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X.
Im Kampfe des Jahrhunderts

Die Fabrikationsweise Urbans begann auf die Dauer große Triumphe zu feiern. Er ging darauf aus, die kleinen Konkurrenten durch alle nur erlaubten Mittel totzumachen. Mit dem weiten Blick des ausgezeichneten Geschäftsmannes erkannte er sofort die Ausbeutung irgendeines Artikels, dessen Verbreitung bisher noch nicht genügend gewürdigt worden war. Er stellte seinen Abnehmern die möglichst besten Bedingungen, und selbst solche Arbeiten, deren Herstellung ihm ebenso teuer kam wie den kleinen Fabrikanten, lieferte er den Kunden billiger als diese, wenn auch der Profit ein ganz geringer war. Er ging dabei von dem Grundsatz aus, daß der Verlust an dem einen Fabrikat durch den dreifachen Gewinn am anderen gedeckt werden müsse. Es lag ihm hauptsächlich daran, die Abnehmer an sich zu fesseln, seine Fabrik zum Monopol für den ganzen Bedarf zu machen. Er besaß genügende Mittel, das Rohmaterial im großen und zu den mäßigsten Preisen einzukaufen, den ihm als sicher bekannten Kunden einen größeren und längeren Kredit zu gewähren als die kleineren Konkurrenten. »Die Masse muß es bringen«, sagte er sich. Das Geheimnis seiner billigen Produktion lag in der schnellen Ausführung seiner Entschlüsse: der Idee folgte sofort die Tat. Er wußte, daß das Publikum stets das Neue liebte. So war er denn rastlos in dem Bestreben, seine Kunden von Zeit zu Zeit mit irgendeiner »Nouveauté« zu überraschen, die er entweder nach ausländischem Muster hergestellt oder selbst verfertigt hatte. Geschickte Zeichner und Techniker standen ihm dabei zur Seite. Und die Reisen, die er nach Paris, Brüssel und London machte, taten das übrige, um ihn nie dem Verlangen seiner Kunden gegenüber in Verlegenheit zu bringen.

Nach einem halben Jahre bereits genoß seine Fabrik in der ihm nahestehenden Geschäftswelt eines bedeutenden Rufes. Nannte man die Firma Ferdinand Friedrich Urban, so verband sich damit bei den Galanteriewarenhändlern, Stock- und Schirmfabrikanten und all den Kaufleuten, welche mit der Elfenbein- und feineren Holzbranche zu tun hatten, der Gedanke an einen Großindustriellen, dem man bedeutende Vorteile zu verdanken habe. Selbst die ihm ebenbürtigen Konkurrenten lernten ihn fürchten, denn sie sahen sich schließlich aus Existenzrücksichten gezwungen, ebenso billig zu produzieren wie er. Ein allgemeiner Druck auf die Engrospreise ging von ihm aus, denn ein großes Betriebskapital, das noch durch das Vermögen seiner Frau vermehrt worden war, stand ihm zur Verfügung.

Mit der Zeit verspürte diese gewaltige Konkurrenz niemand härter als die kleinen Fabrikanten; in erster Linie die Meister, die mit wenigen Gesellen direkt für die Händler arbeiteten. Johannes Timpe gehörte zu ihnen. Im Frühjahr desselben Jahres bereits mußte er zwei Gesellen entlassen; und vor Weihnachten, zu einer Zeit, wo er sonst außerordentlich viel zu tun hatte, mußte der dritte folgen. Die Bestellungen vieler Kunden waren ausgeblieben. Traf er einen von ihnen zufälligerweise und forschte nach der Ursache der geschäftlichen Zurückhaltung, so kam nach vielem Drehen und Wenden endlich die Antwort; und sie war immer dieselbe: Urban liefere billiger, das Hemde liege einem näher als der Rock.

Selbst das Preisherabsetzen half nichts. Der Meister mochte kalkulieren, wie er wollte: es war unmöglich, mit dem Fabrikbesitzer zu konkurrieren; oder aber er mußte das Material stehlen und den Gehülfen einen Hungerlohn oder einen schmählichen Akkordpreis bezahlen. Aber auch das blieb nicht aus. Eines Tages sah er sich gezwungen, die Gesellen auf seine üble Lage aufmerksam zu machen. Als ehrlicher Mann rechnete er ihnen vor, wie gering sein Verdienst sei, daß er nicht länger bestehen könne, wenn er die Akkordpreise nicht herabsetzte. Ein Gehilfe blieb nach dieser Auseinandersetzung gleich fort, während die anderen sich dadurch zu entschädigen suchten, indem sie ihre Arbeit nicht mehr so solide ausführten wie früher. Der Meister drückte ein Auge zu, wenn die Sachen nur nicht zu leichtsinnig ausgeführt wurden. Er tröstete sich damit, daß es bei Urban nicht besser gemacht werde. Einmal gerieten ihm verschiedene von dem großen Konkurrenten fabrizierte Artikel in die Hände. Er reichte sie in der Werkstatt umher und ließ sie von jedem prüfen. Man erstaunte über die leichte Arbeit. Es sah alles sehr elegant und einnehmend aus, aber von Solidität war keine Spur vorhanden.

»Schlecht und billig – so wird's gemacht«, sagte Thomas Beyer und warf den Kram gleichgiltig in die Ecke.

Timpe mußte sich sagen, daß der Altgeselle mit seinen Worten den Nagel auf den Kopf getroffen habe. Darin bestand eben der große Erfolg Urbans: das Publikum ließ sich durch den äußeren Schein blenden und täuschen. Es fragte nicht mehr nach guter Arbeit, die Billigkeit gab den Ausschlag. Das war das betrübendste Zeichen der Zeit: Menschen und Waren sanken im Werte. Der redlichste Arbeiter wurde durch die Sorge ums Dasein gezwungen, zum Betrüger am Publikum und seinem Nächsten zu werden. Es war der große soziale Kampf des Jahrhunderts, in dem immer dasselbe Feldgeschrei ertönte: »Stirb du, damit ich lebe!« Und die beiden Riesenarmeen, die sich Tag für Tag schlagfertig gegenüberstanden, aufeinander losstürmten und die Schlacht der Verzweiflung schlugen, nannten sich Ausbeuter und Ausgebeutete. Das Kapital war das Pulver, und wer es am meisten besaß, der trug den Sieg davon. Die Heerführer dieser Armeen aber hießen Hand und Maschine. Die Kraft des Dampfes führte den Vernichtungskampf gegen die Kraft des Menschen. Und in diesen fürchterlichen Strudel, der rücksichtslos gegen die Gesetze der Weltmoral sein Zerstörungswerk an den Stützen der Gesellschaft beging, wurde auch Meister Timpe immer mehr und mehr hineingezogen.

Wenn er jetzt den Blick durch das Fenster nach der Fabrik hinüberrichtete, so tat er es mit geballter Faust und dem Ausdrucke des Hasses. Das Getöse der Dampfmaschine kam ihm dann wie das dumpfe Ächzen hundert zu Tode getroffener Männer vor; und das leise Zittern des Erdbodens wie das Nahen einer verderbenbringenden Gewalt, die dereinst das ganze Haus verschlingen würde. Die Fabrikpfeife, deren langgedehnter Ton gellend zu ihm herüberklang, machte ihn zusammenschrecken. Und wenn der Wind den heißen Dampf in den Garten schlug, so konnte er sich nicht enthalten, eine laute Verwünschung auszustoßen.

Was Johannes am meisten schmerzte, war, daß sein Vater noch diesen geschäftlichen Niedergang erleben mußte, und er versuchte alles aufzubieten, dem Greise den wirklichen Zustand der Dinge zu verschweigen, um jegliche Aufregung von ihm fernzuhalten. »Es könnte sein Tod sein«, sagte er zu seiner Frau.

Mit Gottfried Timpe stand es sehr schlimm. Das Leben schien ihm nur noch eine Last. Du lieber Himmel, was konnte man auch von einem Greis, der seinem siebenundachtzigsten Geburtstage entgegenging, noch anderes verlangen als das Abbild eines leibhaftigen Todeskandidaten. Die Beine waren bereits so schwach geworden, daß er sich ohne die kräftige Hilfe seines Sohnes oder Karolinens nicht fortzubewegen vermochte. So kam es denn, daß er den ganzen Tag über den Lehnstuhl am Fenster drückte und förmlich ins Bett hineingetragen werden mußte. Jeden Morgen befürchtete man, er könnte während der Nacht ohne Schmerzen, friedlich und still, wie es sein Wunsch war, zu einem besseren Dasein entschlummert sein. Das war jedenfalls der sanfteste Tod, so an Altersschwäche aus dem Leben zu scheiden – wie eine Uhr, die langsam stehenbleibt, wenn das Räderwerk seine Dienste versagt. Aber gerade der Gedanke, daß dies einmal ohne Beisein eines Zweiten geschehen könne, war für Johannes ein fürchterlicher. Man hatte das Nachtlager des Alten bereits seit längerer Zeit unten in der guten Stube aufgeschlagen, und jedesmal, bevor der Meister sich zur Ruhe legte, stattete er mit leisem Tritte dem Vater einen Besuch ab, um sich von seinem Wohlsein zu überzeugen.

So gebrechlich aber auch der Körper Gottfried Timpes war, sein Geist blieb bei alledem frisch, sein Gehör war noch immer dasselbe feine wie früher und sein Gedächtnis dasselbe starke. Die Folge davon war, daß er die Stunden damit ausfüllte, sich Erinnerungen an vergangene Zeiten hinzugeben. Sein geistiger Blick war immer nur nach rückwärts gerichtet. Und so glich er schließlich einem verlorenen Weltkörper, der abseits von der großen Heerstraße seine eigenen Kreise zieht und das Leben aus sich heraus gestaltet. Das Merkwürdigste war, daß, seitdem er nicht mehr im Hause herumgehen konnte, die Lust zur Unterhaltung bei ihm gestiegen war. Er wollte von allem unterrichtet sein, was um ihn her vorging, und Frau Karoline mußte stundenlang bei ihm sitzen, um seine Fragen so lange über sich ergehen zu lassen, bis ihm der Atem ausging. Es bedurfte nur der leisesten Andeutung, irgendeines Hinweises auf eine neue Straße, eine neue Brücke usw., um ihn vom Berlin der alten Tage sprechen zu hören. Dann feierte sein Gedächtnis Triumphe. Er erinnerte sich irgendeines alten Hauses, eines Platzes, origineller Menschen, mit denen er zu tun gehabt hatte und die nun nicht mehr zu finden waren. Auch der Humor kam zum Vorschein, wenn er von seinen Knabenjahren sprach und die Gewohnheiten von Nachbar Hinz und Kunz beschrieb. Dann sagte er ungefähr folgendes: »... Der trug die Nase auch mal bis zum Himmel und wußte nicht, warum ... Na, die Krauses, wenn ich noch daran denke! Das Paar war lustig anzusehen. Die Frau war drei Köpfe größer als der Mann, und er trug immer die größte Angströhre, die nur aufzutreiben war, um zu beweisen, daß er der Herr sei. Aber da hatte sich was! Die Frau kommandierte nach dem Markt gehen und einkaufen, und er wurde von ihr wieder retour geschickt, wenn er nicht das Richtige gebracht hatte. Die Jungens liefen hinter ihm her und nannten ihn immer ›Mutterns Schlafmütze‹ ... Da war auch noch der alte Kantor Riez, Gott laß ihn selig ruhen! Er war so vergeßlich, daß er einmal sein eignes Haus nicht finden konnte und mich auf der Straße fragte, ob ich nicht wisse, wo der Kantor Riez wohne. Na, ich habe lachen müssen!«

Und das Endwort dieser Erinnerungen Gottfried Timpes war immer das alte: »Ja damals – das waren noch andere Zeiten!«

Viel Sorge hatte es dem Ehepaare gemacht, dem Alten gegenüber einen Grund für die gänzliche Abwesenheit Franzens zu finden. Seit jenem Abend nämlich, an dem des Meisters Mißtrauen gegen seinen Sohn so plötzlich erwacht und bestätigt worden war, hatte er diesen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Am anderen Tage war, wie es schien, nachträglich, eine gedruckte Verlobungsanzeige eingetroffen und einige Zeilen Franzens, worin er anzeigte, daß er zum Mittagsessen nicht erscheinen könne, und die Eltern bat, das anfängliche Verschweigen seiner Verlobung nicht übel zu deuten. Da sein Vater auf Urban nicht gut zu sprechen sei, so habe er geglaubt, man würde sein Glück nicht so auffassen, wie er es wünschte. Er würde seinen Eltern immer in Liebe zugetan sein, man solle es aber entschuldigen, wenn er von jetzt ab seinen eigenen Weg ginge und sich selten mache. Er habe jetzt eben große Verpflichtungen gegen die Familie Urban, würde auch geschäftlich sehr in Anspruch genommen.

Frau Karoline nahm nach diesen Zeilen den »guten Jungen« in Schutz. Der Meister aber sah tiefer, denn er war plötzlich sehend geworden. So groß die Zärtlichkeit war, die er seinem Sohne stets entgegengebracht hatte, so unauslöschlich war jetzt der Groll gegen ihn in seiner Brust. Der Einzige war aus seinem Herzen gerissen; und wenn die Wunde auch niemals zuheilen würde – es sollte so bleiben! So sehr liebte Johannes seinen Vater, daß er sich schämte, ihm Mitteilung von dem Zerwürfnis zu machen. Man erfand denn für den Greis und die Gesellen die Mär, daß Franz für seinen Chef Reisen machen müsse und infolgedessen sich selten sehen lassen könne. Nur Thomas Beyer ließ sich nicht täuschen. Er ahnte den ganzen Zusammenhang, wollte aber Timpe nicht wehe tun und enthielt sich daher jeglicher Bemerkung darüber.

War Gottfried Timpe auch über diesen Punkt beruhigt, so konnte man es doch nicht verhindern, daß er nach und nach etwas von der geschäftlichen Misere erfuhr, wenn auch nicht in ihrem ganzen Umfange. Nun wollte er alles vorher geweissagt haben und kam daher jeden Tag mit einem Dutzend Ratschläge zum Vorschein, die Johannes befolgen sollte. Der Meister half sich auch hier mit allerlei Notlügen aus und belog sich selbst, indem er eines Tages dem Vater die Mitteilung machte, daß die Bestellungen sich wieder mehrten, trotzdem das gerade Gegenteil der Fall war. Gottfried Timpe aber hatte auf Wochen hinaus neue Anregungen in seinen Unterhaltungen mit Frau Karoline gefunden und sprach nun nur noch von den goldenen Tagen des Handwerks.

Eines Abends suchte Timpe Jamrath wieder auf. Der Stammtisch war bereits besetzt, und die Wogen der Debatte gingen hoch. Das Gespräch drehte sich um die Stadtbahn, deren Bau vom Staate wiederaufgenommen worden war. Seit Wochen behandelte man Abend für Abend dieses Thema. Einige Hausbesitzer, welche die Runde zierten, waren besonders dabei interessiert, vor allem der lange Brümmer, dessen windschiefes Haus direkt von der Linie berührt wurde und der seit dem Tage, an dem er das erfahren hatte, so gesprächig geworden war, daß der Schornsteinfegermeister aller Welt erzählte, die Schweigsamkeit des Rentiers wäre bis dato nur Verstellung gewesen. Kam die Rede auf die Stadtbahn, so hüpfte er förmlich auf seinem Stuhl, und war, wenn er das Lokal betrat, noch niemand von den bekannten Gästen anwesend und selbst Vater Jamrath für ihn unsichtbar, so unterhielt er sich mit dem Kellner über das neueste Wunder Berlins und suchte diesem sehr eindringlich zu beweisen, was für einen Vorteil der Staat durch den Ankauf seines Grundstücks haben würde. Fritz, der nie trauriger aussah, als wenn er ein freundliches Gesicht machen wollte, sagte zu allem ja und bekam seit dieser Zeit ein ganzes Nickelstück als Trinkgeld.

Seit Monaten waren bereits die Strecken, welche die Schienen zu nehmen hatten, öffentlich ausgelegt gewesen, und das Verwaltungsgericht zu Potsdam als oberste Entscheidungsbehörde in dieser Angelegenheit hatte seine liebe Not, um allen einlaufenden Protesten gerecht zu werden. Hinterhäuser mußten heruntergerissen, Vorderhäuser durchschnitten, ganze Grundstücke durchtrennt werden, um dem Dampfroß einen Weg durch das Steinmeer zu bahnen. Das erforderte Unsummen an Abstands- und Entschädigungsgeldern, denn jeder Grundbesitzer wollte die Gelegenheit wahrnehmen, soviel als möglich bei dem Verkauf zu gewinnen. Und wessen Forderung zu hoch war und wer sich dem Gemeinsinn nicht fügen wollte, gegen den mußte das Enteignungsverfahren eingeleitet werden. Unangenehme Prozesse entstanden dadurch; Fiskus und Bürgertum führten einen harten Kampf.

»Wissen Sie schon, Herr Timpe«, rief Deppler dem Meister zu, »es steht fest, daß Ihr Haus oder wenigstens der Giebel desselben eines Tages fallen muß. Die Stadtbahn geht quer über die Holzmarktstraße und schneidet Ihren Vorgarten weg ... Urban ist wie immer auch diesmal der Schlaue gewesen; er hat sämtliche alte Baracken hinter Ihrem Grundstück bereits vor Jahren angekauft und schlägt nun einen vierfachen Wert heraus. Das nenne ich Spekulation! ... Er hat einen Prophetenblick, das muß man sagen. Übrigens ist er auf Sie noch schlechter zu sprechen als sonst. Sie würden es eines Tages bitter bereuen, sein Kaufgebot nicht angenommen zu haben, meinte er neulich zu mir ... Aufrichtig gestanden: Ich begreife seine Feindschaft gegen Sie nicht, wo Ihr Sohn ihm so nahesteht.«

Sein Sohn! Oh, wenn man gewußt hätte, was er von ihm zu erwarten haben werde! Der Meister schwieg sich, wie gewöhnlich, darüber gründlich aus und kam auf andere Dinge zu sprechen.

Im Frühjahr des folgenden Jahres wurde mit dem Abbruch der alten Häuser hinter Timpes Grundstück begonnen; und wenn der Meister jetzt die »Warte« bestieg und seinen Blick nach rückwärts wandte, sah er vor sich weiter nichts als halbabgetragene Mauern, herabhängende Tapetenfetzen, große Haufen Steine und halbmorsche Balken, die nur noch als Brennholz dienen konnten. Die ganze Straßenecke mußte fallen. Von früh bis spät hörte man das Hämmern der Spitzhacken, Abbröckeln und Rasseln der Steine, wenn sie ihren Weg durch die Holzbahn vom Dache her bergab nahmen. Hin und wieder stürzte eine halbe Mauer ein, und der Staub, der den ganzen Tag über in der Luft lag, wurde durch eine ungeheure Wolke vermehrt, welche die Arbeiter und Mauerreste wie in Pulverdampf einhüllte. Das hörte sich dann im Innern des Häuschen an, als wäre für die Bewohner das letzte Stündlein gekommen. Der Großvater hatte seinen ganzen Humor verloren und erfand fortwährend neue Bezeichnungen für den »Skandal« da draußen. Es scheine, als wenn man halb Berlin abrisse. Die Menschen würden immer unverschämter und respektierten den Frieden des lieben Nächsten nicht mehr, meinte er voller Ingrimm. Nächstens würden sie noch ihren Besuch durch den Schornstein machen, nur um die Ruhe zu stören.

Die größte Aufregung kam jedoch, als es an den Abbruch des Gebäudes ging, das die hintere Giebelseite von Timpes Haus begrenzte. Während dieser Arbeit saß der Meister stundenlang auf seinem Auslug, um rechtzeitig für das Anbringen von Stützen zu sorgen. Aber auch das ging ohne Unglück ab. Nach einem Monat lag die Ecke frei, und die Ausschachtung des Erdbodens begann. Timpes Haus nahm sich nun wie ein störender Punkt in der Umgebung aus, wie ein alter Sonderling, der der Neuerung trotzt: vorn der freie Platz, begrenzt von den Neubauten der Holzmarktstraße, und hinten die roten Backsteingebäude der Fabrik, überragt von dem Schornstein, der Siegessäule der modernen Industrie.

Als Timpe eines Abends wieder auf den Baum gestiegen war, der die ersten Blüten zeigte, erblickte er auf der neu geschaffenen Baustelle Urban, der mit einem fremden Herrn, anscheinend einem Bauführer, hinter dem Bretterzaun auftauchte. Der große Konkurrent zeigte auf das Haus des Drechslers mit einer Gebärde, als machte er sich über die Ruine lustig. Der andere Herr lachte dazu, und Johannes hörte deutlich, wie der Fabrikbesitzer mit seiner piependen Stimme sagte:

»Wie der Kasten da jetzt aussieht! Gerade wie eine Wanze auf einer hellen Tapete. Aber ich werde diese Wanze schon eines Tages wegbringen, verlassen Sie sich darauf! Die Geschichte macht sich ... Sind das verrückte Menschen, diese Timpes – bis auf den Jüngsten natürlich, aber den kann man gar nicht mehr zu ihnen rechnen! Er sieht das auch ein ... Mir den Weg auf dieser Seite hier zu versperren, trotzdem ich zehnmal soviel geboten habe, als die Jammersteine wert sind!

Und doch freue ich mich jetzt, daß mir Widerstand entgegengesetzt wurde, denn ich hätte mich schön geärgert, da es der Stadtbahn wegen nicht zu fallen braucht. Ich bekomme es noch billiger, viel billiger, unter dem Kostenpreise; verlassen Sie sich darauf. Wie schön kann ich da nicht die Viadukte benutzen, die hier entstehen werden! Wer dem Geiste der Zeit sich widersetzt, der muß bestraft werden. Unser Jahrhundert verlangt Neuerungen, nur Neuerungen. Der Alte stürzt, und neues Leben blüht aus den Ruinen! Wie meinen Sie? Das Alte heißt es? Meinetwegen! Ich meine aber den Alten da drüben, und da habe ich wieder einmal recht. Wer kann überhaupt die Dichter alle kennen! Die richten nur Unheil an in der Welt. Sprechen von Freiheit und Menschenwürde und hetzen die Arbeiter auf! Mir soll einer kommen! Ich kann auch ohne sie leben.«

Während er diesen Erguß zum besten gab, ohne irgendwelche Opposition zu vernehmen, war er unwillkürlich dem Hause seines Feindes näher gekommen, so daß die letzten Worte immer deutlicher Timpes Ohr berührten. Plötzlich erblickte er den Drechsler und machte erschreckt kehrt. Der Meister hatte schon längst, von Wut übermannt, die Hand geballt. Plötzlich rief er laut hinunter: »Trotz alledem bleiben Sie doch ein kleiner Mann mit einem großen Mund! Sie – mein Haus bekommen?! Sie komischer Knirps! Da müssen Sie früher aufstehn!«

Urbans Begleiter drehte sich überrascht um. Der Fabrikbesitzer aber zog ihn mit sich fort und sagte: »Lassen Sie ihn nur reden! Er ärgert sich doch!«

Seit diesem Abend war der Haß des Meisters gegen den Nachbar zum vollen Ausbruch gekommen. Schon die Nennung des Namens Urban genügte, um ihn herbe Worte sprechen zu lassen. Frau Karoline stellte im geheimen ihre Betrachtungen darüber an und schreckte zusammen, wenn Johannes mit zusammengezogenen Augenbrauen in die Stube trat. Das war das Zeichen, daß wieder etwas Ärgerliches passiert war. Gewöhnlich hatte Timpe dann in Erfahrung gebracht, daß ein Kunde ihm abgesprungen sei, weil Urban ihm billiger liefere. Der Meister kam dann aus einer Stimmung in die andere. Er drohte mit der Faust nach der Fabrik hinüber und wurde dann wieder sanft wie in früheren Zeiten, setzte sich zu dem Vater ans Fenster, plauderte mit ihm und erzählte lustige Schnurren, um seine üble Laune vergessen zu machen; oder er ging zu seinem Weibe nach der Küche hinaus und scherzte mit ihr wie in jungen Jahren. Er wollte sich dadurch Mut machen. Und wenn Frau Karoline seine Hände ergriff und herzlich sagte: »Vater, es wird schon wieder besser werden, nur den Glauben an Gott nicht verlieren« – dann erwiderte er vergnügt: »Mutter, du hast recht«, und verließ sie mit gestärktem Vertrauen, um aufs neue an seine Arbeit zu gehen.

Am Anfange des Sommers standen bereits vier Drehbänke still. Das brachte Timpe fast in Verzweiflung, denn wenn das so weiterging, hatte er in absehbarer Zeit auch für die anderen Gesellen keine Beschäftigung mehr und konnte gleich dem langen Herrn Brümmer mit der Pfeife im Munde den ganzen Tag zum Fenster hinaussehen. Wollte er dieser schlimmsten Gefahr aus dem Wege gehen, so mußte er den letzten Versuch machen, den Kampf mit Urban aufzunehmen. Er begann also von neuem zu rechnen und stellte den Kunden, die ihm noch übriggeblieben waren, denselben Preis wie der große Konkurrent. Sein ganzer Verdienst wurde dadurch eingebüßt, so daß eigentlich die Arbeit nur noch ins Haus kam, um die Gesellen zu beschäftigen; aber Timpe blieb zähe. Es handelte sich um ein Prinzip, das einmal durchgefochten werden mußte. Dazu gesellte sich der Haß des Feindes, der sich lieber selber wehe tut, ehe er dem Gegner einen Triumph gönnt. Der Meister mußte schließlich das kleine Kapital angreifen, das er sich während vieler Jahre sauer erworben hatte und das dereinst für seinen Sohn bestimmt war; aber an diesen dachte er nicht mehr, war Franz doch gut aufgehoben und bekümmerte sich nicht um das Schicksal seiner Angehörigen.

Aus diesem Konkurrenzkampf mit ungleichen Mitteln erwuchsen ihm nach und nach Unannehmlichkeiten, deren Folgen er allein zu tragen hatte. Mehrmals kam partienweise die Arbeit zurück. Die Kunden beklagten sich, daß sie nicht mehr so solide wie früher ausgeführt sei; sie bestanden auf Ersatz. Das war der schwerste Schlag, der den Meister treffen konnte: daß er auf dem besten Wege war, sein während eines Vierteljahrhunderts erprobtes Renommee zu verlieren. Und doch mußte er sich sagen, daß ihn am wenigsten die Schuld treffe, daß nur allein die Konkurrenz ihn zwinge, zu denselben Mitteln zu greifen wie sein Gegner. Er verglich die Arbeit mit der aus Urbans Fabrik und fand nicht den geringsten Unterschied. Es war nur zu sehr ersichtlich: man glaubte, sich ihm gegenüber das erlauben zu dürfen, was man gegen den großen Fabrikanten, der einen längeren Kredit gewährte, nicht wagte. Aber auch das ertrug er mit Stillschweigen. Er selbst arbeitete bis in die Nacht hinein, um den Schaden wiedergutzumachen und die Gehilfen nicht leiden zu lassen, die er selbst zur leichteren Arbeit ermuntert hatte.

Zwei Monate lang befriedigte Timpe seine Kunden auf diese Art; dann erfuhr Urban davon und setzte den Preis für die Artikel, welche Timpe lieferte, noch niedriger. Der Meister folgte auch diesem Beispiel und verzichtete auf den letzten geringen Gewinn, den er hauptsächlich nur sich selbst und den Lehrlingen zu verdanken hatte.

»Bis aufs Messer soll es gehen«, sagte er bei dieser Gelegenheit laut in der Werkstatt, und die Gesellen, die seit Jahren ihre Plätze bei ihm innehatten, konnten ihm ihre Teilnahme nicht versagen.

Eines Sonnabends bei der Löhnung, als der Meister die Gehilfen nacheinander in seine Arbeitsstube rief und Thomas Beyer an die Reihe gekommen war, zögerte der Altgeselle, das ihm hingezählte Geld einzustecken.

»Meister«, sagte er, »Sie haben viel Unglück zu erleiden. Wenn ich auch nicht viel rede, so sehe ich doch alles und mache mir mein Bild zurecht. Ich werde nicht länger bei Ihnen arbeiten, wenn Sie mir nicht den Akkordpreis um ein Drittel herabsetzen. Und was Spiller, den Sachsen, anbetrifft, so sage ich ebenfalls für ihn gut; er kann weniger Schinken essen und weniger Likör trinken ... Sie leiden unschuldig, und ein Lump, der dem Unschuldigen nicht beisteht.«

Diese schlichten Worte rührten Timpe bis zu Tränen. Er wandte sich ab, um seiner weichen Stimmung Herr zu werden. Dann, als er sich gefaßt hatte, streckte er Beyer die Hand entgegen und wies das Ansinnen mit Dank, aber energisch zurück. Beyer aber wollte nicht nachgeben. Er und der Sachse müßten auf ihrer Bitte bestehen, und wenn der Meister sie nicht erfüllen wolle, so würden sie einfach adieu sagen.

Timpe blieb nichts anderes übrig, als nach wiederholtem Sträuben nachzugeben. An der Tür wandte sich Beyer noch einmal um; es war ihm schwer, ohne eine »Diskussion«, wie er es nannte, von dannen zu gehen.

»Meister«, begann er daher wieder, »Sie wissen, ich bin ein Bücherwurm und habe so meine eigenen Ansichten über die Dinge und ihre Ursachen. Da habe ich neulich einen Vortrag gehört, der nicht schlecht war.«

Und diesmal unterbrach ihn Timpe nicht mit seinen früheren Worten: Weiß schon, weiß schon, sondern ließ den Altgesellen weiterreden und wandte ihm seine ganze Aufmerksamkeit zu. Und dieser fuhr fort:

»Wir leben in einer Zeit, wo der Egoismus das Christentum immer mehr und mehr verdrängt. Es heißt nicht mehr »Hilf deinem Nächsten«, sondern »Töte deinen Nächsten«; nicht mehr »Liebet euch untereinander«, sondern »Fürchtet euch voreinander«. Ich wollte nur fragen: Stehen Sie immer noch auf Ihrem alten Standpunkt; denken Sie immer noch nicht anders? Glauben Sie immer noch, daß die Erde mit ihren Schätzen nur für wenige geschaffen sei und nicht für alle?«

»Mein lieber Beyer«, erwiderte Timpe, »das Unglück hat angefangen, mich zu verfolgen; aber trotzdem werde ich mich nicht auflehnen gegen die Gesetze der Menschen und ihre Satzungen. Gehe ich zugrunde, so werde ich das als eine Notwendigkeit der Ordnung dieser Welt betrachten. Aber ich werde mit Ehren zugrunde gehen, und wer das von sich sagen kann, der nimmt ein schönes Bewußtsein mit. Ich glaube an einen Gott, und dessen Fügungen sind wunderbar. Mein Wahlspruch heißt: Tue recht und scheue niemand. Ich weiß schon lange: Die Sozialdemokratie hat Ihnen den Kopf verdreht, aber ich will den meinigen geradebehalten. Sie sind einer von der besseren Sorte, lieber Beyer, denn Sie sind ein Schwärmer. Aber sehen Sie: Ich habe einmal gelesen, daß Kaiser Karl der Fünfte sein ganzes Leben lang sich damit gequält hat, zwei Uhren in die gleiche Gangart zu bringen, ohne daß es ihm gelungen wäre. Geradeso ist es mit den Menschen: nicht zwei von ihnen besitzen die gleichen Eigenschaften. Und die besten Freunde sind schon zu Todfeinden geworden, weil der eine eines Tages mehr besaß als der andere. Und was im Kleinen nicht geht, wollen Sie im Großen vollführen? ... Die Monarchie soll sich der Schwachen und Bedrückten annehmen! Ich bin gut königstreu – also reden wir nicht mehr darüber.«

Beyer schüttelte mit dem Kopf. »Ihre Glaubenstreue ist zu bewundern«, sagte er dann; »aber Meister, Meister, ich sage Ihnen, Sie werden einmal anders denken. Sie gehen noch in unser Lager über. Und die Ordnung dieser Welt, wie Sie es nannten, wird das zuwege bringen.«

Timpe machte eine abwehrende Bewegung. »Niemals!«

»Doch, Meister –« Mit diesen Worten verschwand der Altgeselle und ließ Timpe sinnend zurück.


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