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Über die Dünen von Sylt sprang der Wind. Schaum von der Brandung flog vor ihm her wie Flocken von Schnee.
Der Reismakler Bödewadt aus Hamburg, der sich mit seiner schmalen Frau dem Badestrand entgegenarbeitete, wandte den Kopf noch einmal zum Strohdachhaus zurück, aus dem sie gekommen waren und sah, wie Beate Hörn müde und schwerfällig um die Süderecke ihres Hauses schritt und in der Dunkelheit des Kuhstalles verschwand. Er sagte zur Frau, deren Leinenkleid wild gegen seine Knie flatterte:
»Findest du nicht auch, daß Fräulein Hörn seit gestern abend sehr wunderlich ist?«
»Nein, ich habe nichts gemerkt.«
Sie lachte, da sie fühlte, wie der stürmende Wind ihr die Worte von den Lippen riß, noch ehe sie ausgesprochen waren.
»Sie geht umher, wie verbaast,« meinte der Reismakler, dann mußte er schweigen, denn der Wind warf sich ihm so ungestüm an die Brust, daß sich die Gurgel verschnürte.
Sie hatten Mühe, vorwärts zu kommen. Im wilden Fauchen des Windes hörten sie ein Klingen und Klirren wie von zerspringendem Glas: die Nordsee, die mit weißgestirnten Wogen zum Strand brandete und schäumend zerbarst.
Beate Hörn setzte sich schwer auf den dreibeinigen Melkschemel. Die Magd lag krank in der Kammer. Die rotbunte Kuh, die sie noch nicht zur Weide hatte bringen können, da sie den Badegästen hatte das Frühstück auf den Tisch stellen müssen, stand reglos vor ihr mit warm dampfendem Leib, eingehüllt in Grasgeruch und Milchdunst, und fraß gemählich aus der Raufe, mit eintönig mahlendem Geräusch. Beate Hörn, das breite, von Seeluft braungebackene Gesicht über runden Schultern unverwandt auf das milchgeschwollene Euter gerichtet, die geröteten Hände gespreizt auf schwer ausladende Hüften gestemmt, saß minutenlang reglos. Plötzlich kniff sie die wasserblauen Augen zusammen, gab sich einen Ruck, daß ihre breiten Wangen sich bebend aus der Spannung lösten, griff zum Euter und begann zu arbeiten. Die weiße Milch stürzte Strich um Strich in den Eimer, schäumend und rauchend.
»Ich bin unklug.« Ihre harten Lippen wurden krumm. Dann schwieg sie wieder, arbeitete, bis das Euter verschrumpft unterm Tierleib hing, und trug den bis zum Rand gefüllten Eimer in die Küche. Das Haus war leer. Die Badegäste, die bei ihr wohnten, das Reismaklerehepaar aus Hamburg und die beiden ältlichen Lehrerinnen aus Tondern, badeten am Strand. Auf dem langen Tisch in der großen roten Vorderstube, durch deren fünf Fenster man die gelben Dünen sah und den blanken Strich der Nordsee, stand unordentlich das bunte Frühstücksgeschirr. Fremd blickte Beate Hörn über alle Dinge. Sie strich mit schwerer Hand über die gewölbte Stirn, obwohl ihrem festgeflochtenen gelben Haar keine Strähne entfallen war. Sie war fünfundvierzig Jahre alt. Fünfundvierzig Jahre lang kannte sie diese Stube mit den ungefügen Möbeln, dem wulstigen grünen Kachelofen in der Ecke, der rauchbraunen Balkendecke und den lehmgelben Wänden. Warum war plötzlich alles so kalt und unbekannt, so als hätte sie es nie gesehen? Mit müden Händen, die schwer waren wie Schotenblöcke, räumte sie das Geschirr vom Tisch und trug es in die Küche zum Trog neben der Pumpe. Die letzte Tasse, eine große blaue Friesentasse, aus der Reismakler Bödewadt immer trank, wenn er auf Tornum war, und die der Urgroßvater aus Röm mitgebracht hatte, fiel auf die roten Klinkerfliesen und zerschellte.
Sie ging in den Stall, machte die Kuh los und zog sie über den Hof, schwer, mit vorgebeugtem Oberkörper und angestrengtem Gesicht, den schmalen Sandweg hinauf bis zur Weide, wo das Tier das Haupt schnaufend in die kurze, dunkelgrüne Grasnarbe senkte. Der Wind fuhr mächtig heran, griff in Beate Hörns gelbes Haar, riß ein paar blaue Nadeln locker und packte den Rock, so daß er wie ein knatternder Feuerbrand um die starken Beine und breiten Hüften loderte. Sie atmete tief und schnell, und fühlte Befreiung. Nun war sie fertig mit dem, was gestern geschehen war.
Sie kämpfte sich nach vorn, bis sie auf der niedrigen Wurt stand. Zu tausend gelben kurzen Wellen erstarrt, rollte eine Sandfläche bis zu den Dünen, struppige Disteln mit staubig violetten Blüten und dürre Halme trockenen Strandhafers entwuchsen spärlich den flachen Mulden. Hinter den Dünen schimmerte blendend weiß in der Morgensonne wie ein unablässig geschwungenes, weiß zerreißendes Seil die Brandungskante des Meeres, das in stahlblauer blankgescheitelter Dünung unter silbern gehämmerter Himmelswölbung heraufschwankte aus braunem Kimmungsrauch. Den Kopf vorgestreckt, die Hände geballt, horchte Beate mit großen wilden Augen auf den dunklen ewig gleichen Ton, den der Wind aus der Tiefe der See emporriß, und in die Herzen der Menschen trug, wie Schicksalsruf aus den rätselvollen Abgründen der Ewigkeit.
Als sie die große Stube ihres Hauses betrat, erschrak sie bis in ihr innerstes Fleisch. Auf der Ofenbank saß dicht neben dem dickbauchigen Kachelofen der Schiffer Jasper Arp aus Westerland, die mächtige und vierkantige Gestalt zusammengehauen wie von Unglück. Er sah sie an, wie er sie gestern angesehen hatte, als sie einander auf der langen flachen Düne begegnet waren, nördlich von Westerland, groß und traurig, in der Tiefe verstört. Sie mußte sich an den Türpfosten lehnen und in den zwei Sekunden, in denen es totenstill in der Stube war, erlebte sie aufs neue die Stunde, in der sie gestern mit dem Schiffer Jasper Arp gesprochen hatte, zum ersten Male seit der Nacht, in der er vor dreiundzwanzig Jahren auf Kapitän Matsens Frachtschoner auf große Fahrt gegangen war. Als er heimkehrte und mit eigenem Schiff zu fahren verlangte, heiratete er die reiche Anna Maak, die ihm in neun Jahren fünf Kinder gebar. Wenn sie einander begegneten, Beate und Jasper, auf den Dünen von Tornum oder Westerland, stieg beiden das Blut in die Stirn, doch sie blieben stumm und gingen aneinander vorbei, steif, die Gesichter abgewandt, ohne Gruß. Gestern auf der langen Düne hatte er sie festgehalten. Sein Gesicht war zerstört von Gram. Er sprach rasch und stoßend. Dann stockte er und schwieg. Sie wußte es längst. Die Frau hatte ihn zugrunde gerichtet, die reiche Frau, die neben ihm gelebt hatte mit eiskaltem Blut hart und hochmütig. Nun hatte er vor Beate gestanden, gealtert, unruhig, hungrig nach Liebe. Doch Beate war ihm entlaufen, mit einem Laut auf den Lippen, rauh und höhnisch, vor dem sie selber erschrak.
Sie starrte zur Ofenbank hinüber. Da saß er wie ein Schiffbrüchiger, den die See auf den Strand gespült hat.
Sie löste sich vom Pfosten und ging zu ihm hin.
»Was willst du von mir?« fragte sie hart. Ihre breiten Lippen zitterten.
Der Mann hob den Kopf aus den kantigen Schultern. Seine großen toten Hände machten eine hilflose Bewegung.
»Ich habe dreiundzwanzig Jahre nach deinem Herzen gehungert, Beate. Ich bin einsam gewesen.«
»Einsam?«
Beate lachte rauh. Was wußte dieser Mann von Einsamkeit. Kälte fror durch ihr Blut, aus Mauern, die hoch und schwarz sie umstanden. Wer hatte je gefragt, wie ungeheuer einsam sie selber gewesen war in dreiundzwanzig Jahren? Einsamkeit des Blutes, Einsamkeit der Nächte, friedlose Sehnsucht, die in tränenlosen Augen erfror, wenn sie in der Nacht ruhelos im breiten Bett der Eltern lag, verhöhnt vom Wind, der gegen das schwarze Kammerfenster rauschte.
»Du hast eine Frau,« sagte sie keuchend, »eine Frau und fünf Kinder.«
Er hob sein Gesicht zu ihr hin. Sie sah seine Augen, die schwer waren von Traurigkeit und Liebe. Er sagte stockend:
»Ich habe keine Frau und meine Kinder lieben mich nicht.«
Es war eine Weile totenstill in der Stube. Von oben kam knarrendes Geräusch. Die kranke Magd wälzte sich im Bett. Da stand der Mann auf, ging schwer zu Beate hin, legte seine großen, von Arbeit zerhackten Hände auf ihre breiten und weichen Schultern und küßte ihren Mund, der kalt war wie Eis. Sie blieb stumm. Da ließ er sie los, schwankte zur Bank zurück und grub den Kopf in die Hände.
Beate stand lange vor ihm, ohne sich zu regen. Sie atmete schwer. Ihr Blut sprang auf, ihr langgebanntes Blut. Gedanken stritten hart gegen Mitleid und Liebe. Endlich zerbrachen Widerstand und Scham. Sie sagte tonlos:
»Du kannst zu mir kommen, so oft du willst.« Ihre Augen gingen über ihn hinweg.
Der Mann ließ die Hände von der Stirn sinken und blickte zu ihr hinüber. Sie stand im Licht. Ihr Gesicht war von allen Härten befreit und ihre Augen trächtig von Liebe. Da sagte er leise:
»Ich habe dich lieb, Beate.«
Sie murmelte kaum hörbar, ohne den Blick aus der Ferne zu lassen:
»Ich habe dich immer lieb gehabt, Jasper Arp.«
Die Magd wurde gesund und mußte aus dem Haus. Die Ferien gingen zu Ende. Die ältlichen Lehrerinnen kehrten nach Tondern zurück, braun von Wind und See. Der hagere Reismakler Bödewadt aus Hamburg fragte beim Abschied, ob er auch im nächsten Sommer das Giebelzimmer für sich und seine Frau bekommen könnte. Beate entgegnete mit einem sonderbaren Lächeln und ihre kleinen Augen blickten traumhaft durch die Fenster in den hohen weiten Himmel:
»Ich kann es Ihnen nicht versprechen. Wer weiß, was kommt.«
Nun war das Haus leer von Menschen. Nun war sie ganz allein. Nur die Kuh fraß im Stall und zwei Schweine hausten im Koben. Wenn die Sonne rotglühend vom Festland herauf kam, zog Beate, so lange es noch Gras gab, die Kuh zur Weide und holte sie abends zurück, wenn die im Kimmungsdunst verbrennende Sonne aus der Brandung rotrauchendes Blut und aus den Dünen der Insel Feuerherde machte. Zuweilen, wenn sie in der Dunkelheit auf Jasper Arp wartete, dachte sie daran, wie vor undenklicher Zeit, als sie noch jung war und das krasse gelbe Haar im Sonnenlicht um ihr Gesicht stand wie ein Kranz goldsprühender Dornen, ein Badegast zu ihr gesagt hatte:
»Beata, das heißt die Glückliche!«
Sie hatte bitter an dieses Wort gedacht, wenn Einsamkeit sie bleiern umschloß. War nun das Glück da? Sah es so aus? Sie blickte stumm und grübelnd in die schweigsame Nacht, bis Angst in ihr aufstieg, die sie nicht begriff. Dann legte sie ihr breites Gesicht in die Hände und weinte und wußte nicht, aus welcher Tiefe die Tränen kamen. Dann war Jasper da und alles war gut. Es mußte so sein. Schicksal wollte es so. Wo ist der Mensch, der sich wehren kann, wenn das Fleisch brennt und das Blut in den Schläfen wühlt wie Feuer. Liebe gibt Glück. Liebe gibt Einsamkeit, die sich trägt wie ein Wunder, das sich täglich erneut.
Jahre gingen hin. Sie war nun zweiundfünfzig. Sie ertrug stumm die Blicke, die ihr die Leute von Tornum und Westerland nachschickten, wenn sie ihre Wege besorgte und überhörte mit unbewegtem Gesicht die Fragen, die man versteckt stellte, wenn sie in dem Kramladen von Tornum einkaufte.
Als Hans Holp, der alte Landarbeiter, der ihr zum Herbst den kleinen Acker bestellte, sie mit verschwommenen Augen betrachtete und mit krummem Lächeln fragte: »Na, Jungfrau Beate, haben wir bald Taufe in der Kirche von Tornum?« riß sie seine Hand von der Pflugschar, stumm, Flammenröte auf der Stirn und schickte ihn von der Arbeit. Dann griff sie selber zum Pflug und trieb das schimmernde Messer durch den sandigen Acker. Während sie arbeitete, die Stirn vorgebeugt, Brust und Arme gespannt, dachte sie finster an die Frauen ihres Geschlechtes, die Generation um Generation mit ihren Männern ehrbar gelebt hatten, harte Inselfriesen von strengen Sitten und gebändigtem Blut. Und je tiefer unter der Arbeit ihr Rücken sich krümmte, desto schwerer fühlte sie die Bürde, die sie belastete, ausgeschieden zu sein aus den Reihen der ehrbaren Frauen von Sylt, Beate Hörn, die letzte des strengen Geschlechts.
Da kam über die Dünen Jasper Arp. Sie sah ihn und hemmte den Pflug. Er schritt aufgereckt, das Gesicht froh und von Sonne umspannt. Beatens Augen füllten sich mit Licht. Ihr Blick umfing ihn unverwandt. Wie stark und hell er geworden war. Wie froh seine Stirn.
Von ihrer Seele wälzte sich Bergeslast.
Sie reckte sich auf. Ihr Körper, prall umschlossen vom Kleid, war straff. Um Stirn und Schläfen, das ergrauende Haar zerteilend, sprang hart der Wind, der mit dem Schiffer von der Düne kam.