Gestammel erriet er mehr, als er es erfuhr, das Vorgefallene, worin er gleich die Hand seiner Mutter erkannte, und er sah klar, daß es für Blanda im Hause keine Sicherheit mehr gab.
Fliehen! Fliehen! sagte auch er, ohne sich zur Überlegung Zeit zu gönnen. Er rief einen jungen Gärtner mit Namen Pancraz der sein Milchbruder war, einen treuen und gewandten Burschen, auf dessen Ergebenheit er sich verlassen konnte.
Willst du mit uns kommen, Pancraz? fragte er.
Wohin Ihr geht, Herr, dahin gehe ich, war die Antwort.
So sattle alsbald ganz geheim und leise zwei sichere Pferde, führe sie ungesehen auf die Landstraße hinaus und erwarte uns dort.
Herr, nehmet an, es sei schon geschehen, und machet Euch mit dem Fräulein fertig.
Der Zufall oder eine höhere Hand kam ihm zu Hilfe.
Im Stalle, der sich abseits vom Schloß in einem Gehöfte befand, lagen die Roßknechte schwer bezecht im Schlaf und schnarchten um die Wette. Keines der Pferde wieherte bei seinem Eintreten. Pancraz zog zwei der schnellsten Tiere hervor und legte ihnen die Sättel auf. Bevor er sie hinausführte, riß er aber noch jedem der zurückbleibenden Pferde je ein Hufeisen ab und warf es in die Düngergrube um die Verfolgung aufzuhalten. Silvio hatte unterdessen, was er an Geld und Kostbarkeiten besaß, zusammengerafft, in Eile eine Waffe umgeschnallt, und führte dann seine Schwester, die an allen Gliedern zitterte und bei jedem Schritt ihrem Verfolger in die Hände zu laufen fürchtete, durch einen dunklen Torweg ins Freie, wo schon der treue Pancraz mit den Pferden wartete. Er bestieg das eine Roß, nahm die Schwester vor sich auf den Sattel, der Diener stieg auf das andere, und mit sausender Schnelle ging es in das dunkle Land hinaus.
Im gleichen Augenblick, wo die Geschwister zu Pferd stiegen, kroch Théraudac aus seinem Versteck hervor. Er war durch Blandas Kriegslist vollkommen getäuscht worden. Zwar hatte er wohl das Sausen ihrer Kleider durch die Lust und einen weichen Fall im Grase vernommen, aber er war weit entfernt, einem zarten Mädchen solchen verzweifelten Sprung zuzutrauen. Da es im Zimmer mäuschenstille war, nahm er an, sie schlafe bereits, und begriff nur nicht, wie sie so geräuschlos habe ihr Lager aufsuchen können. Weil ihm aber vom Trunk und von der Erregung das Blut in den Ohren sauste, glaubte er ihre Bewegungen überhört zu haben. Er stand nun mitten im Zimmer, in das nur durch das seitlich liegende Fenster ein schwacher Sternenschein fiel, tastete das Bett ab und fand es leer. Dann tappte er mit ausgestreckten Händen durch den dunklen Raum, stolperte über den Betstuhl und erkannte, daß er allein im Zimmer war. Jetzt ging ihm die Bedeutung jenes Falles auf, und mitten in seinem halben Rausch kroch es ihm eiskalt ans Herz. Théraudac war ein verwilderter, aber kein bösartiger Mensch, und ohne den seelischen Zwang den seine Mutter auf ihn ausübte hätte er sich trotz seiner rohen Vergangenheit keines so bübischen Streiches unterfangen. Blanda in ihrer jungfräulichen Hoheit stand wie ein Heiligenbild vor ihm, das er aus eigenem Antrieb nicht zu besudeln gewagt hätte, wie sehr auch ihre Schönheit und unbesiegbare Zurückhaltung seine wilden Sinne reizte. Jetzt mußte er sich mit Entsetzen als ihren Mörder fühlen. Seine Lippen stammelten ein irres Gebet, bevor er die Kraft fand an das weitoffene Fenster zu treten. Da hatte er einen Anblick der ihn regungslos festbannte. Seine vom Weinrausch umnebelten Augen glaubten auf dem dunklen Boden eine liegende weibliche Gestalt zu erkennen, und je länger er hinunter sah, um so mehr nahm diese Gestalt die schlanken edlen Umrisse Blandas an. Da sie sich nicht regte und keinen Laut von sich gab, zweifelte er nicht daran, daß sie sich zu Tode gefallen habe. In keiner seiner vielen Schlachten hatte er jemals gespürt, was Todesangst sei, vor keinem Erschlagenen der zu seinen Füßen starb hatte er je so etwas wie Reue empfunden, jetzt schlugen beide ihm ihre Krallen ins Herz. Er erwog es gleichfalls hinabzuspringen, ob noch Hilfe möglich sei, aber beim Gedanken, daß er im Aufsprung auf den entseelten Leib treten mußte, lähmte ihn der Schauder. So stand er ohne Laut und ohne Bewegung die langen Stunden der Nacht, den Blick auf sein vermeintliches Opfer geheftet, und eine Starre, die ihm die Glieder wie mit kaltem Eisen ausgoß, hinderte ihn sich nur einen Schritt vom Fenster zu entfernen. Erst als der Sternenschein verblaßte und ein fahler Morgen heraufgraute, entdeckte er, daß gar kein Körper da unten lag, daß ihn nur ein wuchernder Rasenfleck auf dem kiesigen Boden genarrt hatte und daß das Vögelein entflogen war. Aber statt daß er sich gefreut hätte nun doch kein Jungfrauenmörder zu sein, schämte er sich seiner ausgestandenen Angst und geriet in die helle Wut beim Gedanken an die Vorwürfe und den Hohn seiner Mutter. Um nicht von ihr in dieser lächerlichen Lage gefunden zu werden, entschloß er sich gleichfalls den Rückzug durchs Fenster anzutreten. Er stieg vorsichtig über das Gesimse und wollte sich als geschickter Kletterer über Mauerleiste und Fensterbekrönung bis zum ersten Stockwerk hinunterlassen um von dort aus abzuspringen. Aber er hatte sich in den Entfernungen verrechnet, mußte zu früh den Absprung wagen und kam übel zugerichtet auf dem Boden an, denn kein himmlischer Helfer fing den Stoß für ihn ab. Halb kriechend schleppte er sich noch ein paar Schritte von Blandas Fenster weg, um seine schändliche Absicht zu maskieren, dann blieb er, von Schmerzen und Blutverlust erschöpft, ohnmächtig liegen.
Ohne Ziel waren die Geschwister mit dem treuen Pancraz in wilder Flucht davongesprengt. So oft sie in der Nacht Hufschlag vernahmen, meinten sie, die Verfolger seien schon auf ihrer Spur und trieben die Tiere zu vermehrtem Lauf. Sie hatten nur den einen Drang, so schnell wie möglich die Küste zu erreichen und sich über das Meer zu retten, denn nirgends auf dem festen Land glaubten sie sich vor Orsas Ränken und den Gewalttaten des Théraudac sicher. Als der Morgen dämmerte, waren sie schon bis in die Maremmengegend gelangt und gönnten sich und den Rossen in einem kleinen Wirtshaus die erste Rast. Und nun begannen sie das Ziel ihrer Flucht zu überlegen. Blanda verlangte einzig nach dem Klosterfrieden, den sie nur weit entfernt vom Machtbereich der Stiefmutter finden konnte. Auch Silvio gelüstete es nicht nach Glück und Ehren in einer Welt, wo er Lüge und Gewalt herrschen sah, und er wünschte gleichfalls Gott zu dienen. Aber er grämte sich, daß er darum von seiner Schwester scheiden sollte. Um ihretwillen hatte er nie ein Weib angeblickt, weil ihm schien, daß ihr an Güte und Schönheit doch keine gleichkomme. Und als er sie vor sich auf dem Sattel hielt, war ihm zumute, als ob er mit den Armen einen himmlischen Gnadenschatz umfinge.
Wenn wir doch Eines Geschlechtes wären, sagte er, daß wir im gleichen Kloster unserer Berufung folgen könnten und uns nicht zu trennen brauchten. Ich will, wenn ich dich an heiliger Stätte untergebracht habe, eine Hütte in der Nähe deines Klosters bauen, und wenn ich dann nur täglich die Pförtnerin nach deinem Ergehen fragen kann, so will ich von diesem Erdenleben nichts weiter verlangen, bis wir droben für immer vereinigt sind.
Vielleicht kann ich Euch einen Rat geben, Herr, sagte der treue Pancraz. Als ich vor einigen Jahren mit meinem Vater im Auftrag des Eurigen in das Genuesische reiste, um dort ein Geschäft für ihn zu besorgen, nächtigten wir unterwegs in einem kleinen Fischerdorf mit Namen Lerici bei einem Verwandten, der das Fischerhandwerk betreibt. Dieser nahm mich, um meinen Fürwitz zu befriedigen, in seinem Segelboot auf einen Fischzug mit und zeigte mir im Vorüberfahren die kleinen herrlichen Inseln, die dort in einem Wasser das blauer ist als der Edelstein nahe beisammen liegen. Eine davon ragt hoch und steilrecht aus der Flut, sie heißt der Tino. An ihrer windgeschützten Seite hinter schönen Ölbäumen liegt ein Minoritenkloster. Die frommen Brüder die dort wohnen sind völlig abgeschieden von der Welt, allein mit Gott in den blauen Gewässern. Nur einmal im Monat und nur, wenn das Wetter gut ist, rudert ein Kahn zu ihnen hinüber, um Nahrungsmittel und Kunde vom Festland auf den Tino zu bringen. Dieser Insel gegenüber, nur durch einen schmalen Wasserarm getrennt und vom Lande her nicht sichtbar, liegt eine kleinere, winzige, die eigentlich nichts ist als eine über das Meer erhöhte grüne Wiese. Sie sieht aus, als wäre sie die Tochter der größeren, und heißt daher auch der Tinetto. Dort haben sich heilige Frauen niedergelassen, die nach der gleichen Ordensregel leben und mit dem Tino frommen Verkehr pflegen. Ich sah selber, wie gerade ein Kahn hinüberruderte, darin saß der Pater Guardian vom Tino der ihr Beichtvater ist. Wenn Ihr das Fräulein zu den frommen Frauen auf den Tinetto bringt und tretet selber auf dem Tino als Ordensbruder ein, so bleibt Ihr einander so nahe, daß Ihr niemand nach ihrem Ergehen zu fragen braucht: Ihr könnt es täglich selber an der Farbe ihrer Wangen erkennen. Ich aber will den Pater Guardian bitten, daß er mich als Laienbruder aufnehme, ich will ihm die Ölbäume beschneiden, das Öl keltern, das Wasser tragen, damit er mich in Eurer Nähe bleiben läßt. Dann wird es sein, als hätten wir drei die Heimat mitgenommen.
Die Herzen der Geschwister richteten sich bei diesen Worten aus Angst und Trübsal auf und flogen nach den schönen Inseln inmitten der blauen Wasser voraus, wo sie hofften im Schutz des Meeres ein neues, friedevolleres Dasein zu beginnen. Sie stiegen wieder zu Pferde und ritten, von Pancraz geführt, über das Gebirge nach Lerici. Dort fand sich's, daß gerade ein Boot mit Nahrungsmitteln nach den Inseln fällig war, die Flüchtigen stiegen mit ein und erlangten durch unsichtbare Mittlerschaft die Aufnahme, die sie erhofft hatten.
Als Théraudac aus seiner Ohnmacht zu sich kam und das Verschwinden der beiden Geschwister erfuhr, da tobte und fluchte er und verschwor sich Blanda zurückzuholen, wenn sie sich auch im Schoß der Muttergottes verberge. Er hetzte seine Leute nach allen Seiten auf die Streife, aber sie kamen unverrichteter Sache zurück. Der Vorsprung der Flüchtlinge war viel zu groß, auch konnte der nächtliche Hufschlag keinen Anhalt über ihre Richtung geben, denn die unruhigen Zeitläufte brachten es mit sich, es das Pferdegetrappel auf der Landstraße auch bei Nacht nicht einschlief. Weder in Blandas Kloster, noch bei ihren mütterlichen Verwandten, zu denen sie sich hätte flüchten können, wußte man das Geringste von ihrem Verbleib. Théraudac war mit seinen schweren inneren Verletzungen kaum vom Wundarzt im Bette zu halten. Die äußeren Wunden, die vom gewaltsamen Anstreifen an ein vorstehendes Fenstereisen herrührten, wollte er im Kampf mit dem Entführer der Schwester empfangen haben, wie es ihm die Orsa einblies, und seine Leute wußten sich vor Staunen nicht zu lassen, daß der schüchterne, vor Waffen schaudernde Silvio den furchtbaren Kapitän Wetterschlag so zugerichtet hatte. Das ganze Haus war voll von Schreck und Zorn und Trauer. Als der alte Ritter die Flucht seiner beiden Kinder erfuhr, deren wahren Grund er nicht ahnen konnte, wurde er so erschüttert, daß ihm ein Schlagfluß die Zunge lähmte. Er lebte noch einige Monate als ein zitternder, stammelnder Greis, bis ihn ein zweiter Schlaganfall erlöste. Während seines Siechtums fiel es Orsas Schlangenzunge nicht schwer, ihm ein sündhaftes Einverständnis der Geschwister vorzuspiegeln, und daß der Bruder die Schwester entführt habe, um sie vor dem Kloster zu bewahren. Der Kranke zweifelte um so weniger an ihrer Glaubwürdigkeit, als sie ja ihr eigenes Fleisch und Blut mitbeschuldigte. Er ließ sich noch ein Testament abringen, worin er seine beiden letzten Kinder verstieß und enterbte und seinen Nachlaß zwischen Gemahlin und Stiefsohn teilte. Das Erbe brachte jedoch den Beiden wenig Glück, denn die Verwandten der ersten Frau fochten das Testament an, Prozesse entstanden, die sich über Jahre hinzogen und einen großen Teil des Vermögens verschlangen. Théraudac wäre am liebsten zu seinem früheren Beruf zurückgekehrt, allein er trug seit jenem Fall einen dauernden Leibschaden an sich, der ihm Reiten und Fechten beschwerlich machte. So ergab er sich vollends ganz dem Trunk und Spiel und wurde bei der sitzenden Lebensweise schwerleibig, wie es seine Mutter als richtige Römerin schon zuvor geworden war. Mit dieser lebte er in beständigem Unfrieden, denn sie konnte auch ihrem Liebling gegenüber nicht von ihren Ränken und Künsten lassen, er aber haßte und verlachte die krummen Wege, gewohnt, wie er war, die geraden der Gewalt zu gehen. So kam es zum Bruch, und die Orsa entschied sich für einen anderen Aufenthalt. Aber die Reise wurde ihr zum Verhängnis. Als sie mit ihrem Gesinde auf der Landstraße hinritt, begegnete ihnen eine Prozession. Beim Anblick der Fahnen und Kreuze scheute Orsas Pferd, sie fiel schwer wie ein Sack aus dem Sattel und blieb auf der Stelle tot.
In der Nacht die auf ihre Beisetzung folgte hatte Théraudac ein schreckliches Gesicht. Er erwachte an einem plötzlichen Feuerschein der seine Kammer erfüllte, vor dem Bett stand seine Mutter in blutrotem Kleid aus dem die Flammen züngelten und jammerte: Hilfe, Hilfe, ich brenne. Im Schrecken griff er nach dem Weihwasser das im Zimmer stand und schüttete es über die Gestalt, da zersprang diese mit einem erderschütternden Knall, das Feuer verbreitete sich über das ganze Haus, und er selbst fiel bewußtlos zu Boden.
Es waren wohl zehn Jahre seitdem vergangen, da pochte eines Maienabends ein todmüder Wanderer an die Pforte des Franziskanerklosters von Massa. Es hätte scharfer Augen bedurft, um in dem zerlumpten, frühgealterten Mann der ein Bein mühsam nachzog den übermütigen Kapitän Wetterschlag wieder zu erkennen. Seit der Schreckensnacht, wo die Höllenflammen vor ihm aufschlugen und das Haus der Frevel vertilgten, – das Gesinde sprach von einem zündenden Blitzschlag, aber er wußte es besser –, war er in sich gegangen und dachte mit Schauder an den Zustand, in dem sich die Seele seiner Mutter befand und dem auch die seinige unrettbar entgegenging. Das erwachte Gewissen zeigte ihm sein ganzes Leben im wahren Licht und folterte ihn mit Angstgedanken. Des Nachts im Traume mußte er alle Missetaten, die er von früher Jugend an begangen hatte, noch einmal begehen aber mit verändertem Gemüte, denn was er vordem für einen guten Spaß gehalten, Gewalt und Mord und Plünderung, das erkannte er jetzt als abscheulich, war aber im Banne des Traumes gezwungen es trotzdem zu tun. Er baute eine Kapelle über dem Grabe seiner Mutter und stiftete ihr eine ewige Seelenmesse, bestimmte auch, daß jeder Wanderer, der an dieser Kapelle bete, einen Zehrpfennig erhalten sollte. Aber immer wieder erschien ihm von Zeit zu Zeit die Orsa im Flammengewand und wimmerte: Ich brenne! Und immer mußte er im Traum seine ruchlose Vergangenheit aufs neue durchleben. Da begriff er, daß er sich mit solchem Bettel von Stiftungen und Almosen nicht aus der Verdammnis loskaufen konnte. In seiner Seelenangst schenkte er sein ganzes mütterliches Erbgut der Kirche, das Salimbenische Vermögen das er durch einen Frevel besaß gab er in die Hände eines treuen Verwalters, der es für die rechtmäßigen Erben verwahren oder falls diese nach Ablauf einer bestimmten Frist nicht gefunden würden, zur Gründung von Spitälern verwenden sollte. Aus seiner eigenen im Krieg erworbenen Habe stiftete er Altäre für alle himmlischen Fürbitter. Dann entließ er das Gesinde bis auf zwei zuverlässige Knechte, mit diesen stieg er zu Pferd, nachdem er den ganzen Rest seines Geldes zu sich gesteckt hatte, um die Geschwister zu suchen und ihre Verzeihung zu erlangen. Aber in einer einsamen Gebirgsgegend des Monte Amiata überfielen ihn Räuber, erschlugen seine Knechte, nahmen dem Théraudac, der sich mit der alten Tapferkeit wehrte, Pferd und Gold und Mantel, ja sie rissen ihm noch die Stiefel, in die er gleichfalls Goldrollen versteckt hatte, von den Füßen und ließen den Schwerverwundeten für tot auf der Straße liegen.
Da erkannte dieser, daß all seine bisherige Buße von Gott verworfen war, weil er mit seinem hoffährtigen Aufzug noch immer auf falschem Wege gewesen. Er gelobte, falls er das Leben behalten sollte, seinen ganzen Menschen von Grund aus umzugestalten, niemals wieder eine Waffe zu brauchen, auch nicht zur Verteidigung, sondern alles Unrecht und alle Gewalt zu leiden, die ihm von Menschen widerfahren könnte, um durch Geduld und Demut die begangenen Missetaten zu sühnen. Zwei Mönche fanden ihn und schleppten ihn mit sich in ihr Kloster, wo man ihn gesund pflegte. Er ließ sein Haupt scheren, erbat sich ein Büßergewand und bettelte sich weiter, tat auch da oder dort Knechtsdienste, hielt es aber nirgends lange aus, denn die Bilder seiner Angst wollten noch immer nicht von ihm weichen, obwohl er längst durch Beichte und Kasteiung die Absolution der Kirche erlangt hatte. Von Unruhe gepeinigt, pilgerte er von einem Gnadenort zum anderen, aber keiner konnte ihm helfen, denn er hatte selber den Glauben an die Hilfe nicht, er glaubte einzig, daß das Geschwisterpaar ihm helfen könne, das er ins Elend getrieben hatte und von dessen Unschuld er ebenso überzeugt war wie von der hundertfältigen Schuld seines eigenen Lebens. – –
Die Mönche im Kloster zu Massa empfingen ihn gastlich und ließen ihn, da es die Stunde der Abendmahlzeit war, bei den Laienbrüdern Platz nehmen. Ein anderer Pilger, der über die See aus Frankreich gekommen, saß mit bei Tische. Dieser, ein gesprächiger Mann, erzählte von einem Wunder, das er auf der Fahrt gesehen hatte. Nahe der Küste in einem tiefblauen Golf, der Golf von Luni genannt, liege eine kleine Insel, ein hoher, steiler Felsblock inmitten des blausten Wassers, der einem dort befindlichen Franziskanerkloster gehöre. Dieses Eiland heiße bei den Schiffern die Insel der Gnaden, denn es sei der allerwundertätigste Gnadenort, wo jedes Gebrechen Gebetsheilung finde und wo auch der ärgste Gewissenswurm zur Ruhe komme. Als ein Wunder- und Wahrzeichen himmlischer Gnade leuchte das Eiland weithin in Rosenglanz über das Meer, denn während alle anderen Inseln und Vorgebirge des Golfes auf ihren nackten Flanken nichts als das dürftige Grün der Strandgräser und wenige verkrüppelte Pinien trügen, sei die Gnadeninsel jahraus, jahrein von den üppigsten Rosenbeeten bedeckt, an windstillen Tagen streife der Rosenduft über das Gewässer, er selber habe ihn im Vorüberfahren eingeatmet als einen Vorschmack des Paradieses und sei davon noch jetzt wie beseligt und neugeboren.
Bei dieser Erzählung stand es alsobald in Théraudacs Seele fest, nach der Gnadeninsel zu wallen, ob auch ihm das Heil dort widerfahre. Da er zu Nacht die Kammer des Pilgers teilte, ließ er sich von diesem die Lage jenes Golfs und die Wege die dorthin führten genau beschreiben. Am Morgen nahm er Abschied von den freundlichen Mönchen und wanderte die Straße über das Gebirge, die jener gekommen war. Als sein Auge vom Kamm des Berges in eine tiefe, selige Bläue tauchte, da wußte er, daß es der Golf von Luni war, der vor ihm lag. Zur Küste hinabgestiegen, fand er den Flecken Lerici und am Strand einen Fischer, der mit Ausbessern seiner Netze beschäftigt war. Diesen fragte er, ob er die Gnadeninsel kenne und wie es ein armer Waller anzustellen habe um hinzugelangen.
Die Insel kennt ein jeder, antwortete der Alte, und was das Hinkommen betrifft, so läßt sich Rat schaffen. Wir haben jetzt drei Tage starken Seesturm gehabt und keine Möglichkeit auf den Fischfang zu fahren. Seit heute früh legt sich allmählich das Meer, morgen haben wir Windstille, dann kommen die Fische massenhaft wieder herauf, das ist der gelegenste Augenblick um einen guten Zug zu tun. Heute nacht fahren wir. Wenn Ihr mitwollt, so will ich Euch in die Nähe der Insel führen.
Mit Freuden nahm Théraudac den Vorschlag an, er ging den Schiffern bei ihren Verrichtungen an die Hand, und im Sternenschein fuhren sie hinaus. Als die Sonne aufging, hatten sie einen zauberhaften Anblick. Im Frühlicht glänzten die Segel der vielen Fischerboote draußen am Horizont ebenso wie ihre eigenen im zartesten Rosenrot, das sich auch streckenweise über das stillgewordene Wasser ergoß. Und vor ihm stieg die Gnadeninsel empor, deren steile Felshänge sich gleichfalls mit einem rosigen Widerschein im Wasser spiegelten. Rosen bedeckten sie bis nahe zum Gipfel, vom zartesten Rosenrot bis zum flammenden Purpur. Auch weiße und gelbe mischten sich darunter, und ein zarter Duft quoll den Heransegelnden entgegen. Der Waller sog ihn ein wie einen Hauch von Eden. Als sie noch eines Steinwurfs Länge von der Insel entfernt waren, sagte der Schiffspatron:
Landen kann ich Euch nicht, denn größere Fahrzeuge können an der Insel nicht anlegen. Ich werde den Vätern ein Zeichen geben das sie kennen, damit sie ein Boot senden, auf dem Ihr hinüberkommen könnt.
Das verhüte Gott, antwortete Théraudac, daß die heiligen Männer sich für mich Unwürdigen bemühen. Bringt Ihr mich nur in die Nähe, so will ich selbst vollends hinübergelangen. Ich bin in meiner sündigen Jugend der beste Schwimmer im Königreich Neapel gewesen, und diese Fertigkeit verlernt sich nie.
Er streifte die Kleider ab, band sie als ein Bündel auf dem Kopfe fest und schwamm hinüber. Nachdem er in einer Bodenfalte verborgen seine Lumpen wieder angezogen und kniend zuerst ein langes Gebet gesprochen hatte, stieg er einen schön geebneten Weg zwischen Rosenhecken zu einer Ölbaumpflanzung hinan, in deren Schatten das Kloster lag. Dort kam ihm ein ernster Mann, das Brevier in der Hand, entgegen.
Was führt dich zu uns, mein Bruder? fragte er, indem er seine durchdringenden Augen fest auf Théraudac heftete.
Meine Schuld, meine große Schuld, antwortete dieser in die Knie sinkend und die Hand des Mönches küssend.
So komm mit mir, mein Bruder, und beichte.
Théraudac folgte dem Guardian – denn dieser war es – nach der Klosterkirche wo der Beichtstuhl stand und erzählte sein ganzes Leben, wie er als Kind des Lagers bei Blut und Beute aufgewachsen und wie ihm Waffengeklirr und Sterbegeröchel ebenso wohl geklungen habe wie Becherklang, Würfelrollen und Dirnengelächter. Wie er dann durch das Kriegsglück zu Reichtum und Ansehen aufgestiegen sei und wie seine Mutter ihn mit ihrer Stieftochter zu vermählen gedachte, die sich schon dem Himmel versprochen hatte, wie er beim Anblick der edlen Blanda sich zum erstenmal über sich selbst zu erheben begann, aber die bessere Regung niederkämpfte, um mit viehischer Gewalt zu erzwingen, was er in Güte nicht erlangen gekonnt. Wie er hernach die flüchtigen Geschwister um ihren guten Namen gebracht, sie aus dem Herzen des Vaters gedrängt und ihres Erbes beraubt hatte, denn auch die Frevel, die zum großen Teil der Orsa zur Last fielen, nahm er demütig auf seine eigenen Schultern. Und wie er seitdem in Reue und Buße vergeblich die Geschwister gesucht, um ihnen die geraubten irdischen Güter zurückzuerstatten und ihre Verzeihung zu erhalten.
Nach Erteilung der Absolution erhob sich der Pater Guardian und sagte:
Folge mir.
Draußen unter freiem Himmel faßte er die Hand des Ankömmlings und sagte:
Johann von Théraudac, erkennst du deinen Bruder nicht?
Von der Erregung des Augenblicks kamen seine Worte stammelnd und abgerissen heraus. Da tat der andere einen Schrei, denn das Stammeln war ihm bekannt, und jetzt sah er durch das ernste Männergesicht die unreifen Jünglingszüge seines Bruders Silvio. Er stürzte zu Boden, barg sein Gesicht aus Scham und Leid und Freude in den Händen und brach in einen Strom von Tränen aus.
Wo ist Blanda? schluchzte er.
Ich will dir ihre Wohnstätte zeigen. Der Guardian nahm ihn sanft bei der Hand und führte ihn über natürliche Felsenstufen, denen die Kunst nur wenig nachgeholfen hatte, und dann auf schmalem schwindeligem Randweg, unter dem in der Tiefe die Wasser anrauschten, nach der westlichen Seite der Insel. Hier war auf überhangendem Felsen ein kleines Kapellchen errichtet, und eine Ruhebank stand davor.
An den Rand vortretend, hatte man dort einen Blick wie in den Garten des Paradieses. Jenseits einer schmalen türkisenblauen Wasserstraße erhob sich nur wenig über das Meer erhöht ein winziges flaches Eiland, das vor Zeiten mit der größeren Insel verbunden und irgendeinmal durch eine Sturmflut oder ein Meerbeben von ihr abgesprengt worden war. Es bildete einen einzigen tiefleuchtenden Rosengarten, den eine blühende Dornenhecke rings umzog und in dem keine lebende Seele zu wohnen schien. In der Mitte ragte ein halbzerstörtes Gotteshaus und daneben noch die Bogengänge eines anderen Gebäudes, alles so dicht von Kletterrosen umwachsen, daß es gar nicht wie eine Trümmerstätte sondern wie eine kunstvoll ausgedachte steinerne Stütze dieser Rosenpracht aussah. So glich das ganze kleine runde Eiland einem hochaufgefüllten Korb voll roter Rosen.
Der Wohnsitz unserer Schwester und ihr Grab, sagte der Guardian. Wenn sie aus ihrer himmlischen Heimat zu der irdischen niederdenkt, so senken ihre Gedanken hier sich ein und blühen als immer neue Rosenfülle auf. Hier hat sie bei den frommen Klarissinnen den Schleier genommen, als dieses Kloster stand, und hieß fortan Schwester Maria. Sie unterrichtete eine Kinderschar, die ihr zur Pflege und Obhut anvertraut war, und stiftete der Kirche wunderschöne Werke der Nadel. Einen Rosenzweig, den Pancraz ihr vom Festland brachte, pflanzte sie am Tage ihrer Einkleidung in den damals noch dürren Boden des Inselchens, er wuchs schnell und wurde ein Bäumchen, und seine Sprossen verbreiteten sich unter dem Boden und bildeten unter Schwester Marias kundigen Händen Spaliere und Beete, daß es die Brüder vom Tino mit Staunen sahen, denn niemals war es ihnen gelungen, diese starren Felsenwände mit Blumen zu schmücken: sobald der Seewind sich erhob, verdorrte unter seinem salzigen Niederschlag aller Pflanzenwuchs. Nur die anspruchslose Olive hatte an geschützten Stellen Fuß gefaßt, und zerzaustes Kieferngehölze hing an den schroffen Wänden. Seit aber Schwester Maria ihre Setzlinge herüberschickte, begannen auch unsere nackten Flanken sich in ein Rosengewand zu kleiden. Es war die einzige Zwiesprache die wir noch pflogen, denn seit sie das Inselchen Unserer lieben Frau betrat, habe ich ihre Hand nicht mehr in der meinen gehalten. Aber jeden Morgen stieg ich hier herauf und sah sie drüben mit den Kindern, die einer fröhlichen Engelschar glichen, zwischen den Beeten wandeln und spielen. Die ganze Küste entlang hatte sich der Ruf ihrer Frömmigkeit und Kunst verbreitet, und die edelsten Häuser sandten ihre Töchter zur Pflege und Erziehung herüber. So nah vom schützenden Lande dachte niemand an eine Gefahr. Aber der wonnige Blumenflor und noch mehr Schwester Marias engelgleiche Schönheit, die auch durch das Klostergewand leuchtete, stach den Seefahrern beim Vorübersegeln in die Augen, und sie trugen den Ruf des Inselgartens, wo die schönste Frau im Schwesterngewand unter Rosen und lieblichen Mädchenkindern wandelte, bis an die Küsten Afrikas. Die heidnischen Korsaren des Beis von Tunis zogen aus, die seltene Beute für ihren Gebieter über das Meer zu holen.
Dem Guardian stockte die Rede vor der inneren Bewegung. Erst nach einer Weile fuhr er fort:
Es war eine stürmische Nacht, der Wind heulte um unsere Klippen und fing sich stöhnend in den Schluchten, das Meer brüllte auf wie ein erwachendes Raubtier, und ich lag schlaflos und dachte mit Sorge, ob der Tinetto nicht in Gefahr sei, von der Flut überspült zu werden. Da schien es mir, als hörte ich von drüben die Glocken durch den Aufruhr läuten. Ich nahm mir keine Zeit den Pförtner zu rufen, sondern stieg durch das Zellenfenster und lief, so schnell mich meine Füße trugen, hier herauf. Da sah ich Flammenschein vom Tinetto aufsteigen und hörte lautes, durchdringendes Frauengeschrei. Ich weckte das Kloster, wir ließen unsere kleinen Boote hinab und ruderten mit Gottes Hilfe durch den wilderregten Wasserarm. Aber wir kamen zu spät, denn eben stieß das Barbareskenschiff, dessen Bemannung das Kloster überfallen und angezündet hatte, vom Ufer. Wir sahen durch den Flackerschein seine Umrisse, die grell bemalten Segel mit dem Halbmond und die wilden Gestalten an Bord, wir hörten durch den Sturm das gellende Geschrei der weggeführten Frauen und Kinder und das Fluchen und Toben der heidnischen Schiffsmannschaft, die gegen den Wind kämpfte. Im Klosterhof lag die gute alte Mutter Oberin tot mit einer tiefen Schädelwunde, die ihr ein Heidensäbel geschlagen hatte, und neben ihr noch einige der älteren Schwestern. Die jungen und ihre Pflegekinder waren sämtlich geraubt, kostbare Ware für den Sklavenmarkt von Tunis.
Bei dieser Erzählung des Guardians erwachte in dem ehemaligen Kriegsmann noch einmal die alte unbändige Wildheit. Er biß sich in die Fäuste, stampfte den Boden und stöhnte:
Warum, o Gott, du grausamer, ließest du mich nicht zur Stelle sein, daß ich mein unwürdiges Leben an das reine der Unschuld gesetzt hätte? Warum gabst du das Edelste, was du geschaffen hast, zur Schmach in die Hände der Heiden?
Er warf sich ächzend auf die Steinbank, den Kopf nach unten, und war für alles Zureden des Guardians taub.
Ich habe kein Recht deine Verzweiflung zu schelten, sagte dieser sanft, denn ich war selbst in jener Schreckensnacht ein Heide, ein blinder, ungläubiger Heide, ich murrte wider Gott wie du und tobte gegen mich selbst, daß ich den Hilferuf zu spät vernommen. Es gehörte ja zu den Pflichten der Brüder vom Tino, die Schwestern vom Tinetto zu schützen. Sinnlos, wie ich war, suchte ich ganz allein im winzigen Boot den Korsaren zu verfolgen. Die Brüder hielten mich fest und banden mich, sonst hätte ich mich ins Wasser gestürzt, um den Räubern schwimmend nachzusetzen.
Der Théraudac sprang wieder auf die Füße: O wäre ich dabei gewesen!, schrie er und schüttelte seine Fäuste gegen das Meer hinaus.
Höre jetzt das Ende. Wir konnten keine Bitte um Hilfe für die Geraubten an das Festland senden, denn die See wuchs mit jedem Windstoß, und es erhob sich in jener Nacht ein Sturm, wie ich vor- und nachher keinen erlebt habe. Drei Tage und drei Nächte tobte die Flut, als wollte sie mit dem Angriff ihrer Brecher den alten Tino aus dem Meeresgrund entwurzeln, um unsere Felsen hing es immerzu wie ein Schleier von Gischt, und der Salzschaum flog in weißen Flocken bis in den Klosterhof. Er brachte noch den Brandgeruch und Rauch vom Tinetto herüber.
Am vierten Tage legte sich das Wetter, auf langen Wogen trieben Schiffstrümmer vorbei, man erkannte die Gallion des Korsarenschiffs, und als das Meer sich ganz geglättet hatte, trug es blau und schaukelnd den Leib der toten Schwester Maria heran. Ihre Hände waren noch gebunden, wie man sie weggeschleppt hatte. Ihr schönes Haupt, von dem der Schleier weggespült war, hatten die wilden Wasser nicht zu entstellen vermocht, es lächelte wie beim Anblick der ewigen Seligkeit. Man sah: die Gnadenmutter deren Namen sie trug hatte ihr den letzten bittern Kampf in himmlische Süße verwandelt. Wir begruben sie in ihrem zerstampften Gärtchen und richteten die Beete wieder auf, die sich alsbald mit neuen Blüten schmückten. Von Stunde an begannen sie sich weiter auszubreiten, sie kletterten an den ausgebrannten Mauern und geborstenen Säulengängen hoch, umspannen die eingestürzten Trümmerhaufen und wanderten allmählich über das Strandgras gegen das Meer hinab und zogen rund um das Eiland eine duftende Hecke, bis der ganze Tinetto zum Rosengarten wurde, wie du ihn vor dir siehst.
Der unglückliche Théraudac vermochte sich nicht an dem Anblick der Schönheit zu weiden.
Weh mir, sagte er, ich kam hierher in der Hoffnung, meine Gewissensqualen zu bannen, und jetzt erfahre ich, daß ich noch viel schuldiger bin, als ich wußte. Ohne meine Nachstellungen hätte unsere Schwester nie vom Vaterhaus zu fliehen gebraucht, sie hätte sich nicht in Meereseinsamkeit verbergen müssen, wo das schrecklichste Schicksal sie ereilt hat.
Du Tor, sagte der Guardian, meinst du denn, unser himmlischer Vater hätte kein Mittel gehabt sie zu erhalten, wenn er ihr längeres Verweilen auf der Erde gewollt hätte? Er durfte ja nur das Heidenschiff auf der Herfahrt statt auf der Rückfahrt zerschellen. Daß er sie in die Hände der Heiden gab und sie durch den Schiffbruch befreite, geschah zu ihrem und zu unserem Heil. Sie betet droben für ihre sündigen Brüder und Schwestern auf Erden, und schon viele haben die Macht ihres Gebets erfahren. Sie wird auch dir eine Mittlerin sein, wenn du deine tiefe Reue an ihrem Grab niederlegst. Komm jetzt und stärke deinen Leib von der Mühsal der Wanderung, und wenn du ausgeruht bist, soll dich einer der Brüder im Boot hinüberführen. Bete an ihrem Grabe für dich selbst und für die unselige Frau, die uns beiden das Leben gab. Ich will hier zugleich mit dir beten. Dann schneide zwei blütenlose Zweiglein von dem Rosenbaum, der ihr zu Häupten steht. Die sollst du dahin bringen, von wannen du ausgezogen bist. Verwahre sie sorglich und netze sie unterwegs mit deinen Tränen, die werden sie frisch erhalten wie ein Wundertau. Pflanze die beiden auf das Grab unserer Mutter, das eine für sie, das andere für dich. Wenn sie anwachsen und Knospen treiben, soll es dir ein Zeichen sein, daß euch beiden vergeben ist.
Heiß mich nicht ruhen und das Fleisch pflegen, mein Vater, solange die Seele schmachtet, sagte der Pilger. Sende du mich gleich hinüber, ob sich die Heilige meiner Not erbarmen will, die in mir brennt wie das Feuer der Hölle.
Da gab der Guardian ihm einen Bruder mit, der ihn mit kräftigen Ruderschlägen über die blaue Wasserstraße nach dem Inselchen führte und ihm dort die verborgene Öffnung in der wundersam duftenden Dornen hecke zeigte. Schmale Wege, von ordnender Hand gezogen, durchkreuzten das üppige Rosengeschlinge, unter dem sich ein sattgrüner Wiesenteppich sanft gegen das Meer hinabsenkte. Théraudac nahm den breiteren Mittelweg und kam unterhalb der Klosterruine, wo ein paar schöne Pinien und Zypressen den Brand überdauert hatten, an einen erhöhten, mit vielartigem Muschelwerk eingefaßten Rasenfleck. Das war die Stelle, wo die Brüder vom Tino Schwester Marias toten Leib einschaufelten, und die künstliche Umrahmung war das letzte Liebeswerk, das der treue Pancraz seiner einstigen Herrin gewidmet hatte. Ein von seiner Hand behauenes Marmorkreuz stand zu Häupten des Grabes und war so dicht mit Schlingrosen umwachsen, daß man keine Inschrift mehr lesen konnte. Dahinter stieg ein schlankes Rosenbäumchen hinauf, das oberhalb des Kreuzes eine Krone von flammendroten Rosen wie eine duftende Opferschale emporhielt. Paradiesische Wohlgerüche strömten von ihm aus, und in jedem Rosenkelch perlte trotz der hochgestiegenen Sonne ein farbenwechselnder Tautropfen. Unterhalb des Kreuzes aber, recht aus Blandas Herzen kommend, war als Sinnbild unberührter Reinheit ein hoher dreifacher Lilienstengel emporgeblüht, und der Rasen selber war mit lichten Frühlingsblumen, Narzissen, Hyazinthen und Anemonen anmutig durchwirkt.
Der Pilger kniete zu Füßen des Grabes in das umherliegende Steingeröll, dessen scharfe Kanten sein Fleisch wie mit Dolchspitzen durchbohrten. Er spürte aber keinen Schmerz, denn im Augenblick, wo er niedersank und sein inbrünstiges Gebet sich zu der frommen Seele, an der er gefrevelt hatte, erhob, da fiel mit einem Ruck die ganze Last, die er all die Jahre getragen, von seinem Herzen. Aus seinen Knien rann das Blut, aber er drückte sie nur tiefer in die spitzigen Steine. Seinen Leib warf er in die kriechenden Dornen, und sie durchdrangen ihn mit einem reinen feurigen Liebesbrand. Nie hatte er eine ähnliche Wonne gekostet. Gram und Angst und die Reue selber brannten aus und schmolzen hinweg und ließen einen unsagbaren Frieden wie selige Himmelsbläue in seiner Brust. Er war befreit und wußte, daß die Heilige ihm vergeben und sich für ihn verwandt hatte. Da gedachte er, wie es ihm von seinem Bruder anbefohlen war, auch für die unheilvolle Frau, die ihn mit ihrer tierisch-blinden Mutterliebe zum Bösen angetrieben hatte, zu beten. Er schnitt zwei kleine grüne Zweiglein vom Rosenbaum und barg sie an seiner Brust. Dann kniete er noch einmal nieder, und ehe er sein Gebet vollendet hatte, fühlte er auch, daß es erhört war. Verzückt von all den süßen Wundern blieb er auf den Knien liegen und wußte nichts mehr von den Stunden, die verrannen. In der tiefen Bläue von Himmel und Meer stand die Zeit um ihn still als eine noch tiefere und noch reinere Bläue. Der Bruder, der ihn hergeführt hatte, wartete mit seinem Boot geduldig an der Lände. Als aber die Sonne sank und der Himmel weithin in Purpur, Safran und Gold zu flammen begann, entschloß er sich den Säumenden zu rufen. Er fand ihn zu Füßen des Grabes entseelt in die Dornen gestreckt. Die Mönche weihten ihm ein Grab auf dem Tino neben dem Kapellchen, das auf den Tinetto niederschaute, und begruben ihn mit den zwei Rosenzweiglein, die an seinem erstarrten Busen lagen. Diese durchdrangen den steinigen Boden, wuchsen empor und trugen bald zwei wunderschöne rote Rosen. Da sahen alle, daß zwei arge Sünder gerettet waren.
Nach dem Tode des Guardians dauerte das Rosenwunder auf den beiden geschwisterlichen Inseln noch eine kurze Zeit fort. Aber die Sitten der Mönche gerieten in Verfall, und das Kloster auf dem Tino wurde aufgehoben. Da kamen die Weltkinder in Booten vom Festland herüber, plünderten die Rosenbeete des Tino, und der Fürwitz fand auch durch die blühende Dornenhecke des Tinetto seinen Weg. Nun verdorrte mit einem Male die Rosenpracht, und die Heilige tat von da an keine Wunder mehr. Seitdem haben der Tino und der Tinetto nur noch Steine getragen.