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Seit dieser Nacht ging Johannes Timpe wie ein verschlossener Mensch umher, der jedermann ausweicht, weil er befürchtet, nach Dingen gefragt zu werden, die ihn in Verlegenheit bringen würden.
An dem Tage bereits, an dem man die irdische Hülle des Großvaters zu Grabe getragen, hatten Jamrath, Deppler und Anton Nölte, die den Meister erst wenige Tage vorher gesehen hatten, sich gegenseitig ihr Erstaunen über sein verändertes Aussehen zugeflüstert.
Er machte in der Tat den Eindruck, als wäre er plötzlich um zehn Jahr älter geworden. Die entsetzliche Enthüllung, die ihm die letzten Worte Gottfried Timpes gebracht hatten, lasteten wie das Bewußtsein eines selbstbegangenen Verbrechens auf seiner Seele. Am Tage des Begräbnisses war die Nachricht eingetroffen, daß Franz krank sei und das Zimmer nicht verlassen dürfe. Dafür hatte er einen großen Kranz gesandt, der dem Großvater mit in die Gruft gelegt werden sollte. Nun fand Johannes erst recht eine Bestätigung der Anklage seines Vaters. Trotz der Trauer war eine stumme Wut bei ihm hervorgebrochen. Er hatte im geheimen den Kranz in Stücke zerrissen und ihn mit den Füßen zertreten.
Die ersten Wochen, die diesen Begebenheiten folgten, waren die entsetzlichsten in des Meisters Leben. Er schlich fast nur umher, betrat nur in den notwendigsten Fällen die Werkstatt und schloß sich stundenlang in seiner Arbeitsstube ein. Sprach ihn einer der Gesellen an, um ihn nach etwas zu fragen, so schreckte er zusammen; und es bedurfte erst einer Wiederholung der Frage, um ihn aus der halben Betäubung, in der er sich befand, zu erwecken. Alles in allem bot er das Bild eines an Körper und Seele gebrochenen Menschen. Thomas Beyer meinte eines Tages, der Meister sähe aus, als wäre er eine Weile lebendig begraben gewesen und wieder zum Leben erweckt worden. Wenn die anderen Gehilfen die Veränderung des Meisters dem plötzlichen Tode des von ihm so sehr geliebten Vaters zuschrieben, so war der Altgeselle wie gewöhnlich anderer Meinung und blickte tiefer. Timpe hatte keine Silbe von dem nächtlichen Diebstahle erwähnt, wohl aber hatte Beyer von Krusemeyer davon erfahren, wenn auch der Wächter ihm ebenfalls die Geschichte von dem »zerlumpten, graubärtigen Kerl« erzählt hatte. Am auffallendsten war es Beyer, daß über den nächtlichen Vorfall keine Anzeige erstattet wurde. Als er Krusemeyer seine Verwunderung darüber aussprach, meinte dieser, Timpe wolle keine Scherereien haben; um so weniger, da er keinen Schaden erlitten habe, denn es sei nichts gestohlen worden. Der Meister habe auch erklärt, er könne an die Wirklichkeit des Vorganges gar nicht glauben, er müsse alles für eine Vision oder einen bösen Spuk halten.
Und Visionen hatte Timpe auch am hellen Tage. Wo er ging und stand, sah er den Großvater in seinen letzten Augenblicken: wie er mit halberloschenem Auge nach der Tür deutete, vor der er zusammengebrochen war – hörte er ihn die fürchterliche Anklage aussprechen: »Dein Sohn, ein Dieb!« Und dieses letzte Wort gellte dem Meister in tausend verschiedenen Tonarten entgegen: früh, wenn er sich von seinem Lager erhob, den ganzen Tag über, des Abends, wenn er sich zur Ruhe legte, und des Nachts, wenn er aus wildem Traume erwachte. Einstmals hatte er im Schlafe laut um Hilfe gerufen, so daß Karoline bestürzt Licht machte und vor Furcht zitternd ihn weckte. Als er die Augen aufschlug, war er förmlich in Schweiß gebadet. Es war ein schlimmer Traum gewesen: Die Polizeibeamten hatten seinen Sohn gefesselt, um ihn als Verbrecher ins Gefängnis zu führen, und er wollte sich dem mit Gewalt widersetzen. Schließlich packte man auch ihn, um ihn wegzuführen. Die Gewalt hatte ihm im Schlafe die Zunge gelöst.
Die Erinnerung an dieses Traumgespenst wirkte nur noch niederdrückender auf ihn, denn es hatte ihm die ganze Verworfenheit seines Sohnes verkörpert vor die Augen geführt. Was er am meisten befürchtete, war, daß irgend jemand seinen Sohn in jener Nacht erkannt haben und daß sein Name dadurch öffentlich entehrt werden könnte. Im geheimen horchte er überall herum, ob sein Verdacht begründet sei. Fast allabendlich suchte er den Stammtisch bei Jamrath auf und blieb länger als sonst beim Biere. Sämtliche Gäste wußten vom plötzlichen Tode des alten Timpe und auch von dem angeblichen Diebstahl, denn Krusemeyer und Liebegott hatten davon gesprochen. Kam dann das Gespräch zufälligerweise auf den Vorfall, so spielte der bekannte »zerlumpte, graubärtige Kerl« seine Rolle. Der Meister atmete auf und ging befriedigt nach Hause. Auch Krusemeyer und den Schutzmann forschte er noch einige Male aus; um ganz sicher bei ihnen zu gehen, sprach er von ihren »Luchsaugen«, so daß der Hüter der Nachtruhe sich betroffen abwandte, um seine Verlegenheit zu verbergen.
»Dieser Spitzbube!« sagte er einmal zu Krusemeyer. »Schade, daß er Ihnen entwischt ist. Es wäre doch schön gewesen, wenn wir ihn auf frischer Tat ertappt und ihm das fünfte Gebot auf dem Rücken eingeprägt hätten ... Also einen grauen Bart hat er gehabt? Der ist gewiß im Zuchthause gereift. Ja, ja, lieber Krusemeyer, wenn man wie Sie noch gesunde Augen hat.«
Und während er das sagte, blickte er den Wächter listig an, um aus dessen Mienenspiel zu ersehen, wie seine Worte aufgenommen wurden. Krusemeyer machte zu dieser Schmeichelei das Gesicht eines Menschen, der nicht weiß, ob er weinen oder lachen soll, und sagte schließlich voller Überzeugung: »Liebegott und ich gehören zur Polizei, und die sieht alles, auch wenn sie die Diebe manchmal nicht bekommt.« Seine Gedanken aber lauteten: Wenn du wüßtest, was ich weiß, armer Meister Timpe!
Es war ein richtiges Versteckenspiel, das sie widerwillig trieben.
Auch in der Nachbarschaft spionierte Timpe, um schließlich zu demselben Resultat zu gelangen. Niemand teilte mit ihm sein Geheimnis. Wenn auch in dieser Beziehung Beruhigung über ihn kam, so änderte das sein Wesen doch nicht. Er wandelte noch scheuer als sonst umher. Das Bewußtsein, daß trotz alledem sein Sohn ein Dieb war, wich nicht von ihm; und der Gedanke, daß er der einzige Mensch auf Erden sei, der um die Tat Franzens wisse, sie aber um seines Namens willen nicht zur Sühne bringen dürfe, ließ ihn in der Einbildung leben, daß auch er teilhaftig an einem Verbrechen, daß auch sein Gewissen für ewige Zeiten belastet sei. Und das erweckte in ihm ein Gefühl der Furchtsamkeit, der Selbsterniedrigung, so daß die leiseste Hindeutung auf die Unglücksnacht genügte, um ihn in die größte Angst zu versetzen. Eines Nachmittags betrat er die Werkstatt, als gerade der Name seines Sohnes genannt wurde. Thomas Beyer war Franz begegnet, dieser aber wie mit Absicht nach der anderen Seite der Straße gegangen, um ihm auszuweichen. Der Meister zitterte vor Schreck, brauste dann aber auf, so daß die Gesellen zusammenfuhren.
»Sie haben sich gar nicht von meinem Sohne zu unterhalten, zumal hinter meinem Rücken«, sagte er erregt zu dem Altgesellen. »Ich verbiete Ihnen das ein für allemal.«
Er drehte sich kurz um und schritt wieder seinem Arbeitszimmer zu. Thomas Beyer schwieg, blickte ihm aber kopfschüttelnd nach. Nach einer Weile rief ihn Timpe zu sich herein, bat für seine vorherige Unhöflichkeit um Verzeihung und forschte nach verschiedenen Dingen: wie Franz aussehe, was er für einen Eindruck auf Beyer gemacht habe, ob er hier bei seinem Hause vorübergegangen sei usw.
Dabei hafteten seine Augen auf des Altgesellen Lippen; und die Hast, mit der er fragte, das nervöse Zittern der Hände, die ihre einstige Ruhe verloren hatten, bewiesen Beyer nur zu sehr, wie krankhaft das Gebaren Timpes war. Und als er von dem stattlichen Äußern des Sohnes sprach und Timpe dabei langsam sein Haupt senkte, als wolle er sich in süße Erinnerungen versenken, zeigte sich, wie sehr das Herz des Meisters noch an seinem ihm fremd gewordenen Kinde hing. Aber er ermannte sich bald wieder. Er schämte sich seiner Weichheit nach all den Erfahrungen, die er mit Franz gemacht hatte.
»Wenn Sie einmal einen Sohn bekommen sollten, lieber Beyer«, sagte er rauh, dann vergessen Sie nicht, ihm frühzeitig die Zuchtrute zu geben, wie Großvater selig zu sagen pflegte. Und merken Sie beizeiten, daß der Junge Ihnen eines Tages den Stuhl vor die Tür setzen könnte, dann bitten Sie den lieben Gott, er möge das Kind lieber wieder zu sich nehmen. Besser, daß es stirbt, als daß es lebt zum Hohne seiner Eltern.«
»Entsinnen Sie sich noch, Meister, was ich Ihnen vor Jahren an einem Donnerstag im Garten gesagt habe? Ich meine die Geschichte von den Sperlingskindern, die so lange mit den Stieglitzen verkehrten, bis sie sich selbst für solche hielten ... Es ist alles so eingetroffen: Sie sind der kleine Vater, auf den der lange Schlingel von Sohn herabblickt. Ich will offen wie immer reden: Hätten Sie Ihren Sohn ein Handwerk lernen lassen, so wäre er bei den einfachen Sperlingen geblieben und hätte sich nimmer seines schlichten Gefieders geschämt. Die Sucht vieler Eltern aus Ihrem Stande, die Kinder etwas Größeres werden zu lassen, als sie selber sind, trägt viel dazu bei, den »goldenen Boden« immer mehr zu durchlöchern, bis nichts mehr von ihm vorhanden sein wird ... Sehen Sie, Meister, da habe ich neulich einen Vortrag gehört über die Zuchtwahl. So ist es auch mit dem Handwerk. Wenn die Meister ihre Söhne zu guten Handwerkern machten und die Söhne diesem Prinzipe ihren dereinstigen Kindern gegenüber treu blieben, so würden immer wieder aufs neue kräftige Generationen entstehen, die ein gutes Fundament unter den Füßen hätten. Und wo das ist, da ist bekanntlich gut bauen.«
Er machte eine Pause, während welcher Timpe zustimmend nickte. Dann begann er aufs neue:
»Meister, Sie sind einer der besten Menschen, die ich kennengelernt habe. Sie haben niemandem etwas zuleide getan, haben von früh bis spät fleißig gearbeitet, sind gerecht gegen jedermann gewesen, und doch hat es den Anschein, als wären Sie auf der Welt überflüssig, als würde die Großindustrie eines Tages siegreich über Sie hinwegschreiten. Meister, Sie müßten blind sein, wenn Sie nicht einsähen, daß das Heil nur in der Sozialdemokratie liegt. Treten Sie zu uns über, besuchen Sie unsere Versammlungen – heute abend schon! Geben Sie Ihre Stimme bei der nächsten Reichstagswahl einem Manne aus dem werktätigen Volke, der die Leiden der Kleinmeister kennt, der mit beredten Worten Ihre Rechte vertreten wird. Dann wird auch für Sie der Tag der Vergeltung kommen – gegen den da drüben, der einen einzigen Treibriemen höher schätzt als die Existenz von hundert Familien; der Ihnen das letzte Stück Brot aus dem Munde wegnehmen wird, so wahr ich Thomas Beyer heiße. Die Welt läuft nicht rückwärts, denn sie muß vorwärts gehen. Ich weiß, Sie sind ein gottesfürchtiger Mann, aber Gott will nicht, daß ein Gerechter leide um hundert Ungerechter willen. Und selbst die Könige sind doch demütig vor Gott... Schlagen Sie ein, Meister – solche Leute können wir gebrauchen.«
Während der Altgeselle sprach, hatten die Wangen seines männlichen Gesichts sich leicht gerötet. Die Augen leuchteten, das Antlitz hatte sich verschönert. Beyer hatte nichts von einem Fanatiker. Es sprach aus ihm die Anschauung eines ehrlichen Menschen, der imstande ist, sich bis zur Schwärmerei zu versteigen, wenn es sich um die Verteidigung seiner Idee handelt. Seine Stimme klang weich, und in der Ruhe, mit der er zu sprechen pflegte, lag etwas Seltsames, Bestrickendes, dem seinesgleichen nicht zu widerstehen vermochten. Er gehörte zu den Leuten, deren Rede man gern lauscht, weil sie immer etwas von Interesse zu sagen haben.
Er war auf Timpe zugetreten und hatte seine Hand auf dessen Schulter gelegt. Und nun zuckte der Meister, der ihm ohne Unterbrechung zugehört hatte, zusammen und trat einen Schritt zurück. Es war ihm, als stände in diesem sonderbaren Menschen, den er seit mehr denn zwanzig Jahren noch nie so gesehen hatte wie heute, plötzlich eine veränderte Gestalt vor ihm, ein böser Dämon, der ihn in Versuchung führen wolle.
Sein ganzes Ich, sein besseres Selbst bäumten sich auf bei der Zumutung des Gesellen. Er, der königstreue Handwerker, der seine Liebe zur Monarchie und dem angestammten Herrscherhause während eines Menschenalters nicht verleugnet hatte, sollte am Spätabende eines Lebens seiner tiefeingewurzelten Anschauung untreu werden und zur Sozialdemokratie übertreten: jener blutroten Fahne zuschwören, die dereinst über die Leichenfelder der halben Menschheit hinweg dem Sturmschritt der Massen als Siegeszeichen vorangetragen werden sollte? Er, ein Anhänger der Umsturzpartei der sozialen Revolutionäre? Im Augenblick erschien ihm schon der bloße Gedanke an diese Möglichkeit wie ein Verbrechen. Er dachte an die patriotische Gesinnung Gottfried Timpes und wie oft ihm dieser von Franz David Timpe erzählt hatte als von einem Manne, der zwei Königen treu gedient hatte. Ganze Generationen seines Stammes hatten Gott und den Herrscher gefürchtet und geliebt, und nun sollte er – –? Er vollendete den Gedankensatz nicht, denn sein Entschluß stand fest trotz Schicksalsschlägen, beginnendem Ruin und dem Körnchen Wahrheit, das in Beyers Worten lag.
»Niemals, niemals!« sprach er mit der Stimme der Überzeugung und wandte seinem Gesellen den Rücken.
Thomas Beyer aber begann aufs neue auf ihn einzureden – mit der Zähigkeit eines Agitators, der alle Gründe ins Gefecht führt, um zu siegen und zu triumphieren. Immer röter färbte sich sein Gesicht, immer heller leuchteten die Augen, immer beredter wurden die Lippen.
»Meister, jeder Mensch ist das Produkt seiner Verhältnisse. Die moderne Gesellschaft mit ihrem Produktionsschwindel hat Sie auf dem Gewissen ... Die Leute, die Sie zugrunde richten, sind Ihre natürlichen Feinde, gegen welche Sie sich aufbäumen müssen, um wieder zu Ihrem Rechte zu gelangen. Gehen Sie, wohin Sie wollen – nur bei uns wird man Ihnen die Hand reichen, denn wir sind Ihre einzigen wahren Freunde. Die Armut kann niemals heucheln, sie gibt sich immer, wie sie ist. Meister, Meister, kommen Sie zu uns und beten Sie den neuen Heiland an.«
Timpe war das zu viel. Man sollte ihn nicht für schwach halten. Außerdem war er hier noch Herr im Hause, der bei aller Rücksicht und Toleranz gegen seine Arbeitnehmer eine derartige Propaganda nicht dulden durfte.
»Genug jetzt, Beyer«, sagte er mit leichtem Zorne. »Das sind Phrasen, weiter nichts als Phrasen, mit denen Sie die Dummen fangen können, nicht aber aufgeklärte Männer. Sie sind mir ein tüchtiger Arbeiter und auch lieber Freund geworden, wenn Sie aber derartige Gespräche nicht lassen können, so müssen wir uns in aller Güte trennen ... Gehen Sie!«
Der Altgeselle lächelte leicht und schien nicht im geringsten berührt von den letzten Worten.
»Ich habe mir gelobt, bei Ihnen auszuhalten, solange noch ein Stück Arbeit vorhanden ist, Meister; dabei bleibt es«, erwiderte er, drehte sich kurz um und entfernte sich. An der Tür aber blieb er wieder stehen und sagte mit der Stimme und Gebärde eines Propheten: »Meister, Meister, Sie werden einmal anders denken.«
Timpe war ärgerlich geworden, so daß er ein Selbstgespräch eröffnete, worin die Worte »Narrenspossen«, »Seelenfängerei« und »sozialistischer Unsinn« eine Hauptrolle spielten. Das hatte gerade noch gefehlt, daß man ihn in seinem seelischen und geschäftlichen Elend noch mit der Politik kam, um ihm den Kopf gänzlich zu verwirren. Und doch mußte er sich während der nächsten halben Stunde immer wieder die Worte des Altgesellen ins Gedächtnis zurückrufen. Hatte er nicht dem Staate Jahrzehnte hindurch als treuer Bürger gedient, seine Pflichten als solcher vollauf erfüllt? Wo war nun der Schutz, der ihn vor dem sicheren Verderben bewahrte?
Zu dem tiefen Herzenskummer um seinen Sohn, zu den sonstigen Bekümmernissen des Lebens gesellte sich nun auch der Zwiespalt zwischen Bürgerpflicht und dem Zweifel an der Richtigkeit seiner bisherigen Überzeugung. Oft grübelte er stundenlang nach, ohne jemals mit Beyer darüber ein Wort zu wechseln, denn der Stolz hielt ihn davon ab. Das Schlimmste war, daß ein bitterer Menschenhaß anfing, nach und nach seine Seele zu befruchten.
Gleich nach Weihnachten sprach die ganze Nachbarschaft nur noch von der bevorstehenden Hochzeit seines Sohnes mit Emma Kirchberg. Ließ er sich irgendwo sehen, so stand die erste Frage, die man an ihn richtete, mit diesem Ereignis in Verbindung.
»Nun, Herr Timpe, haben Sie Ihren alten Bratenstecher schon hervorgeholt?« fragte ihn Nölte eines Mittags, als er vor der Haustür stand. »Da werden Sie einmal wieder Staat machen und den Galanten spielen können ... Und Ihre Frau – wie werden alte Erinnerungen bei ihr auftauchen! Ja, ja – so eine Hochzeit unter feinen Leuten, die lobe ich mir. Wissen Sie – wenn Sie so eine Pulle mit Wein beiseite schaffen können, dann denken Sie an mich. Du mein Gott, ich würde mich schon freuen, wenn ich nur einmal am Korken riechen könnte. Und meine Minna erst und die Kinder –«
Timpe geriet in Verlegenheit. Dann lächelte er gezwungen und erwiderte: »Ja, das wird schön werden ... Ich werde an Sie denken, lieber Nölte.«
Als er sich wieder im Hause befand, mußte er an sich halten, um nicht laut aufzuschluchzen. Es war immer noch die weiche Stimmung, die ihn überkam, wenn er an das Glück seines Sohnes dachte, dem er fernbleiben mußte.
Am ersten Neujahrstage traf ein seltenes Ereignis ein. Als der Meister, durch Frau Karoline gerufen, die gute Stube betrat, fand er eine elegant gekleidete junge Dame vor, der die Meisterin den Ehrenplatz auf dem Sofa eingeräumt hatte. Das ganze Zimmer duftete nach dem Parfüm der Besucherin. Es war Fräulein Emma Kirchberg, die er erst erkannte, nachdem sie ihren Schleier gelüftet hatte. Timpe traute seinen Augen nicht. Bis er sich von seiner Überraschung erholt hatte, fragte er höflich, aber gemessen nach dem Begehr des »gnädigen Fräuleins«. Aus jedem Worte klang der Groll gegen die feindliche Nachbarschaft. Er polterte die Frage so rauh hervor, daß Karoline, die sich allem Anscheine nach sehr freundlich mit Urbans Stieftochter unterhalten hatte, ein erschrecktes Gesicht zeigte und ihn durch Zeichen bat, seine Heftigkeit zu zügeln. Er aber nahm keine Rücksicht. Gehörte Emma nicht zur »Sippschaft da drüben«, die sein Unglück beschlossen hatte, mußte sie nicht mit Franz unter einer Decke stecken, also auch wissen, wie das Verhältnis zwischen Vater und Sohn lag? Was wollte sie also hier? War sie gekommen, um sich an seinen Qualen zu weiden?
Emma hatte sich sofort erhoben und ihm die Hand entgegengestreckt. Sie glaubte dem unfreundlichen Auftreten des Meisters mit um so größerer Liebenswürdigkeit begegnen zu müssen.
»Gestatten Sie mir, Herr Timpe, Ihnen meine aufrichtigsten Glückwünsche zum neuen Jahre auszusprechen«, sagte sie mit der ganzen Herzlichkeit, die ihr zu Gebote stand. »Wenn Ihre Meinung von mir nicht gar zu schlecht ist, so werden Sie von der Wahrhaftigkeit meiner Gefühle für Sie überzeugt sein ...«
Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber stutzte nun doch. Timpe hatte sich nicht vom Flecke gerührt, zeigte auch nicht die geringste Neigung, die dargereichte Hand zu ergreifen, so seltsam er auch von dem Klange der weichen Stimme und dem bittenden Ausdruck der Augen berührt wurde. Der Kummer, der seit Jahren an ihm fraß, der unauslöschliche Haß gegen Urban und alles, was zu ihm gehörte, hatten ein krankhaftes Mißtrauen in ihm erweckt, das ihn in jedem Menschen außerhalb des Hauses einen Feind erblicken ließ, dem er nicht trauen dürfe. Wo war seine bei jedermann sprichwörtlich gewesene Höflichkeit geblieben, wo die vielen Verbeugungen, die er stets bereit hatte, wenn ein »feiner Besuch«, wie er zu sagen pflegte, ihn beehrte? Wie er so dastand, die Arbeitsmütze in der linken Hand, die rechte im Brustlatz seiner Schürze verborgen, war er nur noch der eckige, rauhe Handwerker, der, durch des Lebens Verdruß gestachelt, eine Genugtuung darin fand, herausfordernd zu erscheinen.
Er hatte die Absicht, kurz und bündig zu erklären, daß er nicht die geringste Gemeinschaft mehr mit »denen da drüben« haben wolle, als seine getreue Ehehälfte, die ihm den Unmut vom Gesichte abgelesen hatte, sich ins Mittel legte.
»Johannes, das Fräulein hat dir doch nichts getan, es meint es ja so gut. Wer wird denn einen Glückwunsch zurückweisen«, sagte sie vorwurfsvoll. Das milderte seine Rauheit.
»Ach so – Sie sind nur gekommen, um uns Ihre Neujahrsgratulation zu überbringen, Fräulein. – Das ändert die Sache – gewiß. Das ist was anderes ... Schönsten Dank also, und ich wünsche Ihnen von Herzen dasselbe, trotzdem Sie es wohl nicht gar so nötig haben werden.«
Und nun streckte er ihr die Hand entgegen, die sie mit ihrer zartumlederten ergriff und herzhaft drückte. Es entstand eine peinliche Pause. Timpe hatte sich dem Fenster zugewandt, Frau Karoline blickte stumm zu ihm hinüber, und Emma glättete mit der Hand den Pelz ihres Muffs. Sie sah blaß aus; man wußte nicht, ob von dem Schein des Schnees, der draußen lustig wirbelte, oder von dem kalten Empfange, der ihr hier zuteil geworden war. Sie hatte sich sehr zu ihrem Vorteil verändert. Ihre Gestalt war voller geworden, und auch ihr Gesicht hatte sich gerundet. Endlich, als sie vergeblich auf einige weitere Worte des Meisters gewartet hatte, begann sie in der Unterhaltung fortzufahren.
»Verzeihen Sie, Herr Timpe, wenn ich trotz Ihrer Abweisung, von der ich nicht weiß, ob ich sie verdient habe, die Sie mir aber deutlich genug zu verstehen geben, mich nicht gleich entferne. Ich bin aber gekommen, um etwas gutzumachen, und wegen des schweren Unrechts, das man Ihnen angetan hat, um Verzeihung zu bitten. Für meine Person wenigstens ... Ich bin hier erschienen, um Ihre gute Frau und Sie im Namen meiner Mutter zu unserer Hochzeit einzuladen ...«
Vom Fenster her erschallte ein lautes Lachen, das so jäh hervorquoll, daß die Meisterin bestürzt einen Schritt vorwärts tat und Emma erbebte.
»Dachte ich's doch, dachte ich's doch – daß man noch kommen würde, mich obendrein zu verhöhnen. Fehlgegangen, mein gnädigstes Fräulein. Ich sage, fehlgegangen! Alle Hochachtung vor Ihnen – Sie sind eine liebenswürdige Dame, gewiß, das sind Sie! Auch meinen schönsten Dank für Ihre Freundlichkeit! Aber es ist zu allen Zeiten immer dasselbe gewesen: Ein Vater kann nur von einem Sohne zu dessen Hochzeit eingeladen werden, wenn er einen solchen besitzt. Aber ich, ich habe keinen! Bestellen Sie das gefälligst Ihrer gnädigen Frau Mama. Verstehen Sie auch recht: Ich habe keinen Sohn ... Und wenn er selbst hier vor meinen Knien läge und mit tausend Schwüren es beeidete, daß ich sein Vater sei, so sage ich ihm ins Gesicht hinein: Du lügst! Denn das Blatt, das vom Baume losgetrennt ist, hat keine Gemeinschaft mehr mit dem Stamm. So wahr ich Johannes Timpe heiße und in Ehren grau geworden bin, so ist's, und so soll's bleiben, solange mir der liebe Gott das Leben schenkt.«
Er zitterte am ganzen Leibe, das Antlitz war vor Erregung fahl geworden, und die rechte Hand hatte sich geballt. Karoline war auf ihn zugetreten, um ihn ernstlich zu beschwichtigen. So hatte sie ihn noch nie gesehen.
»Vater, du gehst zu weit. Er trägt unsern Namen ...«
Er dachte an den Diebstahl und wollte sich hinreißen lassen, das Wort »ehrlos« zu gebrauchen; aber er bezwang sich. Das fürchterliche Geheimnis, um das er allein wußte, sollte mit ihm zu Grabe getragen werden. So sagte er denn mit erzwungener Ruhe:
»Das ist nicht zu leugnen; aber er trägt den Namen seines Vaters, nicht seinen eigenen. Und sowenig eine Herde von Hammeln dafür kann, wenn ein räudiger in ihr sich befindet, sowenig kann man es einer Familie zur Last legen, wenn eins ihrer Mitglieder aus der Art geschlagen ist.«
Das Ehepaar hörte ein leises Schluchzen. Als sich beide umdrehten, sahen sie Emma, wie sie auf das Sofa niedergesunken war und die Augen mit ihrem Taschentuch bedeckt hielt. Die Meisterin eilte sofort auf sie zu, legte die Arme liebevoll um ihre Schulter und fragte:
»Was ist Ihnen, Fräulein? Sie weinen? Um Himmels willen!«
Statt der Antwort wurde das Schluchzen stärker. Die ganze Gestalt war gepackt von der Erschütterung, die über sie gekommen war. Endlich brachte sie die Worte hervor: »O lassen Sie mich weinen, es tut mir wohl.«
Auch der Meister war nun bestürzt, trat auf sie zu und sagte so freundlich, als er es in diesem Augenblick vermochte: »Fassen Sie sich, gnädiges Fräulein. Wenn ich Sie durch irgend etwas beleidigt haben sollte, so bitte ich vielmals um Entschuldigung, vielmals ... Aber ich bitte Rücksicht auf den Vater zu nehmen, dem der Groll mit dem Herzen durchgeht. Nochmals: Ich bitte vielmals um Verzeihung. Und wenn ich meine letzten unschicklichen Worte wiedergutmachen kann, so soll es geschehen. Wohlverstanden: soweit es in meinen Kräften steht.«
»Sie können es, Herr Timpe.«
Sie hatte sich plötzlich erhoben, war vor ihm auf die Knie gefallen und blickte mit von Tränen umschleierten Augen zu ihm empor. Und jedes Wort, das sie jetzt sprach, schien zugleich mit einem Schluchzen aus der Kehle zu quellen.
»Mag Franz nicht recht an Ihnen gehandelt haben, mag er vergessen haben, was er Ihnen schuldig ist, ich kann darüber nicht richten, denn ich liebe ihn von ganzem Herzen. Und ich schwöre Ihnen hier bei dieser Liebe, daß ich versuchen will, gutzumachen, was er Ihnen wehe getan hat ... Ich will mit tausend Zungen zu ihm reden, ich will Tag und Nacht zu Gott beten, damit er Sie wieder vereinige. Aber ich flehe Sie an, ich bitte inständigst, wenn Sie auch nicht zur Hochzeit kommen wollen, geben Sie mir für Ihren Sohn Ihren Segen.«
Mit zuckenden Lippen blickte sie zu ihm empor, riß den Hut ab, neigte das Haupt und faltete die Hände krampfhaft über das Taschentuch. Bei diesem Anblick konnte auch die Meisterin nicht mehr ihre Fassung bewahren. Ihr weiches Gemüt preßte auch ihr eine Träne ins Auge. Und so stand sie hinter ihrem Manne, dem es seltsam zumute ward, und drängte ihn leise, den Wunsch der Knienden zu erfüllen.
Der Meister war wieder ein anderer geworden. Er legte die harten Hände auf den Scheitel Emmas und sagte halblaut: »Und der Herr segne dich und behüte dich und lasse auch diesen Segen deinem zukünftigen Manne teilhaftig werden.«
Und kaum hatte er die letzte Silbe ausgesprochen, so fühlte er sich von den Armen Emmas umschlungen.
»Mein Vater, ich danke Ihnen.«
Auch der Meisterin Hals umschlang sie und drückte einen Kuß auf ihre Stirn. Dann ging sie. Und als die Tür sich hinter ihr leise geschlossen hatte, war es dem Ehepaare, als wäre der ganze Vorgang ein Spuk gewesen, hervorgerufen durch die lichte Erscheinung eines Engels ...
Als nach einigen Tagen die Trauung des jungen Paares in der nahen Andreaskirche stattfand und die Augen sämtlicher Anwesenden auf das Brautpaar vor dem Altar gerichtet waren, zeigten sich auch am äußersten Ende der sonst menschenleeren Galerie zwei Köpfe, deren Blicke unverwandt an der Gestalt des Bräutigams hingen. Es war Timpe und sein Weib, die längst vor Beginn der Zeremonie die Kirche aufgesucht hatten, um ungesehen mitzubeten für das Heil des jungen Ehepaares. Niemand hatte sie kommen sehen, niemand bemerkte sie von unten. Es war ein eisigkalter Tag, nur wenige Menschen füllten das Gotteshaus, denn wie Urban es zu Franz gesagt hatte, so war es geschehen: Die Einladungen waren nur an die bevorzugtesten Freunde des Hauses erlassen worden.
Die Kirche hatte sich langsam geleert; Wagen auf Wagen rollte davon, und auch die wenigen Neugierigen, die das Portal umstanden, hatten sich zerstreut. Bis zur Nase in Kragen und Tücher gehüllt, traten Johannes und Karoline wieder ins Freie. Noch tief bewegt von dem heiligen Akte, schritten sie nebeneinander ihres kurzen Weges dahin. An einer Straßenecke begegnete ihnen Meister Nölte.
»Na, alles vorüber, gut abgelaufen?« redete er sie an. Und plauderhaft, wie er Timpe gegenüber immer war, sprach er sofort weiter: »Ich wollte ebenfalls kommen, um mir das Brautpaar anzusehen, aber ich habe die Zeit verpaßt ... Sie gehen jetzt wohl erst nach Hause, um sich für die Hochzeit umzukleiden? Vergessen Sie nur die Flasche Wein nicht; ich habe schon zu Hause davon erzählt.«
Johannes nickte und schüttelte sich vor Kälte, was für Nölte ein Zeichen war, sich nicht lange aufzuhalten.
»Adieu, Frau Timpe, auf Wiedersehen, Herr Timpe.«
Nach fünf Schritten kehrte er noch einmal um. »Wenn Sie vielleicht noch ein paar Stückchen Torte für meine Mädchen ... Sie verstehen mich schon.« Er machte eine Handbewegung im Bogen nach der Tasche.
»Soll besorgt werden«, brachte Timpe brummend hervor. Dann sagte er beim Weiterschreiten zu Frau Karolinen: »Das haben wir einmal gut gemacht. Nun dauert es nicht lange, und ganz Berlin weiß, daß wir in der Kirche waren und die Hochzeit in allen Ehren mitmachen. Es kostet zwar eine Flasche Wein und Kuchen obendrein, aber immer besser, dieses Opfer zu bringen, als allen Menschen die Familienverhältnisse preiszugeben.«
Nach diesen Worten mußten sie trotz ihres herben Wehes leise lachen.