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Gomorra

Schwarze Wolken, auf deren Rändern Silber zu schmelzen schien, wanderten eilig über das bläulich erhellte Himmelsfeld am großen, runden Mond vorbei. Sie trieben mit dem Winde, der mit volltönigem Brausen die breite Elbmündung heraufkam.

In der Giebelkammer der Schenke hinterm Außendeich saß der alte Thieß Thomsen aufrecht in seinem Bett, den mageren Nacken gekrümmt, die verdorrten Arme auf der Bettdecke. Er starrte in den Wechsel von fahlem Licht und schwarzen Schatten, der geisterhaft durch die Kammer zog. Von unten aus der Schenkstube kam Lärm, aufreizend und wüst. Betrunkenes Männerlachen, aufkreischende Schreie aus Weibermund, Gläserklirren, Flaschenklang, Faustschläge auf den Tisch, wimmernder Gesang einer Ziehharmonika.

Der Alte verzog den zahnlosen Mund. Es hatte längst Mitternacht geschlagen. Verdammt, die da unten waren immer noch nicht fertig. Sie würden lachen und saufen und liederliche Dinge treiben, bis das Frühlicht bleich und giftig über die Elbe kroch und sein Totengesicht an die Scheiben lehnte.

Ein helles, alles übertönendes Lachen jubelte auf. Das war Antje, die jüngste. Es wollte nicht enden, dieses jubelnde Lachen. Die Knochenfinger des Alten krümmten sich. Sieben Wochen war sie nicht oben gewesen, weil ihr der Krankengeruch der Kammer widerlich war. Er horchte auf. Das war der Schrei Märtas, den sie ausstieß, wenn einer nach ihren festen runden Armen griff. Nun sang irgendein Mann ein gemeines Lied. Nun kreischten die Bälge der Ziehharmonika, die der rothaarige Schiffer aus Wewelsflet wild auseinanderriß. Nun lachte Antje aufs neue. Nun knallten Champagnerpropfen.

 

Er war heute neunzig Jahre alt geworden, der Schenkwirt Thieß Thomsen, der seit zwölf Jahren gelähmt in der Giebelkammer lag. Neunzig Jahre. Feierten die da unten seinen Geburtstag? Verdammt, nein. Sie trieben es alle Abend so, seit zwei oder drei Jahren. Seine ehrbare Schenke war ein Ludernest geworden, seit er hilflos mit lahmen Knochen im Bett lag und Tag um Tag mit dem Ende rang. Die Bauern von Wewelsflet und die Schiffer von Glückstadt mieden die Schenke. Stadtvolk aus Hamburg und Elmshorn, Reisende, die sich in der Gegend aufhielten, Referendare aus Itzehoe vertranken in der Hinterstube ihr Geld und griffen nach seinen Enkeltöchtern.

Unaufhörlich wanderten Wolkenschatten und Mondlicht durch die Giebelkammer, lautlos und gespensterhaft. Ein Dampfer tutete laut von der Elbe her. Der heulende Ton bohrte sich dumpf ins Herz. Der Alte schüttelte sich vor Grauen. Es fiel wie Eisnadeln über den ausgedörrten Körper. Wenn doch das alles zu Ende wäre! Wenn das Blut doch ersticken wollte, das zäh durch die geschwollenen Adern rann.

Drei Freunde hatten heute nachmittag an seinem Bett gesessen, Bauern aus Wewelsflet. Der eine neunzigjährig wie er selber, die andern ein paar Jahre jünger. Vor einem Jahr waren es noch fünf gewesen. Zwei schliefen nun in der Erde.

Sie hatten Wacholderschnaps getrunken, zu vieren eine Flasche, die Märta ihnen hinaufgebracht hatte, jeder acht Glas, und von Erinnerungen geschwatzt und von ihren Weibern, die längst tot waren. Plötzlich hatte Jürgen Voß gesagt, der alte Apfelbauer, der nur noch einen großen gelben Zahn vorn im Munde hatte, ganz unvermittelt, heiser und höhnisch:

»Sodom und Gomorra hast du in deiner Schenkstube, Thieß Thomsen.«

Die anderen hatten gelacht, der eine zornig, der dritte heiser und lüstern. Sie hatten gierig zum Schnaps gegriffen, ihn mit zitternden Fingern ins Glas gegossen und mit den weißumflimmerten Köpfen gewackelt.

Thieß Thomsen hatte kein Wort gesprochen. Sodom und Gomorra! Es bohrte sich in sein trockenes Hirn.

 

Als die drei Alten davongetorkelt waren und die Magd heraufkam, um die Abendgrütze aufs Bett zu setzen, die breithüftige, prall gewachsene Magd, die das Treiben unten im Hause mitmachte, doch die einzige war, die sich um ihn kümmerte, sagte er, mit verwässerten Augen starr durchs Fenster blickend, durch das man zwischen hohen Nußbäumen Schiffsmaste und qualmende Schornsteine dahingleiten sah:

»Such mir die Bibel. Sie liegt unten im Schrank in der Gaststube.«

Die Magd stemmte die roten Hände gespreizt in die Hüften:

»Die Bibel?«

Ein stechender Blick traf sie aus zornig herumfahrendem Gesicht. Sie schüttelte den gelbhaarigen Kopf, lachte dumm und holte das Buch.

Mühsam arbeitete der Alte am silbernen Verschluß der schweinsledernen Niedersachsenbibel, die verrottet, von Mäusen zernagt, schwer auf der roten Bettdecke lag. Von seiner gelben Stirn tropfte Schweiß. Aus den Fingerspitzen troff Blut. Er riß und riß und röchelte und fluchte. Endlich hatte er sie auf. Er griff hastig in die vergilbten Blätter, fuhr mit verdorrter Hand über die große schwarze Schrift mit den kirschroten Initialen und fand das Kapitel von Sodom und Gomorra. Er las stockend, mit steifen Fingern die Zeilen entlang tastend, jedes Wort wiederholend, wobei es im trüben Wasser der verkniffenen Augen flackerte wie grünliches Grundlicht aus der Tiefe eines sumpfigen Moorloches:

»Und der Herr sprach: Es ist ein Geschrei zu Sodom und Gomorra, das ist groß, und ihre Sünden sind gar schwer. Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben, nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder ob dem nicht also sei, daß ich's wisse!«

Er las es zum zweitenmal und zum drittenmal, mit einer Stimme, die aus der Kehle röchelte wie Sterbensatem. Dann klappte er das Buch schwer zu. Es rutschte über das rote Bettkissen und fiel polternd zu Boden.

Unablässig starrte er in die graublau aus den Stubenwinkeln heraufkriechende Dämmerung. Es kam die Nacht mit den wandernden Wolken. In der Schenkstube wühlte Musik aus der kreischenden Harmonika. Seine gelähmten Glieder zitterten. Er spreizte die Finger wie im letzten Krampf.

»Es ist ein Geschrei zu Sodom und Gomorra, das ist groß,« murmelte er keuchend. Dann schwieg er mit verkrümmten Lippen, horchte und murmelte, und die alte Stimme hatte ein tiefes, sich lang hinziehendes Grollen:

»Ich will hinabfahren ...«

Er reckte den hageren Kopf über die Kante des Bettes und lauschte nach unten. Der Kopf wackelte auf kraftlosem Hals. Da lachte Antje. Da schrie Märta. Da kreischte Musik.

»Sodom und Gomorra ...«

Mit ungeheurer Anstrengung, die ihm Schweiß aus allen Poren preßte, wälzte er sich aus der Bettstatt, richtete sich mühsam auf und tappte, Worte murmelnd, durch bläuliches Mondlicht zur Tür.

Er keuchte heiser: »Ich will hinabfahren.«

Schmerz riß in seinen eingefrorenen Gelenken. Er spürte es nicht. Schlotternd tastete er sich zur Treppe.

Wie ein Gespenst, aus dem Erdboden gewachsen, stand er plötzlich in der geöffneten Tür, eine gekrümmte Knochengestalt mit wirrem, weißem Haar um den nackten Schädel, bespült von Lichtdunst und Zigarettendampf, bekleidet mit rotem Hemd, das bis zu den spitzigen Knien hing. Vom Schreck gepackt, drückte der rothaarige Schiffer aus Wewelsflet die Bälge seiner Harmonika zu schauerlichem Getön ineinander. Alle, die in der Stube waren, blickten zur Tür und erstarrten. Nachtwind heulte ums Haus und rauschte schwer in den Nußbäumen. Die Harmonika rasselte auf den Fußboden. Eine Weiberstimme schrie entsetzt:

»Großvater!«

Es war Märta. Antje, bleich wie das Kalklicht des Azetylens, das von der Decke spülte, schrie in Todesangst:

»Großer Gott!«

Sie begannen zu weinen, laut, gellend, daß es die Herzen zerschnitt. Der Alte stakte keuchend ins Zimmer, beide Hände geballt nach oben gestreckt. Die Männer, jäh ernüchtert, packte das Grauen. Sie schlichen davon, einer nach dem anderen. Zuletzt der rothaarige Schiffer, die Ziehharmonika unterm Arm, lauernd, geduckt, den freien Arm über die Stirn gekrümmt, als fürchte er einen Schlag. Er riß, während er durchs Zimmer schlich, die blaue Decke vom Tisch. Flaschen und Gläser stürzten klirrend zu Boden. Da schrie Märta aufs neue und floh. Antje, steil aufgerichtet, das bleiche Gesicht starr und von Tränen überströmt, wollte nach dem Großvater greifen, der sich ihr näherte, mit weißem Gischt vor den Lippen. Da faßte sie das Entsetzen. Laut aufweinend lief sie der Schwester nach, besinnungslos, den Deich entlang, durch Nacht und Mond, weiter, immer weiter, mit aufgehobenen Armen, bis zur Schleuse von Glückstadt, wo sie ohnmächtig hinsank.

Regungslos, mit weit geöffneten Augen stand die Magd unter der Tür. Sie sah, wie der gelähmte Schenkwirt sich an die Tischkante klammerte, den zermürbten Arm ausstreckte, der nackt und zitternd aus zerrissenen Hemdärmeln nach Streichhölzern langte, die verstreut auf dem Tisch lagen. Sie hörte ihn murmeln:

»Sodom und Gomorra! Feuer und Schwefel auf Sodom und Gomorra.«

Da knickten die Beine des Alten zusammen wie trockene Hölzer. Ein heiserer Seufzer quoll über die Lippen. Dann fiel er dumpf hin.

Die Magd, verstört und zitternd, schleppte ihn die Treppe hinauf und hob ihn mühsam aufs Bett.

Der Himmel war ohne Wolken. Rund und rein ruhte im bleichen Blau der Mond. Das Gesicht des alten Thieß Thomsen war starr wie gefrorener Schnee.

Auf dem Stuhl neben dem Bett hockte die Magd. Sie stieß das Vaterunser heraus, zerrissen, von Angst gepeitscht immer aufs neue, bis das Frühlicht seine grauen und feuchten Schleier ins Geäst der Nußbäume hängte.


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