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Um die Zeit, wo die schöne Steiermark noch unter ihren eigenen Grafen stand, lebte auf dem stattlichen Pachthof von Disensaß ein Pächter, Namens Andres. Dieser war ein hochfahrender und querköpfiger Mann, der von klein auf über seinen Stand hinaus gewollt hatte. Er bildete sich ein, daß in seinen Adern Ritterblut rolle, weil seine Mutter als junge Ehefrau dem damaligen Herrn von Disensaß, als er bei einem Jagdausflug auf dem Pachthof weilte, in die Augen gestochen haben sollte. Aus Hochmut hatte er in jungen Jahren der Scholle, auf der seine Vorfahren als Erbpächter saßen, den Rücken gewandt und war eine Zeitlang erst als Kriegsknecht, dann als Vagant im Lande herumgezogen, da er aber weder mit dem Schwert noch mit dem Mundwerk das erhoffte Glück erjagen mochte, sondern nur Plagen aller Art erlitt, besann er sich beizeiten und kehrte zum väterlichen Pflug zurück. Dann nahm er in vorgerückten Jahren noch eine junge, sehr sanfte und fromme Frau, die aus Dankbarkeit, daß er auch ihre alte Mutter miternährte, sich allerwege in seine gewalttätigen Launen schickte. Als er zum ersten mal Vaterfreuden entgegensah, stellte er sogleich fest, daß das Kind ein Knabe und ein Ausbund von Schönheit, Verstand und Tugenden aller Art wie sein Vater, ja sogar noch vollkommener werden müsse. Und da er auf seinen Kreuz- und Querfahrten gesehen hatte, daß beim Kriegshandwerk doch nur die vom Adel Reichtum und Ehren erlangten, daß dagegen durch die Wissenschaft schon mancher Niedriggeborene zu hohem Ansehen und zur Gemeinschaft mit Rittern und Herren aufgestiegen war, beschloß er im voraus, seinen Sohn den Studien zu widmen und ihn all die Gelahrtheit erwerben zu lassen, die ihm selber entgangen war. Zeitig ging er mit dem Kalender zu Rate, wie sein Bub heißen solle, und entschied sich für den lateinischen Namen Donatus, der ihm für einen künftigen Magister besser zu passen schien als irgendein Michel oder Jobst. Auch wußte er, daß Donatus der Geschenkte bedeutet, meinte also durch diesen Namen die Vorsehung zu verpflichten, daß das Geschenk um so ansehnlicher ausfalle.
Als er die Erfüllung seines Wunsches schon ganz nahe sah, brachen in einer Nacht die schlecht gedämmten Gebirgswasser aus, daß die ganze Gegend überschwemmt ward und das höher gelegene Pächterhaus wie eine Insel aus dem tosenden Schwall ragte. Der größte Teil der Ernte der noch draußen lag wurde weggeschwemmt, und die bestmelkende Kuh, die nicht schnell genug hatte herausgeschafft werden können, ertrank im Stalle. Während Andres, der die Rettungsarbeiten leitete, durch sein Toben und Wettern das Gebrüll der Wasser übertönte, und die Knechte zu dem heiligen Christophorus als dem Helfer in Wassersnot schrien, empfahl die fromme Pächterin sich zusamt der Frucht in ihrem Leibe und ihre alte Mutter der allerseligsten Jungfrau. Da wallten die Fluten, die schon gegen das Wohnhaus Sturm liefen, zurück, verteilten sich und verebbten allmählich. Aber das arme Weib hatte vor Schreck ihr Kind zu früh zur Welt gebracht, ein elendes Würmlein, dessen Geburt der Mutter das Leben kosten sollte. Als der Pächter beim Morgengrauen ganz durchnäßt und zerzaust und noch wild über den Verlust der Kuh in die Kammer trat, lag sein Weib in den letzten Zügen. Ihr Gesicht war lang und verzogen, kalter Schweiß verklebte ihr Stirnhaar. Der unvernünftige Mann, der nie gelernt hatte sich Gewalt anzutun, kam wie von Sinnen. Er haderte laut mit dem Himmel, daß er ihm auf einen Tag all seine beste Habe nehme, die Ernte, die Kuh und gar noch sein Weib, und er drang in die Sterbende, doch ein Einsehen zu haben und ihn nicht gerade jetzt in seiner Not zu verlassen, als ob sie mit Willen von ihm ginge. Nach dem kleinen Bündelchen an ihrer Seite, von dem ein schwaches Wimmern kam, sah er sich gar nicht um.
Andres, sagte das Weib schwach, ich bin dir immer gehorsam gewesen, aber jetzt muß ich einem Höheren folgen. Es zieht mich wie mit Stricken an einen anderen Ort. Also halte mich nicht und mach mir das Gehen nicht noch schwerer. Das Kind das uns Gott geschenkt hat sollst du lieben und es nie entgelten lassen, daß uns Menschen unsere Wünsche nicht immer geraten können.
Andres konnte es nicht fassen, daß seine sanfte, geduldige, allzeit nachgiebige Frau auf einmal einen anderen Willen über sich erkennen sollte als den seinigen.
Gerade des Kindes wegen, sagte er, mußt du doch begreifen, daß ich dich nicht fortlassen kann. Soll vielleicht ich es nähren, wickeln und baden? Ist das ein Geschäft für ein Mannsleut? Manche gute Zeit hast du in meinem Haus gehabt, und jetzt willst du gehen, wo du siehst, daß ich mir ohne dich nicht helfen kann.
Das Kind hat eine Ahne, antwortete die Sterbende mit verlöschender Stimme, und ich will die schmerzensreiche Mutter droben bitten, daß sie sich seiner erbarmt und ihm aus den himmlischen Heerscharen einen Helfer sendet, der es statt meiner behütet.
Während der Pächter noch auf sein Weib einredete im Glauben, daß er sie festhalten könne, wenn er nur selber nicht einen Augenblick im Willen schwach würde, war die todbereite Seele schon entglitten.
Der Mann stand wie versteinert, als er sein Unglück und die Nutzlosigkeit seines Widerstands erkannte. Erst als die anwesenden Frauen das wimmernde Menschenklümpchen vorsichtig von der erkaltenden Seite der Toten lösten, faßte er sich und verlangte seinen Sohn auf den Arm zu nehmen. Aber die Ahne kam ihm rasch zuvor, schlug ihre Schürze um das Kind und drückte es an die Brust, indem sie sagte:
Was Gott gegeben hat, soll man dankbar annehmen. Es ist kein Donatus, es ist eine Donate.
Da warf Andres einen einzigen Blick auf das verhüllte Kind und ging taumelnd aus dem Zimmer.
Die Türme und Zinnen des himmlischen Zion standen glanzumflossen, und durch das immerwährende erste Maiengrün des Gartens Eden ging soeben der Festreigen der seligen Geister, als die fromme Seele der Pächterin oben anlangte und sich gleich aus Demut und Verschüchterung in das einsamste Buschwerk verkroch. In tausend lieblichen Windungen und Verschlingungen band und löste und verschlang sich aufs neue der Tanz. Ganz innen hielten sich die Kleinsten bei den Händen und bildeten vorwärts und rückwärts schwebend den regsamen Kern, den die Größeren und Größten in stets erweiterten Ketten umzogen. Farbigleuchtende, durchsichtige Gewänder umgaben die beweglichen, gleichfalls durchscheinenden Leiber, und alle trugen sie groß und klein Blumenkränze um ihre Stirnen, nicht rasch welkende Blumen wie die irdischen, sondern Paradiesesblumen, an denen jedes Blättchen lebte und von einem zitternden Liebesatem beseelt war. Die wunderbare Musik, die alle diese Gestalten in ihrem Takte schwang und hielt, rührte nicht von Musikanten und ihren Instrumenten her. Es waren die junggrünen und die dunklen saftstrotzenden Blätter der Bäume von Eden selbst, die, von den Lüften wie von unsichtbaren Fingern und Mündern berührt, ein jedes seine hohe oder tiefe Note sang. Den göttlichen Zusammenklang aber beherrschte von der Zinne des Turms der Seraph, der gerade Dienst hatte und der durch Heben und Senken oder Ausbreiten der Schwingen sein grünes Orchester leitete. Diese Musik machte, daß jeder der seligen Geister, der im Reigen die Hand des anderen erfaßte, ihm damit sein ganzes eigenstes Selbst übergeben mußte, von dem der andere sich für die Länge eines Herzschlags durchbeben ließ, ohne doch sein eigenes, das er dafür weggab, zu verlieren. Und so immer neu durchbohrt vom Stachel einer heiligen Entzückung, schwebten sie zu immer neuem Geben und Nehmen weiter, die Reihenfolge der ganzen Geisterwelt durchlaufend. Nur wenn zwei Seelen von ihrer Schönheit gegenseitig so trunken waren, daß sie von keinem Wechsel mehr wissen wollten, glitten sie Hand in Hand aus dem Reigen heraus der sich gleich wieder schloß, und schwebten ungehindert seitwärts, doch immer von der Musik gehalten, daß sie sich nicht ganz hinweg verlieren konnten. So oft der Reigen dem Buschwerk nahe kam in das die fromme Seele sich verkrochen hatte, streckten sich zärtliche Hände nach ihr aus um sie mitzuziehen, aber sie verbarg sich tiefer in das tönende Gesträuch, denn sie hielt sich nicht würdig an dieser unermeßlichen Seligkeit teilzuhaben.
Jetzt aber kam durch all den Glanz die Mutter der Gnaden heran, von leichtem Zephir getragen und in solcher Schönheit, daß kein irdisches Auge es ausgehalten hätte. Von ihrem Haupte, das ein Diadem von farbenwechselnden Sternen trug, flossen silberne Schleier nieder, die das himmelblaue Gewand zur Hälfte bedeckten. Sie drückte ihr strahlendes Kindlein an den Busen, in anbetendes Staunen versunken, daß dieses Kindlein zugleich als höchster Himmelsherr alles Erschaffene und auch sie selbst zusamt dem Paradies und den Engelsscharen in seinen mächtigen Händen hielt.
Da kroch ein ganz kleines, demütiges Seelchen, das sich noch kleiner machte, als es war, heran und legte sich zu ihren Füßen.
Heilige Gnadenmutter, sagte das Seelchen, erbarme dich meines verlassenen Kindleins. Es hat zum Vater einen Mann mit krausem Hirn und eine Ahne, die schon matt ist von Jahren, sonst niemand auf der Welt. Schick ihm aus den Scharen deiner Engel einen Beschützer hinunter.
Du fromme Seele, antwortete die Himmelskönigin, gern möchte ich deinem Wunsche willfahren. Aber ich darf nicht meine Engel um der Menschenkinder willen in den irdischen Jammer hinabsenden. Nur wenn einer von den Kleinen Strafe verdiente, daß er ungehorsam gewesen wäre oder sich über die Geschwister erhoben hätte, der mag dann hinuntergehen und mit deinem Kindlein in der Wiege liegen, daß er um ihretwillen ein Erdenschicksal erleide.
*
Seit dem Tode der frommen Pächterin gab sich der Pächter wie ein Mann, dem eine schwere Beleidigung widerfahren ist, und er ließ Knechte und Mägde sein Mißgeschick büßen. An dem dürftigen kleinen Würmchen schämte er sich so, daß er verbot es in die Sonne zu tragen, denn niemand sollte sehen, wie tief sein Vaterstolz gedemütigt war. Es gab auch freilich an dem Kinde nichts Schönes zu sehen: das kleine Ding hatte ein runzliges Gesicht wie ein verhutzelter Apfel, mit zwei Unmutfalten auf der Stirn, und ein Körperchen, das eher einem abgezogenen mageren Häslein als einem kleinen Menschlein glich, dazu war es ohne Haare und Nägel zur Welt gekommen. Da es aussah, als ob es gleich der Mutter nachfolgen wollte, hatte man sich mit der Taufe sehr beeilen müssen. Nun war aber bei der sicheren Erwartung eines Sohnes für einen Mädchennamen gar nicht vorgesorgt, und Andres hatte auch keine Lust, sich über einen solchen den Kopf zu zerbrechen, so blieb es bei dem Namen Donate, der dem Kind von der Ahne in seiner ersten Lebensstunde ohne Überlegung gegeben worden war. Aus einer entfernten Ortschaft wurde eine kräftige Amme gedungen. Als aber dieser das eigene schöne und gesunde Söhnlein daheim an ungenügender Pflege starb, ward sie dem fremden Säugling gram, und der Kummer verschlug ihr die Milch, daß dem Würmlein auch die Nahrung knapp wurde und es sich oft vor Hunger blau schrie. Dann stampfte der Vater wütend auf den Boden oder ging stumm und verbissen aus dem Hause. Die Ahne aber gab der Kleinen ihre knöchernen Finger zu lutschen, bis sie eingeschlafen in ihrem Schoße lag mit dem Ausdruck von Vorwurf im Gesichtlein, den sie immer hatte, wenn sie schlief.
An einem sonnigen Frühlingstag, als die Amseln sangen und die weißen und rosenroten Blüten von den Bäumen fielen, war der Pächter wegen eines Viehhandels über Land gegangen. Die alte Frau nahm diese Gelegenheit wahr und setzte sich mit dem Kinde auf die Bank unter den blühenden Apfelbaum. Während sie strickte und dazu das Kind leise in Schlaf summte, kam es ihr vor, als ob sich hinter dem Baum etwas regte. Sie bückte sich und sah einen bildschönen Knaben im Grase sitzen, der sich wie eben erwacht die Augen mit seinen kleinen Fäustchen rieb. Die Alte wußte nicht, ob sie sich mehr über die Anwesenheit des Kindes oder über seine unbeschreibliche Schönheit verwundern sollte. Sein Gesichtlein war weißer und zarter als die fallenden Blütenblätter, er hatte die strahlendsten Blauaugen und Ringelhaare wie gesponnenes Gold. Am Leibe trug er nichts als ein langes weißes Hemdchen. Erst blickte er um sich, als suchte er seine gewohnte Umgebung, dann erhob er sich, taumelte ein Schrittchen vorwärts und setzte sich, des Gleichgewichts noch ungewohnt, sogleich wieder rücklings zur Erde. Aber schnell versuchte er das Aufstehen von neuem, und diesmal gelang es ihm. Dabei wurde er erst des schlafenden Mägdleins auf dem Schoß der Alten ansichtig und stieß einen kleinen Freudenruf aus, der klang, wie wenn ein unflügger Vogel piept. Er hielt sich am Rock der Ahne fest, zu deren Knie er gerade heraufreichte, und näherte sein Gesichtchen dem der Schläferin, das sich plötzlich glättete, wobei es gleich nicht mehr so häßlich schien. Dann tupfte der kleine Fremdling vorsichtig aber mit unendlicher Neugier, als hätte er noch nie ein schlafendes Kind gesehen, dem kleinen Ding auf beide geschlossene Augen, die sich sogleich öffneten und ihn anlachten. Dabei gab die kleine Donate einen Freudenlaut ganz ähnlich dem seinigen von sich. Die Ahne saß unbeweglich und wagte nicht zu atmen aus Furcht, der schöne Traum könne zerrinnen. Da wurde sie im Hause gerufen. Verwirrt erhob sie sich, ihr Enkelkind im Arme, und hielt, ohne zu wissen wie es zuging, das fremde im anderen. Das Gesinde sperrte Mund und Augen auf, als sie mit beiden Kindern ins Haus trat.
Landstreichervolk hat's uns draußen ins Gras gelegt, sagte die alte Frau. Aber gewißlich ist es nicht das ihre. Leicht haben sie es einem Grafen oder gar unserem Herrn Kaiser selbst gestohlen, so schön ist es. Wir wollen's halten und pflegen, bis seine Eltern kommen es heimverlangen. Aber jetzt geht und schaut euch draußt auf der Straßen um, ob ihr das fahrend Volk, das windige, nimmer sehen könnt.
Die Amme, ein derbes bäurisches Weib, faltete beim Anblick des Findlings die Hände und sagte feierlich, indem ihr die Tränen übers Gesicht liefen:
Das ist mein Seppl gewiß und wahrhaftig. Die heilige Gottesmutter hat ein Einsehen gehabt und ihn mir aus dem Paradies zurückgesendet.
Sie nahm gleich den Knaben in ihre starken Arme um ihn zu tränken. Der aber wandte sich mit Widerwillen weg, und erst, als das kleine Mädchen sich gesättigt hatte, wobei er verwundert zusah, nahm auch er willig die dargereichte Nahrung, die jetzt reichlich für zweie floß, wo zuvor die eine gedarbt hatte. Danach schliefen die beiden Kinder zusammen in der Wiege wohlig zugedeckt und die beiden rosigen Gesichtlein gegeneinander gewendet.
Als das Freudengebell der Hunde die Rückkehr des Herrn ankündigte, ging ihm die Ahne auf der Straße entgegen, um ihn vorzubereiten und für den Findling, von dessen Überbringern man keine Spur gefunden hatte, günstig zu stimmen. Der Pächter kam pfeifend des Wegs und pfiff, während sie redete, weiter was ein sehr böses Zeichen war. Als er aber den Findling in der Wiege sah, verschlug es ihm den Atem, daß er erst kein Wort vorbringen konnte, er stand und schaute, ein mächtiger Ruck nach dem anderen ging über sein Gesicht, und er atmete endlich tief auf, als sei ein schwerer Stein von seinem Herzen gefallen.
Mutter, sagte er dann, was redet Ihr nur daher? Das Kind ist mein. Ich muß mich verwundern, daß Ihr das nicht gleich erkannt habt. Seht Ihr denn nicht, daß es mir aus dem Gesicht geschnitten ist? Wegen seiner Feinheit braucht Ihr Euch, mein' ich, nicht zu wundern. Von Grafen und Herren wird's wohl abstammen, wenn's mein Blut ist. Darum ist's aber doch der Sohn, den mir das arme Weib in ihrer Todesstunde geboren hat. Was Ihr bisher aufzogt, war ein Wechselbalg, den schafft nur gleich in den Wald hinaus. Leicht mögen ihn die Wichtel wieder holen, jetzt, wo sie mein eigenes Kind zurückgebracht haben.
Die Ahne erschrak sehr und sagte:
O Pächter, wo seht Ihr denn einen Wechselbalg? Schaut doch die beiden Kinder an und sagt mir, welches das schönere ist. Ihr habt Euch ja Euer eigenes noch nie angesehen. Sind sie sich nicht gleich wie ein Wassertropfen dem anderen? Werden sie sich nicht immer noch ähnlicher, je länger Ihr's anschaut?
Der Vater stand und staunte. Auch ihm däuchte es jetzt, als ob die Kinder sich ähnlich sähen, nur daß das Mädchen viel kleiner und zarter war. Ihre Haare hatten die gleiche Farbe, freilich sproßten die Donates erst spärlich, die Köpfchen hatten die gleiche Form, die roten Mündchen lächelten auf die gleiche Weise, die Händchen, die auf der Decke zusammen lagen, hätte man verwechseln können, so ähnlich bewegten sich die kleinen Fingerchen. Der Vater zog die Decke weg und betrachtete die zarten Gliedmaßen, die gleichfalls ganz ähnlich geformt waren, nur daß der Knabe in allem schöner und vollkommener war.
Soll ich denken, daß mein Weib mir Zwillinge geboren hat und daß wir bis heute nichts davon wußten?
Wir wollen gar nichts denken, Pächter. Wir wollen den Fund als unser ansehen und warten, bis wir ein Zeichen erhalten, wer er ist. Ich habe ihm sein Hemdlein ausgezogen und es schön gefaltet in die Lade verschlossen. Es ist von einem Linnen so fein, wie hierzuland keins gesponnen wird, und rings um den Saum mit Goldfäden gestickt. Wer weiß, es kann ihm einmal zum Erkennungszeichen werden.
Der Pächter verlangte das Hemdlein zu sehen, sie händigte ihm den künstlichen Schlüssel ein, aber als er aufschloß, war die Lade leer. Die Ahne fürchtete, es sei ein Dieb im Hause, aber Andres sagte:
Laßt's gut sein, Mutter, ich hab' es nicht anders erwartet. Die ihn brachten, werden wissen, wohin das Hemdlein gekommen ist. Die schlüpfen durch, wo sie niemand sieht, und vom Öffnen künstlicher Schlösser versteh'n sie was, das schlägt in ihr Handwerk.
Die beiden Kinder blieben beisammen, und ein Segen ruhte sichtbar auf ihnen. Alle Pflege, die dem Findling zuteil wurde, schlug dem kleinen verkümmerten Mädchen an, daß es täglich schöner aufblühte. Andres söhnte sich gänzlich mit Donate aus und dachte nicht mehr daran sie in den Wald zu tragen. In Donatus aber – so mußte natürlich der Knabe heißen – sah er die späte Erfüllung und Krönung seines Lebens. Daß die beiden Kinder Zwillinge seien, von seiner Frau in ihrer Sterbenacht geboren und nur eine Zeitlang durch eine rätselhafte Macht voneinander getrennt, ließ er sich nicht mehr nehmen, nachdem er es einmal ausgesprochen, und niemand der die Kinder sah hätte es zu bestreiten gewagt. Er war jetzt ebenso stolz auf seine Vaterschaft, wie er sich ihrer zuvor geschämt hatte, und ließ, wo er nur konnte, die Schönheit seiner Zwillinge bewundern. Donatus lernte ganz von selber gehen und lief bald durch das ganze Haus. Donate rutschte ihm zuerst auf dem Boden sitzend nach und lernte dann von ihm die ersten Schrittlein. Das gab einen neuen Jubel im Hause, und alles was die Kinder taten oder sagten war für den Vater ein Anlaß unaufhörlichen Rühmens und Pochens. Auf der Straße blieben die Leute stehen um die schönen Kinder anzustaunen, wenn sie draußen spielten. Welche Mutter aber ihr Kindlein verloren hatte, die meinte es in dem kleinen Knaben wiederzusehen und ging getröstet weiter, wenn sie ihn nur einmal hatte auf den Arm nehmen und küssen dürfen. Wenn er gar in kindlichen Worten um etwas bat, vermochten auch die rohesten Herzen kaum ihm die Bitte abzuschlagen.
Als sie heranwuchsen, blieb der Knabe der Führer und Beschützer des jüngeren Schwesterleins, und es bedurfte gar keiner weiteren Aufsicht für die beiden. In der schönen Jahreszeit gingen sie Tag für Tag zusammen in den Bergwald, nachdem sie zuvor ihre Schüssel süßen Brei gegessen hatten, die Ahne steckte noch jedem ein mächtiges Stück Brot in die Tasche, das teilten sie mit allerlei Getier des Forstes und kamen am Abend satt und glücklich nach Hause. Nie verletzte sich eins der Geschwister, die wildesten Hunde ließen sich von ihnen anfassen, keine Gans in der Dorfgasse wagte gegen sie zu schnattern, ja, es gab trotz allem Klettern und Springen nicht einmal zerrissene Röcklein.
Einmal wurde die Ahne neugierig, was denn eigentlich die Kinder im Walde trieben. Sie hörte ein wundersames Tönen, dem schlich sie nach und sah die Geschwister inmitten einer Lichtung auf dem Rasen sitzen, das Brüderlein hatte ein Baumblatt vor dem Mund, dem es so eigene, herzbewegende Weisen entlockte, daß die alte Frau die nie etwas so Schönes gehört hatte vor Wonne und Weh vergehen wollte. Sie schlich still davon wie sie gekommen war, aber am Abend fragte sie die Kinder, von wem sie diese Kunst gelernt hätten. Donatus antwortete verwundert, die Weisen wären ja in dem Blatt, er brauche es nur an den Mund zu nehmen, so kämen sie von selbst heraus. Auch das Mädchen blättelte und blies mit aufmerksamem Gehör dem Bruder nach, aber so schön wie er konnte sie es nicht, denn wenn er so recht inniglich anhob, begannen alle die es hörten vor unbeschreiblichem Heimweh und seliger Wehmut zu weinen. Nur der Pächter Andres behielt trockene Augen, denn er hatte für die Musik kein Ohr, aber er war sehr stolz auf die Ehre die sein Sohn einlegte und nötigte ihn oftmals gegen seinen Willen sich hören zu lassen, wenn Fremde auf dem Pächterhofe vorsprachen. Bald begnügte der Knabe sich nicht mehr mit dem Baumblatt, er schnitzte Röhren die er kunstreich zu Doppelflöten verband, über zusammengenagelte Bretter zog er Darmsaiten und spielte darauf, und es war um das Pächterhaus her ein beständiges Singen und Klingen wie im Paradiese. An diesem Konzert nahmen auch die Vögel teil, die ihn wo er ging und stand umhüpften und sein Spiel mit Trillern und Schmettern begleiteten. Denn er liebte alles Getier in Wald und Flur, brachte ihnen die übrigen Brocken vom Tische und litt nicht, daß in seiner Gegenwart eins verletzt oder getötet wurde.
Eines Tages wollte ein roher Knecht ein neugekauftes Pferd, das er nicht zu behandeln verstand, züchtigen. Donatus sprang scheltend dazwischen. Da sagte der Grobian: Von dir laß ich mir nit befehlen, du bist ein Gefundener. Ich weiß noch recht gut, wie das Lumpenvolk dich dem Pächter vor die Tür gelegt hat.
Die Ahne die eben dazukam hieß den angetrunkenen Knecht seinen ungewaschenen Mund halten. Aber Donatus sagte: Verwehrt ihm das Reden nicht, Ahne, denn er sagt die Wahrheit. Ich weiß es ja selber noch, wie ich Euch zum erstenmal sah, als Ihr auf der Bank saßt und das schlafende Schwesterlein auf dem Schoße hattet.
Das müssen dir die Mägde verraten haben.
Niemand hat mir das verraten. Und damit Ihr mir glaubt, will ich Euch etwas erzählen, was keine der Mägde von Euch gehört hat, weil es zu unwichtig war. Als Ihr, auf jedem Arm ein Kind, ins Haus gingt, da stecktet Ihr zwar zuvor das Strickzeug in die Tasche, aber der Garnknäuel fiel zu Boden und rannte in langen Sprüngen hinter Euch her. Das sah so närrisch aus, daß ich lachen mußte. Entsinnt Ihr Euch?
Die Frau verwunderte sich, daß eines Kindes Gedächtnis so weit zurückreichen sollte.
Wenn du von der Bank und dem Garnknäuel weißt, mußt du auch wissen, was zuvor mit dir gewesen ist.
Nein, das weiß ich nicht. Die Bank und Ihr und Donate, das ist das letzte, worauf ich mich besinnen kann. Nur zuweilen träumt mir's als wäre ich plötzlich wieder zu Hause, dann finde ich mich auf der allergrünsten Wiese, die ganz mit Blumen bedeckt ist – so grün und blumig habt Ihr nie eine gesehen – und da spiele ich selig mit hundert Geschwistern, die alle so schön und noch schöner sind als mein Schwesterlein. Sie tragen Kränze um die Stirnen und tanzen und singen, wie ich's Euch nicht beschreiben kann.
Hundert Geschwister! Da lügst du ja, Donatus.
Ich sage nicht, daß es Wahrheit sei, Ahne, es ist geträumt. Eine wunderschöne Frau geht in herrlichen Gewändern, eine Krone auf dem Haupt, vorüber. Wenn ich sie sehe, weiß ich auf einmal, daß ich wieder im Vaterhaus bin. Und beim Erwachen tönt mir jedes mal ein Ruf in die Ohren: Hüte dich vor Ungehorsam!
Jetzt sehe ich wohl, daß du uns verlassen willst und dein Vaterhaus suchen, sobald du vollends erwachsen bist, sagte die Ahne betrübt.
Wenn mein Schwesterlein bei mir bleibt, so bleibe ich bei ihr, antwortete der Knabe. Sobald wir groß sind, muß uns der Vater zwei Klausen bauen, hoch oben im Walde. Da wollen wir nebeneinander hausen als Einsiedel und Einsiedelin und wollen den ganzen Tag singen und musizieren und mit den Waldvögeln den Schöpfer lobpreisen.
Als der eitle Pächter diese Zukunftswünsche seines Sohns vernahm, lachte er und sagte:
Meine Tochter muß einen Grafen heiraten, denn eine Schönere wird es im ganzen Land nicht geben. Und der Bub muß ein großer Gelehrter werden, wie ich einer geworden wäre, hätte ich nicht schaffen müssen fürs liebe Brot. Oder meinetwegen ein großer Geigenspieler, der vor Königen und Kaisern spielt und von ihnen Seide und Edelsteine zur Verehrung erhält.
Darum gab er auch gerne seine Erlaubnis, als der Sohn ihn bat, das Orgelspiel erlernen zu dürfen. Der Organist aber wußte nicht, wie ihm geschah, als der Knabe, den er unterweisen sollte, sich an die Orgel setzte, die Pedale trat und die Register zog, als ob er niemals etwas anderes getan hätte. Er spielte ganze Choräle auswendig, wie der arme Organist nie hatte spielen hören, und es schien dem dörflichen Musikus, als vernehme er Musik aus anderen Welten. Von da an mußte bei jedem feierlichen Anlaß Donatus die Orgel spielen, und von weit und breit kamen die Leute in das Kirchlein von Disensaß, um ihn zu hören. Viele Leichtsinnige und Lasterhafte ließen sich durch sein Orgelspiel bekehren, daß sie in sich gingen und ein besseres Leben führten. Solche aber, die zuvor schon von dem Irdischen abgewandt waren, wurden von so tiefer Sehnsucht nach ihrer besseren Heimat ergriffen, daß sie ihr Haus bestellten und sich zu einem seligen Ende bereiteten.
Donate war jetzt schon zur Jungfrau erwachsen und, wie ihr Vater vorher gesagt hatte, die Schönste landauf, landab. Sie blühte wie eine junge Rose. Donatus dagegen war schmal und blaß geblieben, als ob seine Natur nicht so viel vom Erdenstoff an sich zu ziehen vermöchte wie die ihrige.
Eines Abends waren sie wieder wie in der Kinderzeit auf der Waldblöße beisammen. Donatus hielt eine selbstverfertigte Zither in der Hand, fuhr durch die Saiten und sang:
Weiß nicht, wo meine Heimat ist,
Weiß nicht, wohin ich geh.
Nach dem blauen Himmelssaale
Tut mir das Herz so weh.
Wenn ich ein kleiner Vogel wär',
Flög' ich auf und hätte Ruh.
Ich wünsche mir zwei Flügel,
Schwester, was du?
Das Mädchen saß und sang ihm entgegen:
Ein Paar rote, rote Schuh
Mit seidenen Fransen
Und ein Schappel dazu,
Mit dem schönsten Ritter zu tanzen.
Da ließ Donatus vor Schreck die Zither fallen und sagte:
So hast du mich nicht mehr lieb, daß du an einen Ritter denkst und an seidene Zotteln und Troddeln und an lauter Dinge die dir nicht anstehen.
Wohl habe ich dich lieb, Donatus, antwortete die Schwester, aber wie mir ist, das kann ich dir nicht sagen, denn du verstehst es nicht. Ich habe eine Unrast in mir, daß ich nirgends froh werde. Meine Füße zucken und möchten tanzen, meine Arme strecken sich von selber aus, ich weiß nicht, nach was, und das Herz tut mir so weh wie dir, aber nicht nach dem blauen Himmelssaal mit allen seinen Wolken und Engeln, sondern nach etwas, das man fassen und halten und an sich drücken kann.
Schwesterlein, bat der Knabe dringlich, zieh mit mir hinauf in die Klause, die ich dir und mir hoch droben im Walde bauen will. Sieh, ich hab' auch eine Geige und einen Bogen dazu, und ich weiß dir schöne Tänze zu spielen, nach denen du tanzen kannst, daß es die Engel freut.
Aber das Mädchen sagte:
Du verstehst mich nicht, stand plötzlich auf und ging weinend hinweg.
Donatus suchte die Ahne auf und sagte zürnend:
Was habt Ihr mit meiner Schwester gemacht, daß sie ihr Herz von mir abgekehrt hat, während ich auf des Vaters Befehl über den Büchern saß oder die Orgel spielte um die Menschen zu trösten?
Lieber Donatus, sagte die Ahne, was mit deiner Schwester vorgeht, das ist von Gott geordnet, niemand kann dazu. Heißt es nicht: Du sollst Vater und Mutter verlassen und dem Manne anhangen? – Sie ist jetzt in die Jahre gekommen wo sich das erfüllen muß, und darum kann sie an euren Kinderspielen keine Freude mehr haben, sondern wie die Tierlein im Wald, wenn es Frühjahr wird, so möchte auch sie sich ihr Nest bauen.
Nun saget mir, Ahne, ist schon ein Freier um sie gekommen und hat man sie ihm zugesagt?
Es ist schon mancher gekommen, doch war noch keiner deinem Vater gut genug. Jetzt aber will er, daß sie zum Tanz unter die Linde gehen soll mit seidenen Schuhen und goldenen Halskettlein, damit es alle sehen, daß sie die Schönste ist landauf, landab. Dann werde sich, sagt er, der rechte Freiersmann zeigen.
Donatus betrübte sich schwer, daß die jungen Bursche sein Schwesterlein bei der Hand fassen und im Kreise drehen sollten, die doch zuvor nur mit ihm die himmlischen Wiesentänze getanzt hatte, und wenn er sich gar vorstellte, daß sie einem als Eheweib folgen sollte, so riß es ihm geradezu das Herz in Stücke.
Die alte Ahne suchte ihn zu trösten, indem sie sagte, daß bald auch für ihn die Zeit des Nesterbauens kommen werde, daß er darum über seine Schwester sich nicht grämen dürfe, weil die Mädchen zur Liebe früher reif würden als die Knaben.
O Ahne, was redet Ihr? antwortete Donatus. Nie könnte ich eine andere an meiner Seite haben als meine Schwester. Mit ihr bin ich gewesen seit meinen ersten Schrittlein, an sie habe ich einzig gedacht alle Tage meines Lebens und werde auch ferner nur ganz allein an sie denken.
Die Alte hielt ihm entgegen, daß es Sünde sei, mit solchem Übermaß von Liebe an der eigenen Schwester zu hangen.
Ihr könnt ja nimmermehr Mann und Frau werden, sagte sie, denn wenn man auch nicht weiß, woher du gekommen bist, so seid ihr doch in derselben Wiege gelegen, habt von einer Amme getrunken und seid aufgewachsen wie Zwillinge. Auch seid ihr euch von Angesicht ähnlicher als irgendein anderes Geschwisterpaar.
Nie ist es mir in den Sinn gekommen, daß wir Mann und Frau werden könnten! Aber als Einsiedel und Einsiedelin droben im Walde zu leben und gemeinsam Gott zu dienen, das denke ich mir so schön, daß ich gar nichts Schöneres auf Erden wüßte.
Siehe, es wäre eine große Sünde, sagte die Alte, wollte Donate Gott dienen mit irdischen Gedanken im Herzen, und leicht möchte sie darüber in die Fallstricke des Satans verwickelt werden, ohne daß du sie retten könntest. Laß du sie ihre Wege gehen und gehe du die deinigen.
Darüber geriet der Knabe in immer größere Bestürzung und wußte nicht mehr, wo aus noch ein. Am meisten peinigte es ihn, daß seine große Liebe zu der Schwester, die doch bis jetzt etwas Heiliges gewesen und sein ganzes Herz erfüllt hatte, nun auf einmal eine Sünde sein sollte. Er suchte seine Gedanken ganz von der irdischen Schwester ab und zu seinen himmlischen Geschwistern im Wolkensaal hinzuwenden, aber es ging ihm wie einem in der Schlinge verfangenen Tier, dem je mehr es sich loszureißen strebt, der Strick sich nur desto fester zuzieht. Am Ende suchte er seinen Beichtvater auf und sagte ihm alles, was ihn bedrängte. Nur daß ihn fahrendes Volk vor die Tür des Pächters gelegt hatte, verschwieg er, wie die Ahne ihm gebot.
Der Priester aber war so sehr an die menschliche Gebrechlichkeit gewöhnt, daß er des Knaben reines Herz nicht erkannte, sondern ihm mächtig ins Gewissen redete, weil sündhafte Liebe zur eigenen Schwester eine der allerschwersten Vergehungen sei. Er legte ihm gar harte Bußübungen und Fasten auf, um sich des Versuchers zu erwehren.
Da erbaute sich Donatus eine einsame Klause im Waldgebirge und nahm nichts mit sich als seine Geige. Dem Vater, der ihn zurückholen wollte, sagte er, daß ihm dieses auferlegt sei, und die Schwester ließ er gar nicht zu sich. Die Speisen, die man ihm hinaufschickte, verteilte er unter das Waldgetier, das beständig um seine Klause her war. Er selber nährte sich nur sparsam von Wurzeln, die er aussog und wegwarf. Wie er nun sein Leibliches mehr und mehr schwinden fühlte, wurde seine Pein geringer, ohne daß seine Kräfte nachließen, denn er konnte halbe Tage lang mit sicherer Hand zu Gottes Ehre den Fiedelbogen führen. Einmal aber, als er über Tag am Boden liegend eingeschlafen war, schien es ihm, als ob eine schöne, von Licht umflossene Frau über seine Schwelle träte und mit leisem Vorwurf aber doch ganz demütig zu ihm spräche:
Donatus, willst du jetzt nur noch an dein eigenes Hell gedenken und derweil deine Taube in den Krallen des Geiers lassen?
Da erschrak er und verstand gleich, was die Gestalt ihm sagen wollte. Er raffte sich auf, nahm seine Fiedel und verließ die Klause. –
Unterdessen war ein vornehmer Gast in seinem Vaterhause eingekehrt: ein junger Ritter, der mit einer Gesandtschaft des Kaisers nach Welschland gezogen und dort von der Nachricht überrascht worden war, sein Vater, der alte Graf von Strieteck, habe das Zeitliche gesegnet und ihn als einzigen Erben seiner Güter und Würden hinterlassen. Jetzt befand sich der junge Graf auf dem Heimweg, um in seine Rechte einzutreten. Vom Dorfe wo er nächtigen wollte hatte man ihn nach dem wohlhabenden Pächterhause gewiesen, da die dörfliche Herberge höchstens für seine Pferde, Hunde und Knechte gut genug sei. Der Pächter Andres hatte den Herrn mit Freuden aufgenommen und ihm durch sein schönes Töchterlein die beste Kammer des Hauses bereiten lassen. Kaum daß der Ritter dieser engelgleichen Schönheit ansichtig geworden, die alles überstrahlte, was er in Welschland an schönen Frauen und Mägdlein gesehen hatte, so stand er auch schon in lichten Flammen, von denen der Funke alsbald in das unbewachte Blut Donates übersprang. Es hätte nicht einmal der schmeichelhaften und verführerischen Reden bedurft, mit denen er das unwissende Landkind betörte, seine schöne Gestalt und Haltung, worin sich die Kühnheit des Kriegsmanns mit dem vornehmen Anstand des Hofherrn paarte, genügte schon, ihren Sinn ganz und gar zu verstricken. Der Pächter schwamm auf den höchsten Wogen geschmeichelter Eitelkeit, das vermeintliche Ritterblut regte sich wieder in ihm und veranlaßte ihn zu einem geschraubten Betragen und erhöhter Redeweise, die der Gast aus Höflichkeit für voll gelten ließ und im stillen belachte. Andres aber, der wohl den Faden bemerkte, der zwischen seiner Tochter und dem Fremden angesponnen war, fühlte sich schon als Schwiegervater eines großen Herrn und genoß im voraus die Entzückung, sagen zu können: Meine Tochter, die Gräfin Strieteck. Er leistete den zwei Verliebten im stillen jeden Vorschub, denn seit dem ersten Eintritt des Grafen in sein Haus erwartete er steif und fest, daß dieser um die Hand Donates anhalten werde. Der Graf aber dachte nichts dergleichen. Sein Vater hatte ihm ein Edelfräulein aus der Verwandtschaft ausgesucht, die zwar keine so große Schönheit wie Donate, aber eine wohlgestaltete Jungfrau und eines Marschalls Tochter war, und die beabsichtigte er nach seiner Rückkehr heimzuführen. Von dem schönen Pächterskind aber erhoffte er einen süßen Minnelohn im Vorübergehen, wie der Wandersmann sich einen frischen Zweig auf den Reisehut steckt, mit dem er sich eine Zeitlang in der Sonnenglut die Stirne kühlt, bis er ihn wieder wegwirft. Er wußte es einzurichten, daß seine Knechte ihm meldeten, die Pferde seien übermüdet und das Leibroß habe einen Satteldruck, der ein mehrtägiges Verweilen nötig mache, worüber der Pächter eine lebhafte Freude bezeigte. Und auch Donate, obgleich sie die Augen niederschlug, verriet durch Erröten und Erblassen, was bei diesem Aufschub in ihr vorging. Der junge Graf stellte sich als ob er die Gastfreundschaft zu mißbrauchen fürchtete, ließ sich aber nach einigen Umständen durch den Pächter nötigen. Nur die alte Ahne witterte Unheil und suchte, da sie dem heftigen Schwiegersohn nicht geradehin widersprechen mochte, ihn durch allerlei sprichwörtliche Anspielungen und goldene Regeln zur Besinnung zu bringen. Aber sie erreichte bloß, daß er die Geduld verlor und sich jeden Zweifel an des Gastes redlichen Absichten als Beleidigung gegen sich selbst verbat. Und als sie ihm schließlich vorhielt, daß, auch wenn der Graf es wirklich ehrenhaft meine, ein so ungleicher Bund doch nie zum Segen ausfallen könne, antwortete er barsch:
Ich will meine Tochter lieber tot in einer Grafengruft wissen als lebendig an der Seite eines Bauernlümmels.
Im Dorfe rüsteten sie zu einem Tanz unter der Linde, um die Anwesenheit des Grafen zu feiern. Es versteht sich, daß dieser den Reigen mit der schönen Pächterstochter führen sollte, und er war auch von Herzen dazu willig, obgleich die frische Trauer um seinen Vater ihm die laute Lustbarkeit hätte verbieten müssen. Donate fühlte zwar wohl, daß er damit wenig Herz verriet, weil es aber um ihretwillen geschah, fand sie den Mangel an Sohnesliebe verzeihlich und zitterte dem Augenblick gegen, wo des Ritters Arm sie umfassen sollte. Sie besaß Gewänder wie ein Edelfräulein, auch die seidenen Schuhe die sie sich wünschte waren ihr vom Vater längst beschafft worden. Das Schappel, das sie ohne bergenden Schleier auf ihr geringeltes Goldhaar setzen sollte, hatte ihr der Ritter selber überreicht, nachdem er zuvor einen von Diamanten umgebenen Rubin von hohem Werte zwischen den Blumen befestigt hatte, womit er sich gleichsam im voraus von seinen Verpflichtungen loszukaufen gedachte.
Donate hatte dabei kein Arges, sie glühte vor Lust, als sie an seiner Hand zum Tanze antrat. Ihr Angesicht war unter dem Schappel so strahlend schön, daß den Grafen nun doch eine Art von Ehrfurcht überschlich und er dachte: Wie schade, daß sie kein Edelfräulein ist, sie wäre wirklich wert Gräfin von Strieteck zu werden. Er führte sie auch, obwohl jeder Blutstropfen in ihm sich entzündete, so zart und sittig daher und drehte sie mit so feinem Anstand, als ob sie die Tochter des Kaisers wäre, indessen die Bauern um ihn her johlten und ihre derben Tänzerinnen umschwenkten, daß die Röcke flogen, sie auch zuweilen recht unziemlich in die Höhe warfen.
Als die Lust am wildesten war, erschien Donatus. Der Anblick seiner herrlichen Schwester an der Hand des Versuchers verursachte ihm einen solchen Riß im Herzen, daß er auf der Stelle zu sterben meinte. Er hätte ihr am liebsten das Schappel mit dem blutroten Rubin abgerissen und es dem Grafen an den Kopf geschlagen, aber er besann sich eines besseren, denn es ging ihm mit einem Male auf, wozu er die Geige mitgenommen hatte.
Er trat zu den erhitzten Bläsern und Trommlern, die einen gar unheiligen Lärm verführten, und sagte: Ihr wackern Musikanten seid gewiß müde und durstig geworden. Gehet jetzt und letzet eure Kehlen, während ich euren Platz einnehme. Ich bin ganz allein genug, diesen Tänzern und schönen Tänzerinnen aufzuspielen.
Die Musikanten ließen sich's gesagt sein, stellten ihre Instrumente ab und mischten sich unter die zechenden Bauern. Donatus legte seine Fiedel gegen die Wange und probierte die Saiten, während sich neue Paare aufstellten. Dann spielte er einen munteren, doch nicht ausgelassenen Tanz, danach alle sich in ehrbarer Fröhlichkeit drehten. Bald aber verlangsamte er sein Tempo, daß die rohen Gesellen abfielen und nur noch die gesitteten Paare sich dem gemessenen Takte anzupassen wußten. Der Graf und Donate meinten sich auf Cherubsfittichen zu wiegen, ein so flügelleichtes Schweben, eine so himmlische Süße brachte der Geiger in die neue Tanzweise. Er stand und führte unermüdlich den Bogen, in dem langen faltigen Gewande glich er einer der geigenden Engelsgestalten, die man auf alten Bildern sieht. Immer schmelzender, herzbewegender wurden die Töne, durch seine langgezogenen Weisen klang es wie sehnsüchtiger Nachtigallenschlag, und der Ritter fühlte beseligt, wie sein brennendes Verlangen in zarte aber unbezwingliche Sehnsucht überging, und wie die Liebe, die nur in seinem Blut getobt hatte, sich jetzt seines Herzens und all seines Denkens und Wollens bemächtigte.
Wollet Ihr mein Weib sein, allerschönste Jungfrau? fragte er.
Sie drückte stumm seine Fingerspitzen, die in den ihrigen lagen. Da trat er mit ihr aus den Reihen der Tänzer, führte sie vor ihren Vater und bat den hochbeglückten aber keineswegs erstaunten Pächter in aller Form um ihre Hand.
Werdet Ihr sie immer halten, wie es meiner Tochter und Eurer Gemahlin zukommt? fragte dieser mit Würde.
Der verliebte Graf beteuerte mit seinem Ritterwort, daß er sie stets als seine Gemahlin ehren werde, sie solle wie sein Augapfel behütet sein, und kein rauhes Lüftchen werde sie je mit seinem Willen berühren.
Da wurde mit Schall die Verlobung verkündigt, und der unglückliche Donatus erkannte mit zerbrochenem Herzen, daß er seine Schwester zwar gerettet hatte, aber nicht so wie er hoffte. Er hatte der irdischen Liebe mit seiner Musik die höchste Weihe gegeben, sie in himmlische zu wandeln hatte er nicht vermocht.
Da der Ritter seine Weiterreise nicht verzögern durfte und keine Trennung von dem Gegenstand seiner glühenden Sehnsucht ertrug, wurde ihm das Pächterskind unverzüglich in der Dorfkirche angetraut. Erst beim Abschied sahen sich die Zwillinge weder, und in all ihrem Glück ward es der Neuvermählten nun doch schwer ums Herz, daß sie sich von dem Bruder trennen sollte, der von Kindesbeinen an wie ein Stück von ihr selber gewesen war. Sie weinten beide und wollten sich nicht aus den Armen lassen, bis der Graf dazwischen trat um sein junges Weib aufs Pferd zu heben. Donatus stand noch und sah dem gewappneten Zuge nach, als er längst in der Ferne verschwunden war und auch das letzte Stäubchen sich gelegt hatte. Die Heimat war ihm mit einem Male fremd und leer geworden und es beschwerte ihn fürder das Licht der Sonne zu schauen.
Auch die Ahne konnte den Abschied von ihrem Lieblingskinde nicht verwinden und verging nach Donates Auszug wie ein Lichtlein im letzten Glimmen. Der Zwilling saß mit blassem, immer schmäler werdendem Gesicht an ihrem Lager, und sie redeten viel zusammen, feierliche Dinge die sie noch nie gesprochen hatten. Er vertraute ihr an, daß ihm jetzt seine verlorene Heimat immer deutlicher werde und daß er sich entsinne, wegen eines Fehls verstoßen worden zu sein. Ein hoher silberweißer Mann habe ihn an der Hand hinausgeführt und ihm gesagt: Gehorche denen die dir zu befehlen haben und sei treu bis in den Tod, dann kannst du wieder nach Hause kehren. Und nun wisse er, daß sein Weg ein Bußweg sei und daß er nur durch Abtötung seiner eigenen Wünsche und strenge Unterwerfung unter fremden Willen wieder werden könne was er gewesen.
Die Ahne dachte schon nicht mehr mit irdischen Gedanken, darum antwortete sie nicht, wie sie sonst wohl getan hätte: Du warst ja damals noch viel zu klein zum Sündigen. Ihre Blicke gingen in andere Welten. Sie nickte nur und sagte:
Wohin du gehst, vergiß deine Schwester nicht. Diese Heirat ist nicht ihr Glück, sie wird dich noch sehr nötig haben.
Den Pächter Andres aber ritt der Hochmutsteufel mehr denn je, seit er sich Schwiegervater eines Grafen nennen durfte. Er ließ sich kostbare Edelmannskleider machen, auf denen sein grober Bauernschädel wie ein unförmlicher Kürbis saß, nahm eine neumodische Sprechweise an und wollte keinen Umgang mehr mit seinesgleichen. Da ihm jedoch das Alleinsein nicht schmeckte, beschloß er zum zweitenmal zu freien, aber kein Bauernmensch, wie er sagte, sondern etwas Feines, Städtisches. Er fand auch bald ein zieres Fräulein von der Art, die man die »leichten« nannte, das bereit war die Einkünfte seines Pachthofs mit ihm zu verzehren. Nur daß er sich scheute die Buntschillernde zu der sterbenden Ahne ins Haus zu führen, und auch vor den stillen Augen seines Sohnes war ihm bei der Sache nicht geheuer. Aber es fiel ihm schwer und setzte ihn in böse Laune, dem späten Johannistrieb Zügel anlegen zu sollen. Da bot ihm ein fahrender Schüler, der ihn eines Tages um Zehrung ansprach, willkommene Ablenkung. Er nahm den Fremden im Hause auf, um sich an der Erzählung seiner Abenteuer zu ergötzen und dabei mit Behagen seiner eigenen Vagantenzeit zu gedenken. Der Fahrende aber der ein ganz Geriebener war merkte gleich, was für ein Vogel in diesem prächtigen Gefieder steckte. Er gab sich gar fromm und demütig, wies alle die schmackhaften und reichlichen Bissen die ihm vorgesetzt wurden, dazu auch des Pächters gute Weine, ab und begehrte nichts als ein tüchtiges Stück Schwarzbrot, zu dem er sich einen Becher Wasser am Brunnen schöpfte. Um den Grund solcher Kasteiung befragt, gestand er mit vielem Seufzen und kummervollem Augenaufschlag, daß er als junges Blut in den Hörselberg geraten sei und daselbst viele Jahre mit Frau Venus, der allerschönsten Teufelin, in immerwährendem Schwelgen und Prassen verbracht, auch viele verbotene Zaubereien von ihr gelernt habe. Als ihm endlich Übersättigung, Reue und Heimweh die Mittel zur Flucht eingegeben hätten, da sei er gleich nach Rom gepilgert um sich dem Papst zu Füßen zu werfen. Von dem Heiligen Vater, der, seitdem es ihm mit dem Stabe des Ritters Tannhäuser so mißlich ergangen, sich gegen die Gäste des Venusberges einer ganz besonderen Milde und Nachsicht befleißige, sei ihm auch gleich die Absolution erteilt worden, jedoch mit dem Gebot, fünf Jahre lang bei Wasser und Brot zu fasten. Diese Zeit wäre ja nun seit geraumer Frist verstrichen, er habe aber der Buße aus freien Stücken weitere fünf Jahre zugelegt, um nicht nur das Vergangene gutzumachen, sondern sich auch darüber hinaus ein Verdienst im Himmel zu erwerben. Er unterbrach seine Rede häufig durch Seufzer und kleine Stoßgebete, und bei der Nennung des Venusbergs bekreuzte er sich jedesmal. Wenn er fertig war, senkte er sein Haupt und sagte mit singender Stimme die paar lateinischen Vokabeln her, die ihm aus der Schulzeit in Erinnerung waren, und wenn ihm keine einfielen, so erfand er schnell etwelche neue feierlich klingende Worte die keinen Sinn hatten, von seinem Wirt aber für besonders kräftige Sprüchlein gehalten wurden.
Der Pächter Andres war abergläubisch und zugleich mißtrauisch wie ein richtiger Bauer. Da er des Schülers glattes Gesicht und sein glänzend schwarzes Haar nicht mit seiner Lebensgeschichte reimen konnte, erkundigte er sich, wie alt sein Gast denn eigentlich wäre.
Das ist leicht ausrechnen, antwortete dieser. Ich war ein Jüngelchen von siebzehn Jahren, als ich mich von der Sinnenlust umstricken ließ und in den Hörselberg ging. Dort schwanden mir fünfzig Jahre wie ebensoviel Tage und ich kam als derselbe Flaumbart wieder heraus, während meine Altersgenossen unterdessen eisgraue Großväter geworden waren. Wenn ich jetzt noch die ersten fünf Bußjahre und die drei weiteren, die unterdessen verflossen sind, dazuzähle, so schätze ich meine gelebten Jahre nach gewöhnlicher Berechnung auf fünfundsiebenzig. Weil aber die Zeit im Hörselberg mir durch Gottes besondere Gnade abgezogen und als nicht gelebt betrachtet ist, so habe ich, wie Ihr mich hier seht, in Wahrheit nicht mehr als fünfundzwanzig Jahre auf dem Rücken.
Schnell faltete er die Hände und murmelte eifrig: Mensae, mensarum, mensis. Habeo habes habet.
Die Erzählung leuchtete dem Andres ein, und da er nun etwas Festes hatte, woran er sich halten konnte, glaubte er auch alles, was der Schüler fernerhin vorbrachte.
Den schönen Ring an Eurem Finger habt Ihr wohl aus dem Venusberg mitgebracht? fragte er.
Der Fahrende betrachtete mit Andacht den kunstvollen Ring, den er einst in Welschland einer allzu gläubigen Wittib abgenommen hatte, und antwortete:
Nein, Herr, ich habe keins der unheiligen Kleinodien aus dem Venusberg heraufgebracht, solche wären ja auch gleich am Sonnenlichte zergangen. Diesen Ring gab mir Unwürdigem unser allergnädigster Herr und Kaiser selbst, als ich in Mailand die große Gnade hatte, ihm meine krause Lebensgeschichte zu erzählen. Der Ring aber war die Belohnung für einen wichtigen Dienst, den ich ihm kraft der im Venusberge erlernten Magie – gelobet sei unser Herr Jesus Christ! unterbrach er sich und schlug ein Kreuz – erweisen konnte. Ansas paransas, Babula Babulorum.
Die Magie des Gastes begann nun gewaltig im Hirn des Pächters zu rumoren, und er hätte ihm gerne etwelche Zauberformeln zur Erlangung von Geld und Ansehen abgefragt, allein der Schüler verriet nichts weiter und sagte nur, Magie sei eine schwere Sache und ihre Ausübung nur für höhere Zwecke, nicht für eigenen Vorteil erlaubt. Und wieder schloß er seinen Satz mit sonderbaren, feierlich klingenden Worten, so daß der andere vor des Gastes Gelahrtheit und Frömmigkeit allmählich ganz verzagt wurde.
Aber in seiner Seele erwachte jetzt der brennende Wunsch, seinen Sohn derselben Wissenschaften und Künste teilhaft zu sehen, und er dachte sich den Knaben schon als kaiserlichen Rat im schwarzsamtenen Talar mit einem güldenen Kettlein auf der Brust. Er meinte, wenn er nur den Schüler überreden könnte, Donatus mit sich zu nehmen und zu unterrichten, so hätte er seinem Sohne den Weg zu den höchsten Ehren eröffnet. Er selber aber könnte sich ungestört des neuen Glücks erfreuen.
Der Gast hatte seit seinem Eintritt ins Haus nichts anderes im Auge gehabt, als wie er des Donatus habhaft werden könne, von dessen wundersamem Geigenspiel er sich großen Gewinn versprach. Er nannte sich einen »Beanus« das bedeutet einen älteren fahrenden Schüler, der die jüngeren Schüler zu unterrichten und für den Besuch der Hohen Schule vorzubereiten hatte. In Wirklichkeit war er einer von den landstreichenden falschen Klerikern, die, selbst zu früh der Schule entlaufen, auf den Fang von jungen Knaben ausgingen, anscheinend um sie zu Schülern auszubilden, tatsächlich um sie zum Betteln, wenn nicht zu Schlimmerem, zu verwenden und sich durch sie verhalten zu lassen. Als er sein Ziel so unerwartet nahegerückt sah, stellte sich der Schalk bedenklich, sprach von der großen Verantwortung, die man vor Gott und Menschen trage, wenn man sich zum Führer und Erzieher einer jungen Menschenseele mache, durch welche Gewissenhaftigkeit er den Pächter nur noch mehr überzeugte, vor die rechte Schmiede gekommen zu sein.
Sie wurden am Ende einig, der Pächter zahlte dem Fahrenden zu dessen stillem Frohlocken das Lehr- und Zehrgeld für zwei Jahre im voraus, und jener übernahm es dagegen, den Knaben in allem, was er selber wisse, treulich zu unterrichten und ihn auf die Hohe Schule nach Wien zu bringen, daß er daselbst den Magister- und später den Doktorgrad erlange. Der Pächter ließ dagegen seinen Sohn in die Hand geloben, dem Beanus in allen Dingen zu gehorchen, als ob er sein Vater wäre, auch wenn er Dinge sähe, die er nicht verstände, sich mit keinem Worte zu beschweren noch aufzulehnen, denn diese Bedingung hatte der Beanus gestellt.
Und eines Morgens zog Donatus an der Seite des Fahrenden aus, seine Geige wohl eingehüllt im Arm, sein kleines Bündel auf den Rücken geschnürt und die gleichfalls leichte Habe des Beanus, die ihm dieser aufgeladen hatte, in der Rechten tragend. Der guten Ahne hatte er zuvor die Augen zugedrückt.
Solange man sich noch in der Nähe von Disensaß befand, hielt der falsche Beanus sich ernst und ehrbar, je mehr aber die Entfernung wuchs, desto weniger Zwang legte er sich auf, und als sie die schöne Stadt Graz erreichten, da hielt es das Geld des Pächters im Beutel des Fahrenden nicht länger aus. Er spürte ordentlich, wie es in seiner Tasche hüpfte um wieder heraus und unter die Leute zu kommen, beschloß also ihm seinen Willen zu tun und ließ sich mit seinem jugendlichen Begleiter im Gasthaus zum »Goldenen Engel« nieder um nach der ausgestandenen Kasteiung seinen Leib zu pflegen. Für Donatus sorgte er nur soweit, als er ihn in der Kammer eingeschlossen hielt und ihm eine kärgliche Kost reichen ließ. Der aber fragte wenig nach leiblicher Nahrung, er holte die Geige hervor und ließ sie leise, leise von seiner goldlockigen Schwester erzählen, daß immer der eine oder der andere von den Gästen des Hauses verzückt am Schlüsselloch stand um hineinzuhorchen, und in der ganzen Stadt ging die Rede, im "Goldenen Engel" sei ein wirklicher Engel abgestiegen.
Der Fahrende aber konnte es in der Herberge nicht lange treiben. Das Gold das er springen ließ zog ihm Gesellen zu die ihn zum Würfelspiel verleiteten und darunter befand sich einer von seiner eigenen Gilde, der ihm in Künsten überlegen war und sich bald im Besitz des für Donatus empfangenen Zehrgeldes befand. Als der betrogene Betrüger nichts mehr hatte, sah er sich samt seinem schönen Schützling vor die Tür gesetzt. Für diesen begann jetzt eine Zeit des tiefsten Elends. Der Gaukler schleppte ihn kreuz und quer durchs Land und zwang ihn, vor den Türen der Städter wie in den Dorfschenken und Bauerngehöften mit der Geige um Speise und Trank zu betteln. Die Spenden die er erhielt nahm ihm unverzüglich sein gaunerischer Beschützer ab, der ihm von allem nur den Abfall überließ. Mit Bedacht entfernte sich der falsche Beanus immer weiter von der Heimat seines Zöglings, damit dieser keine Gelegenheit fände, seinem Vater Botschaft zu senden. Ebenso trug er Sorge, sich von den Grenzen des Strieteckers ferne zu halten. Er glaubte zwar nicht, daß die Pächterstochter Gräfin von Strieteck geworden sei, wie ihr Vater ihm ruhmredig erzählt hatte, wohl aber, daß die schmucke Dirn von dem Grafen als sein Liebchen hinweggeführt worden sei, und dies schien ihm Grund genug zur Vorsicht. Er hütete sein Opfer wie eine Henne ihr Küchlein und kündigte ihm hundertmal unter den gräßlichsten Schwüren an, daß er ihm beim ersten Fluchtversuch alle Knochen zermalmen wolle. Dieser Drohungen bedurfte es gar nicht, denn Donatus hätte sich gescheut sein Gelöbnis zu brechen, wäre auch unter dem Habit des Fahrenden ein Pferdefuß zum Vorschein gekommen. Die mich auf diesen Bußweg gesandt haben, sagte er sich, werden auch wissen, wann es an der Zeit ist meine Leiden zu endigen. Nur von seinem Schwesterlein sprach er fortan nicht mehr mit der Geige, denn er schämte sich in seiner Entwürdigung an die schöne Jugendzeit zurückzudenken.
Dem Fahrenden lag aber die Gaukelei dermaßen im Blute, daß er es bald satt hatte, dem frommen Geigenspiel seines Opfers allein den Unterhalt zu verdanken. Sobald irgendwo ein Jahrmarkt abgehalten wurde, zog er schleunigst mit Donatus hin, kündigte sich mit großem Trara als Zauberkünstler an, verkaufte das Lebenselixir und den Stein der Weisen und versprach den unwissenden Landleuten für sie die Zukunft zu erforschen oder gestohlene Gegenstände wieder ausfindig zu machen. Wenn er einen Gimpel fand der ihm glaubte, so zeichnete er mit Kohle einen magischen Kreis auf den Boden, stellte sich mitten hinein, fuhr mit den Armen durch die Luft und sprach mit unsichtbaren Geistern in einer unverständlichen Sprache. Der unglückliche Donatus mußte daneben stehen und das schnöde Gaukelwerk mit der echten ü Wunderkraft seines Spiels begleiten. Der Jüngling hatte, seit er mit dem Beanus umherzog, den Mund nicht mehr zum Sprechen geöffnet, was jenem sehr erwünscht war, denn er gab ihn für einen Stummen aus und hielt ihn dadurch von jeder Berührung fern. Der Gequälte stand mit geneigten Schultern und geschlossenen Augen, die Wange so fest an seine Fiedel gepreßt, als möchte er sich vor Scham in ihrem Gehäuse verkriechen, und sandte seine schmerzvolle, zitternde Klage zum Himmel, die allen Hörern das Herz ergriff, daß sie nur um so williger in das Netz des Betrügers liefen. Dieser gab dann mit dreister Stirn seine Sprüche von sich, als hätte er sie eben aus Geistermund empfangen, richtete sich aber vorsichtigerweise so ein, daß die Lügen erst entdeckt werden konnten, wenn er mit dem Gelde der Gefoppten schon auf anderem Boden war.
So trieb er's wohl ein halbes Jahr und länger, und die Kunde von dem Zauberkünstler und seinem himmelschönen geigenspielenden Begleiter flog über alle Lande. Sie flog auch auf die Burg Strieteck, wo der kurze Glückstraum des Pächterkindes schon zu Ende geträumt war. Die schöne Gräfin von Strieteck ging zwar noch in Gold und Perlen, aber das Herz ihres Gemahls war ihr bereits entglitten. Noch in der Zeit des ersten Wonnetaumels, ja schon auf der Reise selbst, stieß den Grafen zuweilen ein plötzliches Besinnen an, wie es denn eigentlich bei seiner raschen Heirat zugegangen sei, denn er wußte ja recht wohl, daß er noch im Augenblick, wo er mit Donate in den Reigen trat, nicht daran gedacht hatte eine unebenbürtige Gemahlin nach Hause zu bringen. Er wußte auch, daß die Wandlung erst in ihm stattgefunden hatte, als ihr Bruder mit seiner Geige auf den Plan trat. Und oft versank er in Grübeln, was wohl in dieser Geige für ein Zauber gesteckt habe. Doch drängte damals noch das Liebesfieber solche Grillen rasch wieder zurück. Er sah ja wohl, daß er sich seiner jungen Gattin nicht zu schämen hatte. Das Gesinde staunte ihre Schönheit an, als käme sie aus einer anderen Welt. Die Gäste, mit denen er sich zu umgeben liebte, huldigten alle der schönen Schloßherrin, die Männer in aufrichtiger Bewunderung, die Frauen mit lauter Schmeichelei und mit heimlichem Neide. Wer sich am eifrigsten um Donates Freundschaft bewarb, das war Sindgund, jenes Mühmchen, das ihm einst als Braut zugedacht war, und den Grafen rührte ein so großer Beweis von Anhänglichkeit und selbstloser Güte. Ihre Mutter aber, die verwitwete Marschallin, die lange an dem Heiratsplan gearbeitet hatte, gab ihr Spiel auch jetzt nicht verloren. Sie lobte und pries dem jungen Ehemann seine Wahl aufs überschwenglichste, bis sie ihn von ihrer neidlosen Freundschaft für seine Gattin vollauf überzeugt hatte. Dann begann sie leise zu schwenken und in ihr Lob einen Ausdruck von nachsichtiger Duldung zu mischen. Zwar bedurfte die junge Frau einer solchen nicht, denn sie bewegte sich mit dem Anstand einer geborenen Gräfin, hatte auch bald gelernt ihr Rößlein mit Anmut zu regieren und den Falken zierlich steigen zu lassen, und gar im Gesang und Saitenspiel, das sie von ihrem Bruder gelernt hatte, kam ihr keine gleich. Aber die wohlberechneten Worte der Marschallin ließen doch einen Stachel in des Grafen Seele. Er beobachtete nun seine Gattin, ob sie nichts tue oder sage, was an ihre Herkunft erinnern könnte, und darüber wurde sie unsicher und ließ sich wirklich zuweilen einen Mißgriff zuschulden kommen. Dies warf er ihr dann mit einer Schärfe vor, in der bald wenig mehr von der ersten Liebesentzückung zu spüren war. Und kein Kind wollte kommen, den übereilten Bund fester zu knüpfen.
Die Marschallin hatte dem Vertrauenden längst schon in wohlwollender Weise die näheren Umstände seiner Heirat abgefragt. Was er von des Zwillingsbruders wunderbarem Geigenspiel und von der Liebe der beiden Geschwister erzählte, schien sie besonders gerne zu hören, denn sie kam immer aufs neue und mit einem eigentümlichen Nachdruck darauf zurück, der dem Grafen zu denken gab. So brachte das ränkevolle Weib den gewaltsamen aber unbeständigen Mann ganz leise und allmählich in ihre Gewalt und zwang, ohne daß es den Anschein hatte, seine Gedanken in die Richtung, die sie ihnen geben wollte. Die Vorzüge Sindgunds, deren Besitz er verscherzt hatte, traten nun in seinen Augen immer leuchtender hervor, während seine Gemahlin ihm nichts mehr recht machen konnte. Auch ihr Hang sich zu schmücken, der ihm anfangs wohl gefiel, schien ihm setzt ein Merkmal ihrer niederen Herkunft zu sein, denn er erinnerte ihn an die Prunk- und Prahlsucht ihres bäuerlichen Vaters.
Immer stärker regte sich in ihm der Verdacht, daß er einem versteckten Zauberwerk erlegen sei, das mit ihres Bruders Geigenspiel zusammenhänge. Wenn er auch noch solche Stimmen in seinem Innern zu unterdrücken suchte, so sammelte sich doch ein stummer Groll gegen die unglückliche Frau in seinem Herzen an. Und gerade um diese Zeit geschah es, daß durch Gäste die Kunde von dem Gaukler, der in Gesellschaft eines schönen Geigenspielers umherziehe und das Landvolk betrüge, nach Strieteck gebracht wurde. Donate hörte ganz entgeistert zu, denn sie erkannte an der Schilderung augenblicklich ihren Bruder, wenn sie sich auch im entferntesten nicht vorstellen konnte, wie er in eine solche Gesellschaft kam. Aber auch der Graf zweifelte keinen Augenblick, wer der Geigenspieler sei, so unzweideutig waren die angegebenen Zeichen. Er warf seiner Gemahlin einen Blick zu, von dem alle Farbe aus ihren Wangen wich, daß sie fortan marmorweiß blieben.
Am Abend, als sie allein waren, fragte er die ganz zu Eis Gewordene hart und höhnisch:
Nun bekennt mir einmal, schöne Frau, was es mit diesem Bruder für eine Bewandtnis hat, und durch welche Macht Ihr Gräfin von Strieteck geworden seid.
Donate warf sich zu seinen Füßen und schwor bei dem Teuersten, was sie habe, bei seinem eigenen Haupt, daß sie von Zauberei nichts wisse, und daß auch ihr Bruder unschuldig sei, wenn seine Musik den Menschen zu Herzen gehe, er habe das von klein auf an sich gehabt. Wie er aber in die unselige Gesellschaft geraten sei, wisse sie nicht, da sie seit ihrer Trennung nichts mehr von ihm gehört habe. Etwas Schlechtes könne sie auch jetzt nicht von ihm glauben, wie sehr der Schein gegen ihn spreche.
Der Graf wandte sich finster ab, ohne sie vom Boden zu erheben. Und noch in derselben Nacht zog ein Abgesandter von ihm hinaus um die Spur des Fahrenden und seines seltsamen Begleiters zu finden und sie auf Strietecksches Gebiet zu locken. Da wollte der Graf den Geiger unerachtet der Schwägerschaft festnehmen um ihn öffentlich seiner Gemahlin gegenüberzustellen und es dann dem Gottesgericht überlassen, ob ein höherer Arm ihn, ohne daß er seine Eide zu brechen brauchte, von der lästig gewordenen Ehefessel befreie.
Als aber der Vertraute des Grafen die Spur des Beanus fand, hatte die Laufbahn des Gauklers soeben ein jähes Ende gefunden. Er war auf seinen Kreuz- und Querzügen am Ende in die stolze Reichsstadt Augsburg gekommen und hatte seinen Gefährten bei einem der reichsten Kaufherrn spielen lassen. Da war die jungvermählte Hausfrau so von des Jünglings Spiel bewegt worden, daß sie in Tränen schmolz und die Blicke nicht von dem stummen Geiger wenden konnte. Als D geendet hatte, trat sie aus dem Kreis der Frauen heraus und reichte ihm mit eigener Hand einen Labetrunk. Diesen Augenblick benutzte der Gaukler um mit behendem Griff ein kostbares Geschmeide, das zu den Erbkleinodien des Hauses gehörte, von ihrem Halse zu lösen. Das Verschwinden des Kleinods wurde jedoch bemerkt, noch ehe die zwei Fahrenden das Haus verließen. Man begann zu suchen, und alle Anwesenden schüttelten ihre Kleider aus, kehrten auch freiwillig die Taschen um. Nun wußte sich der Dieb nicht mehr anders zu helfen, als indem er das Juwel in die Tasche des nichts ahnenden Donatus schob, der wie immer still und in sich gekehrt dastand. Als der Schmuck aus seinem Gewande hervorgeholt wurde, schlug die Neuvermählte vor Scham und Jammer die Hände vors Gesicht und verließ den Saal. Den Kaufherrn aber hatte zuvor schon das Wohlgefallen seiner Gemahlin an dem fremden Jüngling und jetzt noch mehr ihre Erschütterung beim Anblick seiner Schmach so erbittert, daß er diesen unverzüglich dem Gericht überantwortete, obwohl alle Gäste, von der ruhigen Würde seiner Haltung betroffen, für ihn baten. Auch die Richter fühlten Mitleid, da er aber weder durch Wort noch Zeichen seine Unschuld beteuerte, sondern alles unbewegt über sich ergehen ließ, sprach ihn das Gesetz als überführten Dieb des Todes durch den Strick schuldig.
Der Beanus sollte als der Mitschuld verdächtig und wegen anderer Gaunerstreiche gestäupt, an den Pranger gestellt und dann der Stadt für immer verwiesen werden. Donatus zeigte ein freudiges Gesicht bei der Verurteilung, denn er sehnte sich recht von Herzen zu sterben um endlich von dem Elend seiner Knechtschaft erlöst zu sein. Er betete nur Tag und Nacht, daß seine Unschuld sich nach seinem Tode erweisen und die Schmach des Diebstahls von ihm genommen werden möchte.
Am Tag, da der Wahrspruch vollzogen werden sollte, lagerte eine drückende Schwüle über der Stadt, die männiglich den Atem beklemmte. Gleichwohl war die ganze Bürgerschaft auf den Beinen, denn alle hatten von der wundersamen Schönheit des stummen Geigenspielers gehört und wollten ihn auf seinem letzten Gange sehen, und wo er vorüberkam, wurden Rufe des Bedauerns laut. Er aber schritt vor sich hin ohne umzusehen, als ginge ihn die Erde schon nichts mehr an. Auf dem Richtplatz gab es die Gottesmutter dem Anwalt des Donatus ins Herz, noch eine Bitte für ihn an die anwesenden Magistratspersonen zu richten. Die Sitte gestatte dem Verurteilten, sagte er, vor seinem Ende noch ein Wörtlein zu sprechen, sein Klient aber sei stumm und könne nur durch die Töne seines Instruments reden, man möge ihm also die Geige zurückgeben, damit er noch einmal darauf spiele. Die Bitte wurde gewährt und die Geige kam zur Stelle. Mit stummem Dank empfing sie der Jüngling und drückte sie ans Herz. Dann legte er sie unverzüglich an die Wange und begann ein Ade der schönen, falschen Welt zu spielen. Die holdesten Blumen der Erde blühten in seinen Tönen auf und kristallne Quellen sprudelten darin, dazwischendurch aber schluchzte alle Bitternis des Menschenleids. Dann hielt er mit einer jähen Dissonanz inne und begann danach aufs neue. Jetzt war man hoch über der Erde in einem seligen Raum, wo andere, tausendmal schönere Blumen standen und wo befreite Geister sich in seligem Reigen ineinander schlangen. Die Gnade im Sternengewand schwebte mitten inne, und das sehnsuchtsvolle Gebet schmiegte sich beschwichtigt zu ihren Füßen. Als er geendet hatte, küßte er die Geige, legte sie sachte zu Boden und den Bogen darauf. Dann trat er zu dem Nachrichter um ihm den schönen schlanken Hals darzubieten.
Dem aber zitterten die Hände, und alle Glieder waren ihm eiskalt und wie gelähmt. Ebenso ging es den Knechten, daß keiner imstande gewesen wäre sich zu rühren. Alles Volk stand mit verhaltenem Atem und Stille legte sich über den Raum.
Nur der Beanus, der gefesselt zugegen war, denn das Urteil sollte an beiden zugleich vollstreckt werden, schrie in seinen Stricken: Henket ihn, henket ihn auf der Stelle! Sonst geigt er euch das Herz aus dem Leib und euer Gold in seine Tasche. In dem Schüler wohnt der Böse. Wie oft hab' ich ihn gestraft und vermahnt, es wollte nichts fruchten. Er ist mir nachgefolgt zu meiner Seele Schaden, wohin ich ging, und alles, was ich gefehlt habe, geschah durch den Zwang seiner Teufelsgeige.
Indessen raunte es schon lauter und lauter im Volk: Der Gaukler lügt, er ist selber der Dieb und will sich durch den Tod des stummen Knaben retten. Seht ihr die schweren Wolken, die sich am Himmel sammeln? Dort oben bereitet sich Gottes Gericht.
Doch der Frevler sah Gottes Gericht fern und den Galgen nahe, darum schrie er:
Ich lüge nicht, so wahr Gott mir helfe! Wenn ich lüge, so möge das Feuer vom Himmel fallen und mich verzehren!
Kaum hatte er ausgesprochen, so barst die Himmelsdecke, und mit schmetterndem Krachen fuhr ein Wetterstrahl nieder der alle betäubte. Als sie wieder zu sich kamen, lag der Fahrende tot zu Boden gestreckt mit schwarzem, unkenntlichem Gesicht und zerbrochenen Gliedern. Nach diesem Gottesurteil bedurfte es keines weiteren Beweises für Donatus Unschuld, an die männiglich mit Freuden glaubte. Man wollte ihn mit Ehren in die Stadt zurückführen um ihn als Gast zu pflegen, aber er öffnete zu aller Erstaunen den Mund und sagte:
Ich war niemals stumm, ihr Herren, ich hatte nur meinem Nährvater und Erzieher, dem ich Gehorsam schulde, das Gelöbnis getan, mit diesem Bösewicht, der sich sich einen Beanus nannte, der aber nichts war als ein Betrüger und Landstreicher, zu ziehen wohin er mich führe und nie ein Wort wider ihn zu reden. Das konnte ich nur halten, indem ich niemals den Mund öffnete. Nun der Himmel selber gesprochen hat, ist auch von meiner Zunge das Band genommen. Der über mich gesetzt war, liegt tot, und ich habe meine Freiheit wieder. So entlaßt mich nun, ihr Herren, denn wenn ich nach des Himmels Willen leben soll, so ist es, daß er mir noch ein Werk zu vollbringen auferlegt.
Damit verabschiedete er sich und wanderte zur Stadt hinaus, indem er nichts mitnahm als seine Geige, die ihm überall Zehrung verschaffte.
… Um jene Zeit ließ der Graf von Strieteck eine Jagd ansagen, zu der die vornehme Nachbarschaft geladen wurde. Er bestimmte, daß das feingeschulte Leibrößlein Donates, sein erstes Geschenk an sie und ihr darum doppelt wert, von Sindgund geritten werde, seiner Gemahlin befahl er aber der Jagd ferne zu bleiben und sich vor den Gästen mit einer Unpäßlichkeit zu entschuldigen. Diese Kränkung hatte er sich eigens ausgedacht, um seinen Unmut, daß er des Donatus nicht habhaft werden konnte, an ihr zu kühlen.
Als die Ärmste im Morgendämmern in ihrer einsamen Kemenate die fröhlichen Hornsignale vernahm und das Scharren ihres Rößleins, das statt ihrer die eindringende Nebenbuhlerin tragen sollte, da meinte sie, daß es Bittreres nun nicht mehr für sie geben könne, und sie wünschte sich von Herzen den Tod. Es litt sie nicht in der öden Stille, die auf den lärmenden Auszug folgte. Leise schlich sie sich aus dem Schloß um den Spuren der Pferdehufe im Walde nachzugehen, wo sie leicht den Tritt ihres zierlichen Tieres herausfand und in der daneben laufenden Spur das Jagdpferd des Grafen zu erkennen glaubte. Dann wandte sie sich einem Fußweg zu, der fernab vom Getöse des Jagdgrunds zuerst mit sanfter, dann mit steilerer Steigung nach dem einsamen Wallfahrtskirchlein Maria Trost führte.
In der Waldstille bei Vogelstimmen und huschenden Eichkätzchen wurde ihr leichter, die Krallen, die ihr das Herz zerfleischt hatten, ließen ab von ihr. Sie ging dem Lauf eines wohlbekannten Bächleins entgegen, das hoch oben im Bergwald aus einer tiefen Schlucht hervorbrauste, um dann mit sanfterem Gefäll talabwärts zu rinnen. Diesen Weg war sie oft in den Tagen ihres Glücks mit dem Grafen gegangen, der sich damals nichts Lieberes wußte als im schattigen Waldesschweigen mit ihr ganz allein zu sein. Bis zu dem kleinen Gotteshaus waren sie niemals gestiegen, jetzt aber meinte sie dort oder nirgends den Trost finden zu können, den der Name des Kirchleins verhieß. Nach mehrstündigem Steigen über Geröll und Rasen hörte sie aus der Ferne ein seltsames Klingen, das sich zuerst kaum von dem leisen Blätterrauschen des Waldes unterschied, aber beim Weitergehen vernehmlicher ward und sie mit unwiderstehlichem Zwang zu sich heranzog. Sie versank in Gedanken an ihre glückselige Kinderzeit, vergaß die werdende Stunde und den steinigen Pfad und stieg und stieg. –
Die Marschallin, die ihrer höheren Jahre wegen gleichfalls von der Jagd zurückgeblieben war, hatte das Weggehen der Gräfin wohl bemerkt und einen raschen Plan darauf gebaut. Sie war sich klar darüber, daß der Graf zwar nie zu einer geheimen Beseitigung seiner Gemahlin die Hand reichen, daß er sich aber auch nicht als untröstlicher Witwer erweisen würde, wenn eine fremde Hand sie ihm ohne sein Wissen hinwegnähme. Daher beschloß sie zu handeln, bevor in der Seele des Wankelmütigen ein Umschlag einträte, der ihn in die Arme Donates zurückführen konnte. Sie besaß einen Knecht, dem sie einmal das durch einen Frevel verwirkte Leben gerettet hatte und der ihr seitdem blindlings anhing. Diesem befahl sie jetzt der jungen Gräfin heimlich nachzugehen, sie zu töten und ihr den Perlenschmuck, den sie stets am Halse trug, zu entwenden, damit es den Anschein habe, als sei die Tat des Raubes wegen geschehen. Denn selbst in ihrem Herzweh konnte es Donate nicht lassen, sich zu schmücken und schön zu machen. Der Knecht, dem dieser Auftrag zuwider war, nahm, um Mut zu fassen, einen Spießgesellen mit, auf den er vertrauen konnte. Und die beiden Strolche stiegen der Gräfin nach.
Je näher Donate dem Ursprung der Töne kam, desto mächtiger sprachen sie zu ihrem Herzen. Sie hatte längst erkannt, daß es eine Geige war, was da oben in der tiefen Einsamkeit sang. Als auf einer Tannenlichtung das Kirchlein in Sicht kam und ihr von dorther die Töne unbehindert entgegendrangen, preßte sie in freudigem Schreck beide Hände an den Busen, denn solche herzensbange Klage und ahnungsvolle Erlösung wohnte in keiner anderen Geige als in der ihres Zwillingsbruders. Im Flug eilte sie die Höhe vollends hinan und stieß die Tür des Kirchleins auf.
Vor dem Altar stand, mit dem Rücken gegen den Eingang gekehrt, eine lange, sehr schmale Gestalt in dunklem Gewand, barhäuptig, den von goldgelbem Lockengeringel umwallten Kopf zu der thronenden Gottesmutter emporgerichtet, und strich in tiefer Andacht die Saiten. Sie rief: Donatus! Er wandte sich um, und sie sah in ein Gesicht so abgezehrt und marmorblaß wie das ihre. Die Geschwister flogen aufeinander zu, legten sich gegenseitig die Arme um den Hals, lehnten die Stirnen gegeneinander und weinten beide. Nun schien es Donate, als wäre ihr ganzes Leben zwischen dem letzten heiligen Kuß ihres Bruders und diesem Wiederfinden nur ein wilder, unheiliger, verworrener Traum gewesen.
Auf der untersten Stufe des Altares sitzend, erzählte ihr Donatus, was vor seinem Wegzug zu Hause geschehen war, den Tod der Ahne und des Vaters Gedanken an eine zweite Ehe. Was er selber erlitten hatte, erzählte er nicht, und auch Donate sagte ihm kein Wort von ihrem Elend, dessen Spuren er doch auf ihrem Gesichte las, denn sie schämte sich und wollte auch die Stunde des Glücks nicht durch häßliche Erinnerungen trüben.
Plötzlich stutzte Donatus, denn er hatte vor der Tür ein verdächtiges Geräusch vernommen. Da sein Gehör viel feiner war, als es sonst menschlichen Ohren gegeben ist, vernahm er auch das Gewisper der beiden Spießgesellen:
Sie betet in der Kapellen. – Müssen zuwarten, bis sie außi kimmt, das Gotteshaus darf nit mit Blut verschandelt werden, das könnt' uns teuer zu stehen kommen.
Donates Ohren aber hörten nichts von dem Gespräch, sie vernahm nur das gleichmäßige Brausen des Wasserfalls, der sich weiter oben in die Schlucht stürzte.
Jetzt wußte Donatus, was ihn so mächtig gezogen hatte, daß er seit seiner Befreiung Tag und Nacht gewandert war, um gerade zu dieser Stunde an diesen ihm fremden Ort zu gelangen. Und er rief in stummem Gebet die Gottesmutter an, daß, nachdem sie ihn von schimpflichem Tode befreit, sie ihm nun auch beistehe seine Schwester zu retten.
Du siehst es ja, Barmherzige, flehte er ohne Worte, daß ich allein bin gegen die Zwei und keine Waffen habe als meinen Fiedelbogen. Die aber draußen lauern, sind zwei baumstarke Strolche, mit scharfen Klingen bewaffnet. Wenn du nicht hilfst, so ist mein Schwesterlein verloren.
Doch ehe er noch sein Gebet vollendete, hatte ihm die Gottesmutter schon ins Herz gegeben, was er tun sollte.
Schwesterlein, sagte er, wir haben uns so unerwartet wieder gefunden, nun tu mir eine Liebe, aber frage mich nicht um den Grund. Gib mir die Perlenschnur die du um den Hals trägst und die Samtschaube. Du selber nimm meinen Mantel und Hut und warte hier in der Kapelle, bis ich zurückkomme.
Denn er gedachte seine Not ganz still zu erleiden, damit seine Schwester nichts vernehme und seiner Rückkehr harrend in dem schützenden Gotteshaus bleibe, bis man sie etwa vom Schlosse aus suchen werde. Er machte das Zeichen des Kreuzes über sie und sich, empfahl die Schwester in den Schutz der allergnädigsten Jungfrau, sich selber aber in die Hände des barmherzigen Gottes.
Kaum daß er ein paar Schritte außerhalb der Kapelle war, so traten die zwei Schächer hinter den Bäumen hervor und rissen ihm die Perlenkette vom Hals. Er gab keinen Laut von sich und hielt nur die Schaube fest über der Brust zusammen, daß sie den Irrtum nicht entdeckten. Die beiden Missetäter sahen sich zweifelnd an, sie wagten eine so engelgleiche Schönheit nicht mit Waffen zu verletzen, und da sie doch ihr Amt verrichten wollten, ergriffen sie die vermeintliche Gräfin, schleiften die zarte Gestalt, die keinen Widerstand leistete, nach dem Rande der schaurigen Schlucht und stießen sie hinunter.
In diesem letzten Augenblick seines Erdenlebens ging mit dem Jüngling eine seltsame Wandlung vor: ein Schleier zerriß vor seiner Stirn, daß er endlich sich selbst erkannte und ihm wieder klar bewußt wurde, woher er gekommen war und was er auf Erden gesollt hatte. Sein Leib löste sich in Äther, und während er noch an den Felsen zu zerschellen meinte, schwebte er schon frei über dem Abgrund, denn ein Schwingenpaar hatte sich aus der Umpuppung losgewunden. Der blaue Himmelssaal war aufgetan, er hörte die Seinen rufen. – –
Als der Graf mit Gästen und Jagdgefolge spät zurückkehrte, berauscht von der neuen Liebe und vom Blutgeruch der erlegten Beute, erfuhr er, daß die Gräfin schon seit den Frühstunden aus dem Schloß verschwunden sei. Sein Kummer war klein bei dieser Nachricht, denn er ahnte irgendwie das Walten einer hilfreichen Hand. Doch mußte er sich vor Gästen und Gesinde den Anschein der Bestürzung geben und ging selbst mit Knechten und Fackeln in den Wald, während im Schloß jeder Winkel durchsucht wurde. Natürlich fand sich von der Gräfin keine Spur. Des anderen Tags erfuhr man, ein Köhler habe sie den Weg nach der Bergkapelle einschlagen sehen, und unverzüglich wurde dorthin aufgebrochen. Die Marschallin beteiligte sich eifrigst an den Nachforschungen. Im stillen war sie ihrer Sache sicher, denn der Knecht hatte die Nachricht zurückgebracht, die Gräfin Donate liege in einer tiefen, unzugänglichen, mit Wasser gefüllten Schlucht, wo sie selbst das Auge Gottes nicht mehr entdecken werde.
Als der Graf das Waldkirchlein betrat, lag seine Gemahlin, von einem schwarzen kuttenartigen Gewand umhüllt, zu Füßen des Marienbildes in tiefem Schlaf, der sie gleich nach ihres Bruders Weggang befallen und inzwischen Tag und Nacht fortgedauert hatte.
Ihr erstes Wort beim Erwachen war: Donatus! Hieraus erkannte der Graf, daß die Geschwister, die er durch Berg und Tal getrennt glaubte, hier oben ohne sein Wissen zusammengekommen waren, und sein Groll, der beim Anblick der blassen, schlummernden Frau schon einem milderen Gefühl Platz machen wollte, entbrannte aufs neue. Er fragte barsch, weshalb sie seinem Verbot entgegen das Haus verlassen habe. Sie schwieg, aber ihre Augen, die ängstlich umher nach dem Bruder suchten, verrieten ihm, daß auch in ihrem Herzen mit einem Male die eheliche Liebe erloschen und selbst der Schmerz um die erlittene Kränkung zurückgetreten war vor dem übermächtigen Verlangen nach dem Zwillingsbruder. Nun meinte er dem Eheband keinen Rest von Rücksicht mehr schuldig zu sein. Er ließ mit bösen Gedanken im Herzen die Diener auf Donatus fahnden, den er bestimmt in der Nähe glaubte, weil die Köhlersleute, die den Gang der Gräfin beobachtet hatten, eine ungewohnte Musik von dem Waldkirchlein her vernommen haben wollten. Donate wurde aufs Roß gesetzt, das ein Knecht am Zügel führte, der Graf ritt stumm voraus, die Lippe nagend und im Innern selbst von allen bösen Geistern der Eifersucht, Rachsucht und gekränkten Stolzes zernagt. Von den Gästen waren unterdessen nur die Marschallin und ihre Tochter im Schloß zurückgeblieben, die es für Pflicht hielten, ihrem Blutsverwandten in seinen schweren Stunden beizustehen.
Die Marschallin glaubte zuerst ein Gespenst zu sehen, als Donate im Schloßhof blaß und starr wie ein Marmorbild aus dem Sattel glitt, aber die Nachricht, daß der Zwillingsbruder mit seinem Geigenspiel um den Weg gewesen, und sein Gewand auf dem Leibe der Schwester ließen ihren findigen Geist schnell erkennen, was geschehen war, und daß sie ihr Werk von vorn beginnen mußte. Es galt sich sputen, um eine Aussprache und mögliche Versöhnung zwischen den Gatten zu verhindern.
Donate war nicht in ihre Gemächer zurückgebracht worden, sondern in ein abgelegenes Turmzimmer, das nur durch eine steinerne Brücke mit dem Schloß in Verbindung stand. Es enthielt als einziges Gerät ein einfaches Ruhebett und einen Betschemel und war kein Gefängnis, sondern hatte früher solchen Schloßbewohnern zum Aufenthalt gedient, die eine Zeitlang abseits vom Lärm und Getriebe ihren geistlichen Bedürfnissen leben wollten. Denn trotz dem Grimm der in ihm wühlte schreckte der Graf noch immer vor einem äußersten Schritt gegen seine Gemahlin zurück.
Die Marschallin aber sagte: O weh, nun sehe ich wohl, daß sie mit Hilfe des verfluchten Zauberkünstlers ein neues Band um Eure Stirn geschmiedet hat. Wenn Ihr sie gefangen haltet, was hilft Euch das? Ihr bleibet durch das Sakrament der Ehe an sie gebunden und außerstande, einen neuen, Euer würdigeren Bund zu schließen.
Der Graf erwiderte finster: Ich kann meine Hand nicht wider sie erheben, denn ich habe es ihrem Vater bei meinen Eltern im Paradiese und bei meiner eigenen gräflichen Ehre geschworen, daß ich sie hüten wolle wie meinen Augapfel, daß mit meinem Willen kein rauhes Lüftlein sie berühren dürfe und daß ich ihr immerdar jede Ehre erweisen werde, die meiner Gemahlin zukommt.
Nun, sagte die Marschallin boshaft, den Schwur könnet Ihr halten und dennoch Eure Freiheit wiedergewinnen. Verschließet sie nur gut in ihrem Turm und hütet sie dort wie Euren Augapfel, zu dem Ihr ja auch nichts hereinlasset, weder Trank noch Speise, denn wie möchte einem Augapfel solches frommen? Dort wird kein rauhes Lüftlein sie berühren und Ihr braucht ihr auch kein Härlein krümmen zu lassen. Sollte es dann mit Gottes Willen geschehen, daß sie nach ein Tager acht oder zehne nicht mehr unter den Lebenden weilte, so könnt Ihr sie in der Gruft Eurer Ahnen bestatten und habt sie damit noch über ihre Lebenszeit und über Euer Versprechen hinaus geehrt. Ihr Tod aber kann niemals über Euch kommen, weil sie ja doch der Zauberei hätte müssen angeklagt werden und nicht minder der unerlaubten Liebe zu ihrem Zwillingsbruder, der sich durch sein Verschwinden der Verantwortung entzogen hat. Auf beiden Verbrechen steht, wie Ihr wohl wisset, der Tod. Retten könntet Ihr sie also auf keinen Fall, denn wenn Ihr ganz schwieget, so wäre ich durch mein Gewissen gezwungen sie zu verklagen. Wolltet Ihr aber noch länger warten, so könnte sich's leicht erweisen, daß sie ein Kind unter dem Herzen trägt. Des müßte man sie genesen lassen, ehe sie ihre Sünden büßt, und dann wäre Euer gesetzlicher Erbe der Sprößling einer Gerichteten.
… Im Augenblick wo der Sohn des Lichts, der auf Erden Donatus geheißen hatte, sich selber wieder erkannte, fühlte er sich von einem gewaltigen Zuge gefaßt, der ihn wie ein tiefeingezogener Odem gleichsam einschlürfte, daß er die Kraft seiner Fittiche gar nicht brauchte. Und auf einmal lag das himmlische Zion vor ihm, aus dem er voreinst war ausgesendet worden, mit zinnengekrönten Mauern, so hoch – kein Gedanke kann sie überfliegen. Aber da öffnete sich auch schon das Tor und die bekannte Gestalt des Pförtners erschien, ein einziger Silberglanz von langwallendem Bart und Haar und silberdurchwirkten weißen Gewändern.
Tritt ein, sagte er.
Als der lichte Geist die Schwelle betrat und die blumenbestickte Sonnenwiese mit dem Reigen der seligen Geschwister wieder sah, da schob sich ein ganz kleines demütiges Seelchen, das sich vor lauter Selbstunterschätzung noch kleiner machte, als es war, heran und sagte mit einem Stimmchen, so zart und ängstlich, daß es nur wie ein Zirpen klang:
Sohn des ewigen Glanzes, wo ist dein irdisches Schwesterlein?
Mein Schwesterlein! dachte der Heimgekehrte und besann sich erst wieder auf die Erde.
Spute dich und tritt ein, bevor das Tor sich von selber schließt, mahnte der im Silberhaar.
Der Engel aber dachte: Wie wird ihr drunten zumute sein ohne mich! und wich zurück von der Schwelle der Seligkeit.
Zum letztenmal, tritt ein! sagte der Pförtner. Aber eben jetzt schwebte ein unsäglicher Glanz heran, ein lebendiges Gespinst von Sonnenstrahlen, es öffnete sich und wallte als langer Schleier vom Haupte der Gnadenmutter nieder, die in ihrem blauen Himmelsgewand mit der Sternenkrone daraus hervortrat.
Sei gesegnet, mein Sohn, du weißt das Bessere, sagte sie, und in diesem Augenblick schloß sich das Tor von selber vor ihm zu.
Der Sohn des Lichts wandte sich ab und schoß mit breitgestellten unbeweglichen Fittichen zur Erde nieder.
Donate lag auf dem Ruhebett, aber ihre Gedanken fanden keine Rast, sie irrten angstvoll um den Bruder her, den sie so unerwartet gefunden und wieder verloren hatte. Warum war er so schnell von ihr gegangen und nicht zurückgekehrt? Und warum hatte er ihr zuvor den Perlenschmuck und die Schaube abverlangt? Wenn die Leute des Grafen ihn mit diesen Sachen fanden, was würde die Folge sein? Und all die anderen Verdächtigungen, die gegen ihn erhoben waren? An ihr eigenes bevorstehendes Schicksal dachte sie noch gar nicht, sie wunderte sich nur, wie es zugegangen war, daß sie die lange Zeit in der Kirche verschlafen hatte.
Außen auf der Brücke stand unterdessen ein Wächter, um zu verhindern, daß irgendeine erbarmende Seele sich der Eingeschlossenen mit leiblicher oder seelischer Labung nähere. Aber dessen war keine Not, es gab niemand in ihrer Umgebung der es so gut mit ihr meinte. Den Hochgeborenen war sie doch immer ein geheimer Anstoß geblieben, und die ihres Standes waren, verziehen ihr nicht, so hoch über ihresgleichen hinaufgestiegen zu sein. Der Tag senkte sich ohne daß sie einen Laut von der Außenwelt vernahm. Sie hatte ihn auf dem Betschemel kniend verbracht und nur, wenn es die Müdigkeit verlangte, sich auf ihr Ruhebett gestreckt. Es war ihr lieb, so allein mit dem geblieben zu sein, bei dem sie einzig Trost und Hilfe suchen konnte. Sie hatte auch beschlossen keine Nahrung zu sich zu nehmen, solange die Ungewißheit ihres Schicksals daure. Aber am Abend ängstete sie sich doch, daß niemand gekommen war, ihr Speise und Trank zu bringen. Als auch am Morgen keine Seele sich zeigte und es am zweiten Tage um sie her still blieb wie im Grab, da begann ihr zu grausen, und sie ahnte nun, welch ein Ende ihr bereitet war. Ein brennender Durst befiel sie, der viel peinigender war als der Hunger, der gleichfalls an ihr zehrte. Sie rief in ihrer Qual zu Gott und Menschen, aber keine Antwort kam, es sank die Nacht und der Morgen tagte, und nichts regte sich um sie her, sie war vergessen, schien es ihr, lebendig begraben. Dann zählte sie nicht mehr die Tage, die gingen und kamen, wenn sie noch etwas Kraft hatte, kniete sie auf dem Schemel, meist aber zwang sie die Schwäche, ausgestreckt auf dem Ruhebett zu liegen, ihre Gedanken umnebelten sich, und endlich schwanden ihr die Sinne.
Da vernahm sie im Traum ein Singen und Klingen, und es schien ihr, als sei sie wieder ein Kind und liege im Grase ausgestreckt, und Donatus sitze neben ihr, auf seinem Blatte spielend. Als sie mit Mühe die Augen öffnete, lag sie auf ihrem Ruhebett im Turm. Aber die bekannten Töne gingen weiter. Da schloß sie die Augen aufs neue und fragte: Bist du es, Donatus? – Ja, ich bin's, Donate.
Sie wagte nicht mehr aufzublicken aus Furcht, er könnte ihr entschwinden, denn sie fühlte, wenn sie es auch nicht sah, daß er bei ihr saß und ihre Hand hielt. Und die Sinne vergingen ihr wieder.
Am anderen Morgen erwachte sie erquickt, die Hungerqual hatte nachgelassen und ihre Lippen waren frisch befeuchtet. Aber sie fürchtete von ihrem Zwillingsbruder nur geträumt zu haben und wagte lange nicht die Augen aufzuschlagen. Endlich aus großer Sehnsucht nach ihm blinzelte sie ein klein wenig aus halbgeschlossenen Lidern.
Da saß er und lächelte sie an!
Wirst du mich nicht mehr verlassen, Donatus?
Niemals.
Warum führst du mich nicht aus dem Turm heraus?
Das kann ich nicht, Schwesterchen, du mußt noch leichter werden.
Donate hob ihre weißen abgezehrten Arme in die Höhe, von denen nun der Goldschmuck abgefallen war, und fragte lächelnd: Bin ich noch nicht leicht genug?
Er strich ihr mit der Hand über die Augen: Schlafe, du Schelm.
Nun begann ein verworrenes Spiel zwischen Schlafen und Wachen.
Wann gehen wir, Donatus?
Morgen, Donate.
Und wieder einmal, als sie die Augen aufschlug, sagte er: Jetzt, Schwesterlein, ist es an der Zeit. Rüste dich zur Reise.
Sie richtete sich auf: Wohin führst du mich?
Nach Hause.
Im gleichen Augenblick hatte der Wächter auf der Brücke einen tödlichen Schrecken. Die fest verschlossene Tür drehte sich in den Angeln, und heraus traten zwei weiße glänzende Gestalten Hand in Hand. Er wollte sie aufhalten, wie es seines Amtes war, aber er griff in leere Luft, und beide glitten unter dem dunkeln Nachthimmel wie ein Lichtschein an ihm vorüber. Als er ihnen ins Gesicht blickte, fiel er vor Entsetzen ohnmächtig zu Boden, denn was er sah, war die Gräfin Donate in doppelter Gestalt.
Doch war der Wächter nicht der einzige, der im Augenblick ihres Hinscheidens dieser Erscheinung ansichtig wurde. Zu gleicher Zeit weckte den Grafen ein feines Klingen, und als er die Augen öffnete, schwebten die zwei völlig gleichen glänzenden Gestalten nahe an seinem Lager vorüber, die Augen auf ihn geheftet. Da erkannte er plötzlich, was es mit dem Zwillingsbruder und den wundersamen Begebenheiten, die sich an seinen Namen knüpften, für eine Bewandtnis gehabt hatte. Er bestattete Donates entseelten Leib in der Gruft seiner Väter und verließ dann im Pilgerkleide das Land, um an heiliger Stätte zu beten und zu büßen.