Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Gesine Karp

Der kleine Grauschimmel warf den Kopf auf und nieder, stieß aus geblähten Nüstern weißen Rauch. Dann stand er mit steifen Beinen, dampfend wie ein schwelender Torfhügel, reglos vor dem Pflug, den er stundenlang durch den schweren schwarzen Marschacker gezogen.

Gesine Karp ließ die Seile locker, setzte sich auf die Pflugschar, die müde gewordenen Beine, die in Mannshosen steckten und in Stiefeln, deren braune Schäfte bis zu den Knien reichten, breit auseinander. Die Peitsche über den Knien und die Hände darauf gestützt, schaute sie müde über die Marsch. Die Höfe unter breiten Baumkronen ruhten im Dunst, wie verankerte Schiffe im Nebel, schweigsam und einsam, unter der Schwermut eisgrauen Himmels.

»Frühling kommt, die Beine sind schwer,« dachte Gesine.

Sie schaute müde an knospenden Ellernbüschen vorbei zur Urweide hinüber, die zwischen Wassergräben sich wölbte. Dort lag seit Tagen der tote Balg einer Katze, um den sechs Nebelkrähen schreiend sich balgten.

Da sah sie einen Mann von der Geest kommen, den roten Klinkerweg entlang, der schnurgerade die Marsch durchquerte vom Norderbüller Deich aus, um sich im gelben Sandbruch des Geestrückens zu verlieren. Der Mann war noch weit, dunstig umweht vom Rauch, der aus Äckern und Urweiden dampfte. Sie wußte, daß es der Bauer Martin Hell war, der den großen Heidehof hinter der Geest besaß und fast täglich um diese Zeit über die Marsch nach Norderbüll ging, um im Wirtshaus Karten zu spielen und Grog zu trinken. Er war ohne Weib und brauchte Gesellschaft.

»Sechs Uhr. Ich muß den Acker heute zu Ende bringen.«

Sie erhob sich und reckte die starken Arme. Unter dem Mannsrock, den sie trug, strafften sich die Formen des reifen Körpers. Sie griff zum Zügel, ungestüm, als hätte das Recken und Biegen des Leibes sie erfrischt, schnalzte mit der Zunge wie ein Knecht und sah, während der kleine Grauschimmel mit nickendem Kopf durch den Acker stampfte, wie das schimmernde Pflugmesser die fettglimmende Erde knirschend zerbrach. Wenn sie sich umwandte und einen Peitschenhieb durch die Luft warf, um die Möwen auseinander zu treiben, die in schreiendem Schwarm hinter dem Pflug her waren und die Schnäbel hungrig nach Würmern in die Furchen stießen, spannten sich unter der gelben Arbeitsjacke die jungen und festen Brüste.

Der Bauer Martin Hell blieb am Wegrand stehen. Grinsend beäugte er lange das junge Weib. Als sie wendete und ihre ganze Gestalt ihm zugekehrt war, schrie er, und seine grauen Augen warfen Funken:

»Gesine, Mensch, wenn du auch Mannskleider trägst, verdammt, du bleibst doch immer ein breithüftiges Weib.«

Sie warf einen Peitschenknall in die Luft und lachte. Aus einem Spalt der kupferbraunen Wolken, die tief im Westen über der Nordsee ruhten, stieß plötzlich breitflammendes Sonnenfeuer über die Marsch. Es zerteilte den Dunst, floß leuchtend über die derbe Gestalt und machte aus ihrem Haar einen Kranz aus funkelnden Stacheln. Die fettige schwarze Ackererde war im schräg fallenden Licht wie von blanken Kupferspänen verschwenderisch bestreut. Hinter ihrem Pflug schritt Gesine wie über brennendes Feld. Des Bauern Gesicht wurde rot. Er stapfte schwer über den Acker.

»Gesine,« stieß er aus tabakbraunen Zähnen. Die Stoppeln seines unrasierten Kinns zitterten. »Gesine, verdammt, wir zwei!«

Er stieß mit gespreizten Händen nach ihren festen, runden Schultern und begann zu lachen, breit und begehrlich.

Doch ehe seine roten Finger sich einhaken konnten, drehte Gesine die Peitsche und stieß den Schaft hart gegen seine Brust.

»Wer mich haben will, Bauer Hell, muß mich heiraten, verstehst du?«

Der Bauer schrie wütend, sich mit der Faust über die schmerzende Brust reibend:

»Man braucht nicht gleich zum Pastor zu rennen, wenn man sich einen Spaß macht.«

Sie warf einen heftigen Peitschenhieb in die Luft, daß die Möwen laut aufkreischten und der Grauschimmel sich mit stampfenden Hufen kräftiger ins Geschirr legte. Der Bauer wandte sich knurrend um und stakte quer über die Furchen zum Weg. Der breite Rücken war voll von Sonnenröte und das braune Haar unter der Mütze brannte wie Feuer.

Grimmig dachte Gesine daran, daß dieser Bauer heimlich mit der Landwirtstochter verlobt war, die den größten Hof der Heide erben sollte. Sie war krank und fast vierzig.

Härter spannten sich Gesines Hände um den Griff des Pflugs.

Die Sonne erlosch. Von der Geest her wanderten Schatten über die Marsch wie Scharen trauernder Frauen in schwarzen und wehenden Gewändern.

 

Der Grauschimmel stand im Stall. Die Kühe waren gemolken. Die junge Magd in ihrer Kammer lag im Bett und sang halb schon im Schlaf ein Liebeslied, das sie letzten Sonntag beim Tanz in Norderbüll gelernt hatte. Gesine saß im schwarzen Ohrenstuhl, darin sie den Urgroßvater hatte sterben sehen, als sie fünf Jahre alt gewesen war. Ihr Gesicht war vergrübelt. Die von Arbeit gehärteten Hände ruhten schwer auf den Knien. Sie hatte ihn gern, trotz allem, diesen Bauer, der ein strammer und tüchtiger Kerl war und den Ehrgeiz hatte, der größte Bauer in Holstein zu werden. Er hatte Arme wie ein Riese und das Weib, das von ihm umschlungen wurde, mußte Freude erleben, das war gewiß. Aber so nebenbei von ihm hergenommen zu werden, während er mit einer andern Hochzeit machte, wegen dreihundert Tonnen Ackerlands ...

Gesine stand hart auf, warf den Riegel vor die Dielenpforte, ging schwer in ihre Kammer, zog sich mit unbeholfenen Händen die Röcke vom Leibe und legte sich ins breite Elternbett, darin die Mutter sie geboren hatte, um eine Stunde später zu sterben. Sie konnte nicht einschlafen. Mit weiten Augen schaute sie zur Balkendecke, die schwer und undeutlich über ihr lag. Frierend spürte sie Einsamkeit, die schwer und schwarz ihr Bett umlagerte. Sieben Jahre Einsamkeit, seit der Vater tot war. Sieben Jahre Mannsarbeit hinter dem Pflug, im Stall und auf der Tenne. Und noch nicht fünfundzwanzig.

Ein Rieseln von Angst lief durch ihr Blut. Ihre Hände glitten über den frierenden Körper und lagen plötzlich rund auf den Brüsten, unter denen das Herz klopfte wie nie.

»Ja,« murmelte sie, die Augen schwer von Müdigkeit, »ich will einen Mann haben.«

Doch als ihre Gedanken, die sich schon dem Schlaf entgegenschleppten, Musterung über die Männer abhielten, die sie kannte, und keinen fanden, in den sie sich eingraben konnten, keinen einzigen, da quollen Tränen aus den Augen, die schon geschlossen waren, und rollten schwer über die breiten Backen in die rotbunten Kissen.

Plötzlich fuhr sie auf. Sie starrte sekundenlang in die Finsternis, dann sagte sie laut, wie unter der betäubenden Klarheit einer Erkenntnis:

»Ich will nach Hamburg, ja, nach Hamburg, und suchen, bis ich einen Mann finde, der zu mir paßt.«

Sie verstummte und schlief ein. Von draußen kam das Rauschen der Ulmen, groß und feierlich.

 

An einem Abend, vier Wochen später, schritt sie über den Spielbudenplatz in St. Pauli, um in den Seitenstraßen nach einem möblierten Zimmer zu suchen. Mittags war sie angekommen. Ihr Gepäck stand noch in Altona auf dem Bahnhof. Sie ging in Gedanken. Plötzlich stand ein Mann vor ihr, der sie ansprach. Es war ein junger Matrose, der an den Singspielhallen vorbeischlenderte und nach hübschen Weibern plierte, die ihm helfen sollten, die Heuer zu verputzen. Die blaue Seemannsmütze saß tief im Nacken. Das kupfrige Haar über der Stirn funkelte stark im Kalklicht der elektrischen Monde, die über der Straße hingen. Sie blickte ernst und forschend in das braungebackene, lachende Gesicht, mit dem er gefragt hatte, ob sie Lust hätte, mit ihm auf St. Pauli und dem Pinnasberg herumzubummeln. Ehe sie eine Zusage gab, fragte sie, denn sie wollte mit Bedacht vorgehen:

»Sind Sie Seemann?«

»Ja,« rief er lustig und umfing mit hellblauen Augen ihr frisches, von Landluft gebräuntes Gesicht und die prächtig gerundeten Hüften, auf denen seine starken Hände gut ausruhen würden, wenn er mit ihr tanzte.

»Natürlich bin ich Seemann. Zweiter Steuermann auf der ›Caligula‹, dreimal Kap Horn gerundet und zweimal Kap der guten Hoffnung.«

Er sagte das so frisch, daß sie ins Lachen kam. Mit einem Nicken des Kopfes, auf dem ein kleiner, gutsitzender städtischer Hut saß, den sie sich in Meldorf gekauft, entgegnete sie:

»Dann wollen wir's miteinander versuchen. Ich heiße Gesine Karp.«

»Sehr angenehm!« rief der Steuermann und hakte sich ein, ohne seinen Namen zu nennen, worüber sie sich wunderte.

Sie gingen unter den Linden her. Über das dichte Laub hatte das Mondlicht der Bogenlampen weiße Schleier geworfen. Bald waren sie im »Sternenbanner«, wo an allen Tischen Seeleute mit ihren Liebsten saßen. Sie bestellten Beefsteaks englisch mit Spiegelei und Baß Porter vom Faß. Er gefiel ihr gut, wenn er auch ein wenig lärmte und sie mehr anfaßte, als ihr lieb war. Plötzlich fragte sie, während er mit vollen Backen kaute:

»Wie heißen Sie denn eigentlich?«

Der Steuermann bugsierte das runde gelbglimmende Auge des Spiegeleis, das er sich bis zuletzt aufgespart hatte, ohne Havarie in den sich breit öffnenden Mund und sagte, während er geräuschvoll aß:

»Das ist nicht wichtig. Karsten Michael.«

Als sie gegessen hatten und Karsten Michael sich zum Porter einen Genever bestellte, fiel ihr ein, daß sie noch keine Wohnung hatte. Sie wollte gleich auf. Doch der Steuermann griff nach ihrem Arm und sagte mit einem treuherzigen Blick seiner blauen Augen, die schon ganz glänzend und feucht waren:

»Mensch, Deern, ich hab ein feines Logis. Das genügt für zwei.«

Gesine schüttelte ihn ab. Ihr breites Gesicht wurde plötzlich so herb und streng, daß der Steuermann sie betroffen ansah und nach einer Weile fragte, sehr gedehnt:

»Ja, weshalb bist du denn mit mir gegangen?«

Gesine blickte, Falten auf der Stirn, die Lippen zusammengepreßt, in ihr Porterglas und sagte endlich mit einer sonderbar tiefen Stimme und ganz leise, so daß der Steuermann im Lärm der Schenkstube sie kaum verstehen konnte:

»Ich bin nach Hamburg gekommen, um mir einen ordentlichen Mann zu suchen, den ich heiraten kann.«

Und während sie dies sagte, fast als spräche sie zu sich selber, standen wie vom Blitz erleuchtet die Wochen vor ihr, in denen sie in Haus und Stall umhergegangen war und den Acker bestellt hatte, schwer grübelnd, ob sie wirklich die Hofstelle verpachten und in die große Stadt gehen sollte, wo unter hunderttausend Männern gewiß einer war, der zu ihr paßte. Nun war sie da und neben ihr, gleich am ersten Tage, saß einer, der sie mit in sein Logis nehmen wollte. Sie wurde blutrot, während sie sich tiefer über das Glas beugte, dessen schwarzer Inhalt sie anstarrte wie ein dunkles Wasserauge im Torfmoor, und wurde traurig wie nie in ihrem Leben. Nein, so war es nicht gemeint. So nicht.

Der Steuermann Michael, der sich inzwischen von seiner Enttäuschung erholt hatte, wollte seine Hände um ihre Hüften legen, doch sie rückte weit von ihm ab. Er griff ärgerlich nach dem Porterglas und brummte:

»Deern, du bist ja unklug!«

Sie zog ihre Geldbörse aus der Tasche, die grünseidene, mit silbernen Perlen bestickte Geldbörse, die sie vom Vater geerbt, legte drei Mark auf den Tisch für Essen und Trinken und erhob sich. Und ehe der beleidigte Steuermann, eine dicke blaue Ader über der Stirn, etwas Zorniges sagen konnte, da er merkte, wie ein hübsches, rothaariges Frauenzimmer vom Nachbartisch spöttisch zu ihm hinüberplierte und eine Stimme hörte, die trocken sagte: »Kiek, die Deern will ihm versetzen,« war Gesine hinaus.

Sie ging müde durch die unbekannten Straßen, die von treibenden Menschen erfüllt waren, von umherstreichenden Weibern, von ziellos wandernden Mannsleuten, die jeder Frau ins Gesicht starrten, von Liebespaaren, die Arm in Arm gingen, von Automobilen, die mit Trompetengeheul und sirrenden Gummirädern über feuchtes Pflaster glitten, alles überflutet von weißen Wellen elektrischen Lichts und vom Strom üppiger Musik, die aus Bars und Singspielhallen in drängende Menschenmassen brandeten. Sie fühlte sich plötzlich ganz einsam. Einsamer wie in der Marsch, wenn sie ihren Acker pflügte, den unter grauem Himmelsgewölbe unabsehbare Weite umschloß.

Sie holte ihr Gepäck aus dem Bahnhof. Im dritten Stockwerk des Holsteinischen Hofs zur Straße hinaus bekam sie ein Zimmer. Sie lag noch lange wach, die Augen voll Tränen, von Heimweh geplagt, gepeinigt vom eisernen Lärm der Straßenbahnwagen, die nicht ruhen wollten, obwohl Mitternacht längst vorbei war.

 

Mit den Talern, die sie vom Pächter ihrer Hofstelle erhielt, konnte Gesine nicht auskommen. Sie nahm eine Stellung im Laden eines Produktenhändlers an, der für Milch, Butter, Eier und Käse einen weiten Kundenkreis besaß. Sie fand sich rasch in die Arbeit hinein, die sie an ihr Bauerntum erinnerte, hielt den Laden gut in Ordnung und war, obwohl sie wortkarg und von herbem Wesen war, geschickt im Verkehr mit der Kundschaft. Dabei vergaß sie keine Minute, weshalb sie nach Hamburg gekommen war. Das Abenteuer des ersten Abends hatte sie rasch überwunden, herb und trotzig.

Der Kaffeemakler John Brink, den sie im Tanzsaal auf dem Süllberg in Blankenese kennen lernte, machte Eindruck auf sie. Er schien ein tüchtiger Mensch zu sein und hatte Ritterlichkeit, die sie bestach. Er zeigte ihr, was es in Hamburg an Sehenswürdigkeiten gab, redete offenherzig von Hochzeit, die sie übers Jahr halten wollten, weihte sie in Börsengeheimnisse ein und sie gab ihm gern und ohne Mißtrauen erspartes Geld, das er zuweilen für Kaffeespekulationen nötig hatte. Um so erschrockener und enttäuschter war sie, als er ihr eines Tages schrieb, er sei durch eine verfehlte Spekulation schwer in Schulden geraten und zu seinem größten Bedauern gezwungen, sich nach einer reichen Partie umzusehen, müsse den Verkehr mit ihr abbrechen, hätte aber die Absicht, ihr ehrlicher Schuldner zu bleiben.

Als ihr Zorn verflogen war, dachte sie ernsthaft daran, sich dem Fischauktionator Theodor Roggenkamp zuzuwenden, der täglich Käse bei ihr kaufte, und ihr unverhüllt zu erkennen gab, daß sie für ihn geschaffen sei wie keine andere. Er war ein stattlicher, großgewachsener Mann von vierzig Jahren, den sie bewunderte, wenn er bei den großen Auktionen in den Hallen des St. Pauli Fischmarktes aufgereckt zwischen den schimmernden Bergen von Schollen und Schellfischen und Kabeljau stand und seine klangvolle Stimme weithin schallen ließ. Doch es gab etwas, das sie nicht überwinden konnte. Es war ihr unmöglich, den starken Fischgeruch zu ertragen, den er ständig mit sich herumtrug, selbst des Sonntags, wenn er mit ihr durch den Duft der Heide ging. Als er ihr eines Tages den bang erwarteten Heiratsantrag machte und ihr erklärte, sie müßte dem Fischladen vorstehen, den er in der Kaffamacherreihe gekauft, mußte sie mit schweren Tränen bekennen, daß es ihr unmöglich sei, ein ganzes Leben lang in Fischgeruch zu verbringen. Sie habe stundenlang in der Fischhalle gestanden, um sich an den Geruch zu gewöhnen, doch immer sei sie sterbenskrank nach Hause gekommen. Da ging er betrübt davon und verbarg seine großen roten Hände, auf denen stets silberne Schuppen flimmerten, in den Taschen der blauen Jacke.

Die nächsten Tage gingen schwer hin. Oft bei der Arbeit schrak sie steil in die Höhe und dachte aufgescheucht: »Wie dumm, daß ich ihn laufen ließ.« Doch eines Vormittags, als sie ihn vorübergehen sah, auf der anderen Seite der Straße, schwer und lässig, wunderte sie sich, daß ihr Herz keinen Kummer empfand, während sie ihn im Rauch des Nebeltages verschwinden sah. Sie beugte sich über die Arbeit. Ihr Herz war plötzlich schwer von Sehnsucht nach der feierlichen Weite der Marsch, der alten Kate, der Einsamkeit des Ackers und dem Grauschimmel, der sie mit großen schwarzen Augen treuer angesehen hatte, als je ein Mensch in der großen Stadt.

 

Die Sonne eines Junitages verzehrte den Rauch des Hafens. Wolkig im leuchtenden Brackwasser wiegten sich Millionen Körner aufgewühlten Staubes. Sie saß auf der Steuerbordwand einer Benzinbarkasse, einen Korb Eier auf dem Schoß, den sie in Steinwärder abliefern sollte. Sie saß so, daß sie den Barkassenführer sehen konnte, der aufgereckt, das kantige Gesicht unbewegt im Bad der Sonne, eine kurze Pfeife im Winkel des hartgeschlossenen Mundes, vor dem knatternden Motor stand, das Steuerrad in starken, braunen Händen. Plötzlich begegneten sich ihre Blicke und blieben, sich vergrößernd, ineinander verkettet. Ein Dockarbeiter, der schwarzbärtig neben ihr saß, schrie plötzlich:

»Mensch, sei di vör!«

Der Führer hob rasch den Kopf, runzelte die Stirn und riß das Rad herum. Die Barkasse, mit wasseraufpeitschendem Ruck, wendete hart nach Steuerbord. Sie glitt haarscharf an schwarz aufragenden Dückdalben vorbei. Weiß und hoch spritzte Gischt.

»Verdammt!« Gesine fühlte des Führers zornigen Blick. Sie errötete stark.

An einem Sonntag, als es zwischen den Ahornbäumen und Platanen des Botanischen Gartens zu dämmern begann, sah sie den Barkassenführer, wie er ein wenig nach vorn gebeugt neben dem grünen Blätterfall einer Trauerweide stand. Er starrte in eine Schar weißer Pekingenten, die im roten Licht der fast verschwundenen Sonne auf rubinblitzendem Weiher sich tummelte. Sie erkannte ihn und wunderte sich, daß ein Barkassenführer aus dem Hamburger Hafen so in Gedanken verloren dastehen konnte. Sie wollte weiter, da drehte der Mann sich um.

»Sieh da!« Er blickte sie eine Weile erstaunt an. Dann sagte er und sie sah, wie ein kleines Lächeln seinen verschlossenen Mund in den Winkeln ein wenig bog:

»Beinahe hätte ich Ihretwegen einen Dückdalben gerammt!«

Er verstummte und sah sie an. Seine großen braunen Hände spielten verlegen mit einem Weidenzweig, der über seinem Rock hing.

»Sie sehen einem Mädchen ähnlich, das ich vor vielen Jahren gekannt habe. Daher kam's.«

Eine Welle lief rot über Gesines Gesicht. Sie lachte verwirrt und sagte:

»Dann darf ich wohl nicht wieder in Ihrer Barkasse fahren.«

Sie nickte ihm zu und ging weiter. Er schloß sich ihr an. Stumm schritten sie nebeneinander her. Rasenflächen dehnten sich unter blauer Dämmerung. Heuhaufen verbreiteten starken Geruch. Schwer und süß dufteten Syringen. Einmal murmelte er verloren:

»Sie ist vor zwanzig Jahren gestorben, die Ihnen ähnlich sieht.«

Gesine blickte scheu zu ihm hinüber. Aus blauer Schiffermütze kroch ergrauendes Haar dünn über die Schläfen. Am Ausgang des Gartens nahm er unbeholfen ihre Hand und sagte zögernd und vermied es, sie anzusehen:

»Nächsten Sonntag, um dieselbe Zeit, wenn es Ihnen recht ist, warte ich auf Sie an dieser Stelle.«

Er ging davon, ohne auf ihre Zustimmung zu warten. Unruhig sah sie, wie er untertauchte im Menschenstrom der Dammtorstraße. Sie sah mit verworrenen Augen über dem Stephansplatz die blauwogende Dämmerung, die jäh zersprengt wurde von aufzischendem Bogenlicht.

Sie sprachen nie viel, wenn sie des Sonntags beieinander waren. Sie fühlte ungewiß, daß dieser wortkarge Mann, der sie mit unbeholfener Zärtlichkeit in dunklen Torbögen liebkoste, ihre Liebe brauchte, um über ein Leid hinwegzukommen, das ihn unaussprechlich bedrückte. Mitleid wuchs in ihr auf und sie gewann ihn lieb. Sie sah, wie er langsam hell und froher wurde. Wenn sie mit seiner Barkasse nach Steinwärder fuhr, stand er hoch und blank vor dem krachenden Motor mit einem Lächeln, das ihr ganz zugewendet war. Sie fühlte, sie würde mit ihm leben können, ein ganzes Leben lang, wenn erst der Rest von Schweigsamkeit von ihm gefallen war. Denn obwohl sie ihm ganz gehörte, in einer herben und entschlossenen Liebe, wußte sie von ihm nicht mehr, als daß er da war, daß er atmete und arbeitete, ein Leid niederkämpfte und sie liebte.

»Ich bin nicht umsonst weggegangen von Hof und Heimat.«

Sie schloß die Augen und sah die Zukunft, sah Haus und Herd, Arbeit und Heiterkeit.

Eines Abends, als sie in Gesines kleiner Stube beieinander saßen und auf den Herbstregen horchten, der gegen die triefenden Fenster rauschte, sagte er plötzlich:

»Wenn wir beide doch in der Marsch leben könnten! Ich möchte Bauer werden und den Acker bestellen.«

Er schaute starr durchs Fenster und es war, als verketteten sich seine Augen mit den windgepeitschten Ästen des triefnassen Baumes, der schwarz im Nebelrauch der Luft stand.

Gesine dachte an ihre Hofstelle, an den Kornacker, an die Urweide zwischen Wassergräben, auf der die Kühe grasten, und sagte tief atmend, ihre breite, gerötete Hand fest auf seinen Arm legend, froh und voll starker Hoffnung:

»Das sollst du haben, Haus und Hof, Pflug, Pferd und Acker.«

Er senkte schwer den Kopf und blieb stumm.

Da wuchs die Bangigkeit, die sie seit vielen Wochen trug, übermächtig aus der Tiefe. Sie sagte leise und ihre Hand, die noch immer auf seinem Arm lag, wurde schwer wie ein Stück Blei:

»Du mußt dich entscheiden, hörst du, denn es darf nicht lange mehr dauern, bis du mich zu deiner Frau machst.«

Der Mann blickte schwer und starr auf und sah Gesines angstvolles Gesicht. Es war minutenlang still in der Stube. Draußen sang dumpf der Regen.

Endlich sagte der Mann gequält:

»Ich bin verheiratet und habe Kinder und kann nicht frei werden von meiner Frau.« Und nach kurzem Schweigen, während in Gesines Ohren das Trommelgeräusch des Regens zu betäubendem Brausen anschwoll, fügte er hinzu, ohne Ton: »Niemand weiß, was ich erduldet habe, Jahrzehnte lang.«

Er erhob sich, stand mitten in der Stube, groß und ungefüge in der Dämmerung. Gesine saß am Tisch, die Hände weit ausgestreckt, mit erschreckten Augen.

»Warum bin ich nach Hamburg gegangen!« murmelte sie.

Der Mann machte eine hilflose Bewegung zu ihr hin.

Sie blieb reglos. Ihre Lippen wurden hart und grau. Die Muskeln ihres breiten Gesichtes erstarrten in schmerzlicher Spannung. Sie wartete und wartete.

Da wandte sich der Mann schwer zur Seite und ging hinaus. Die Tür fiel knackend ins Schloß.

Herbstwind preßte sich kalt durch Fensterritzen.

Aus Gesines verworrenen Augen rollten Tränen schwer und langsam über das bleiche Gesicht und fielen weich in den mütterlichen Schoß.

 

Groß und gelb mit blutrotem Rand tauchte der runde Mond aus dem Rücken der Geest. Er färbte weithin den hohen Himmel und spülte Helligkeit über Urweiden und Äcker der Marsch. Aus den Wassergräben machte er lange, bleich schimmernde Straßen und aus den Rümpfen der Kühe, die auf den Weiden schliefen, übergroße Hügel, die aussahen wie Hünengräber.

Gesine Karp, mit dem Abendzug von Hamburg auf der kleinen Station angekommen, schritt den breiten Sandweg entlang, der unter ihren Füßen wie Phosphor glomm, der Hofstelle entgegen, die sie nun wieder bewirtschaften wollte. Sie haßte die große Stadt. Sie fühlte sich verhöhnt und betrogen. Sie umschlang mit weichen Armen ein Bündel, und wenn sie mit vorsichtigen Fingern ein Tuch bei Seite schob, sah sie ein schlafendes Kindergesicht, weiß im Mondlicht.

»Schlaf, lütte Deern,« murmelte sie, »schlaf. Es dauert nicht lang, dann sind wir zuhaus.«

Sie stand vor dem Fenster der Kate und schaute hinein. Da saßen in der Stube, zwischen den alten Möbeln, die beiden Pächtersleute bei der Lampe. Die Frau, stark und knochig, mit ergrauendem Haar, las die Itzehoer Nachrichten, ernst, mit Lippen, die sich langsam bewegten. Der Mann, krumm und schmächtig, wie aufgezehrt von harter Bauernarbeit, saß ihr gegenüber und rechnete auf einer Schiefertafel.

»Er macht Abschluß,« dachte Gesine, »morgen sind sie nicht mehr da.«

Sie sah im Schatten neben dem dunkelgrünen Kachelofen den schwarzen Ohrenstuhl, in dem der Urgroßvater gestorben war. Eine blaugraue Katze lag zusammengerollt darauf und schlief.

»Morgen,« dachte Gesine, »sitze ich wieder in diesem Stuhl und wiege mein Kind.«

Vom Stall her tönte ein Scharren.

»Der Grauschimmel!« Es ging hell über ihr Gesicht. »Es ist Herbst und ich muß den Acker bestellen.«

Sie ging langsam zur Haustür. Eine Schelle klingelte hell und eilig, als sie aufmachte und die dunkle Diele betrat, in der es nach Heu und Korn roch. Sie drückte ihr Kind fest an die Brust.

»Nun sind wir daheim.«

 

Gesine Karp bestellte Stall und Acker wie einst. Wenn sie hinter dem Pflug herschritt, in Mannskleidern, wie damals, und mit der Peitsche über den Rücken des Grauschimmels knipste, der ein wenig müder durch die schwere und zähe Ackererde stampfte, blickte sie oft zurück und nickte dem Kinde zu, das am Wegrand in einem Korbe hockte, mit Blumen spielte und lachte. Manchmal, gegen Abend, wenn die schreienden Möwen hinterm Pflug im letzten Sonnenlicht flatterten wie brennende Fetzen aus rotem Tuch, fuhr der Bauer Martin Hell, der nun Witwer war auf dem großen Heidehof hinter der Geest, denn seine kränkliche Frau war im Kindbettfieber gestorben, über den roten Klinkerweg nach Norderbüll zum Abendtrunk und rief schallend hinüber und brachte die beiden Braunen zum Stehen:

»Noch nicht Feierabend?«

Dann lachte sie und stemmte sich kräftiger gegen den Pflug.

 

Karen, Gesines kleine Tochter, wurde schmuck und groß. Kaspar Hell wuchs stattlich heran, der Sohn des Heidebauern.

Eines Abends kam Karen zur Mutter, die im Ohrenstuhl neben dem Ofen saß, und bekannte, sie habe sich mit Kaspar Hell versprochen und könne nicht von ihm lassen, doch der Bauer hätte zornig geschrien.

Die Mutter blieb stumm. Ihre verarbeiteten Hände lagen geballt auf den Knien.

»Warte!« sagte sie endlich.

Drei Tage später stand Gesine auf der Tenne des Heidehofes, sah hart den Bauer an, der mit verkrümmtem Mund vor ihr stand, fünfzigjährig, grau geworden, doch immer noch stämmig.

»Ist es wahr, daß du Karen nicht zur Tochter haben willst, weil sie ohne Vater in der Welt herumläuft?«

Ihre grauen Augen hatten starken und federnden Glanz.

Der Bauer nahm die ausgebrannte Pfeife aus dem Mund, steckte sie in die Tasche, beäugte die Bäuerin lange und scharf, dann lächelte er ein wenig höhnisch und sagte kurz:

»Ja.«

Über Gesines breites Gesicht, das noch keine Falten trug, obgleich sie siebenundvierzig Jahre alt war, lief ein Zucken. Dann sagte sie, ohne den klaren Blick von seinen Augen zu lassen, die sich staunend vergrößerten und ihre groben Hände strichen langsam über die graue Schürze, während sie sprach:

»Wenn du mich heiratest, Bauer Hell, dann hat meine Tochter einen Vater.«

Der Bauer riß die Augen noch weiter auf und starrte eine Minute fassungslos in den Winkel der Tenne, wo die neue Häckselmaschine stand. Dann wandte er das Gesicht wieder zur Frau. Der Ausdruck veränderte sich. Sein Blick wurde forschend. Verdammt, sie war noch immer ein strammes Weib, gesund und gehärtet von Arbeit, mit runden Schultern und breiten Hüften, auf denen große Hände, wenn sie müde waren vom Tagwerk, gut ausruhen konnten. Er hob die Hand in den Nacken und kraute lange das Haar. Hinter der knochigen Stirn arbeitete es schwer. Es dauerte noch drei Sekunden, dann sagte er langsam und grabend und es war, als fiele das letzte Glied einer langen Gedankenkette schwer von seinen Lippen:

»Du und ich? Karen und Kaspar? Da muß ich den Justizrat Eggerstedt in Meldorf fragen, ob das erlaubt ist nach dem Gesetz.«

Da sagte Gesine und ihr Gesicht veränderte sich kaum, nur in den Augenwinkeln und in den Ecken des Mundes zuckte es schlau:

»Ich bin schon in Meldorf gewesen. Es geht.«

Da staunte der Bauer. Er beugte den Kopf ein wenig vor und streckte die breiten Hände aus, als wollte er Gesines Hüften umfassen, stockte eine Sekunde, dann lachte er und sagte bewundernd:

»Düwelsdeern!«

Da lachte auch Gesine.


 << zurück weiter >>