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II.
Drei Generationen

»Ja, ja, das waren noch andere Zeiten ... damals! Das Handwerk hatte einen goldenen Boden und wurde geehrt. Voll Stolz band man sich frühmorgens die Schürze vor und schämte sich nicht der Arbeit der Eltern. Aber das scheint sich geändert zu haben, seitdem ich nicht mehr sehen kann. Heute will so ein Grünschnabel von Junge den großen Herrn spielen, mit gefüllter Tasche und weißen Händen umherlaufen und klüger als wir Alten sein ... Aber die Zuchtrute fehlt, die Zuchtrute – das ist meine Rede!«

Auf diese wohlgemeinten Worte Gottfried Timpes, die sich seit einem Jahrzehnt täglich zu wiederholen pflegten, blieb Johannes Timpe gewöhnlich die Antwort schuldig, sobald es sich um die Anklage gegen sein einziges Kind, seinen Sohn, handelte. Aber sein Blick voll Liebe richtete sich mit dem Ausdrucke tiefsten Mitleids nach dem Fenster auf die hinfällige Gestalt des dreiundachtzigjährigen Greises, der seit einem Jahrzehnt ein Dasein in ewiger Nacht führte und in der Welt des vergangenen Jahrhunderts lebte, die seine Erinnerung ihm vor das geistige Auge zauberte.

Ja, der Großpapa, sein Zorn über die Neuerungen! Es war schwer, sich beiden zu widersetzen, denn man ehrt die Ruine, der man seine Existenz zu verdanken hat, und betrachtet ihre Absonderlichkeiten wie etwas Heiliges, Überliefertes. Und Johannes Timpe hatte seinem Vater alles zu verdanken: seine Kunstfertigkeit als Drechsler, die Zähigkeit und Ausdauer, die man ihm nachrühmte, und auch dieses kleine, unscheinbare Haus, in dem er geboren und erzogen worden war. Schon sein Äußeres verriet die längst vergangene Epoche, in der es entstanden war. Über den vier Fenstern des Parterregeschosses zeigten sich, in Stein gehauen, geflügelte Engelsköpfe, von denen nur zwei noch völlig erhalten waren, während von je einem der anderen Nase und Flügel fehlten.

Die drei ausgetretenen Steinstufen führten zu der bohlenartigen, mit großen Nägelköpfen gezierten Tür, über welcher reliefartig das Sinnbild des Drechsler- und Kunstdrechslergewerbes prangte: ein Taster, auf dem über Kreuz Meißel und Röhre lagen; darunter eine Kugel, flankiert von zwei Schachfiguren.

Was dem Hause als ein besonderes Merkmal anhaftete, war seine außergewöhnliche Lage. Es stand mit der Front schräg hinter der Straße, so daß vor seinen Fenstern zwischen der Flucht des Trottoirs und der Seitenwand des Nachbarhauses ein spitzwinkliger Vorderhof entstanden war, der von der Straße durch ein Holzgitter getrennt wurde. Dieser absonderliche Umstand hatte auch an der Schmalseite des Gebäudes, an deren äußerster Ecke das andere Nachbarhaus hervorragte, einen zweiten, kleineren Winkel geschaffen, der durch eine Bretterwand bis zur Höhe des Giebelfensters den Blicken verdeckt wurde. Man hätte das ganze Häuschen wie einen steinernen, nach Fertigstellung der Straße in dieselbe hineingetriebenen Keil betrachten können, wenn nicht sein Alter dem widersprochen haben würde. In Wahrheit war es bereits vorhanden gewesen, als vor einem halben Jahrhundert die Notwendigkeit zur Anlage einer Straße an dieser Stelle sich geltend gemacht hatte und man das Häuschen rechts und links zu umbauen begann, weil sein bisheriger Besitzer, Ulrich Gottfried Timpe, nicht die geringste Neigung zeigte, seine Rechte zu veräußern.

Wenn der Großvater seine ewigen Rückblicke mit den Worten einleitete: »Ja, ja, das waren noch andere Zeiten ... damals!« – so sprach er das in der Erinnerung an jene Jahre, wo das Häuschen hier noch wie ein einsamer Vorposten an der Peripherie der Stadt lag und den Blicken seiner Bewohner die weitmöglichste Aussicht über freie Felder und über das Bett der Spree gestattete.

Als Ulrich Gottfried Timpe im Jahre 1820 vermöge eines kleinen Kapitals, das sein Vater, der Kunstdrechsler Franz David Timpe, ihm hinterlassen, sich hier angebaut hatte, war von dem großen Stadtteile, der sich heute von der Frankfurter Straße bis zur Spree hinzieht, noch wenig zu sehen. Vereinzelt standen die Häuser zwischen Gärten, Baustellen und Getreidefeldern. Selbst innerhalb der Stadtmauern zeigten sich lange Strecken öder Felder, unterbrochen bis zu den Toren durch Königliche Magazine, durch ein riesiges Familienhaus, das dazu bestimmt war, armen Handwerkerfamilien ein billiges Obdach zu gewähren, und hin und wieder durch eine der vielen Gärtnereien, deren blühende Obst- und Blumenanlagen das damalige Köpnicker Feld, auf dem heute ein Meer von Häusern sich erhebt, zu einem eigentlichen Fruchtfeld gestaltet hatte. Die Straßen glichen ländlichen Fahrwegen, auf denen man hin und wieder tief im Sande versank; und die ein- und zweistöckigen Häuser, welche sich mit der Zeit zu Straßenzügen aneinandergekettet hatten, waren zum größten Teil von armen Handwerkern bevölkert, die notdürftig ihr Dasein fristeten. Untergeordnete Gasthöfe und unansehnliche Wirtschaften tauchten überall auf, und die mangelhafte Verbindung mit dem Zentrum der Stadt, die vereinzelt stehenden Häuser auf freiem Felde hatten ein höchst zweifelhaftes Gesindel geschaffen, das in Spelunken aller Art seine Zufluchtsstätte fand, die Sicherheit bedrohte und die Gegend in einen argen Ruf brachte.

Und trotzdem lobte Ulrich Gottfried Timpe die alte Zeit, denn inmitten von Armut und Elend, die damals ebenso vorhanden waren wie heute und die ganze ungeheure Hälfte Berlins, die sich von dem Schlesischen bis zum Rosenthaler Tor hinzog, bevölkerten, hatte sein Handwerk geblüht, wurde es in Ehren gehalten, galt die Schlichtheit des Mannes noch etwas, bestrebte sich nicht der Sohn des Meisters das Arbeitsgewand des Vaters zu verachten, um über seine Verhältnisse hinaus zu wollen. Allerdings wußte man auch damals noch nichts (nach der Ansicht Ulrich Gottfried Timpes!) von einer gewissen Affenliebe, mit denen die Eltern ihre Kinder beglücken, um dieselben eines Tages über ihre eigenen Köpfe wachsen zu sehen.

Gewiß, die Affenliebe! Johannes Timpe hätte über den Gebrauch dieses Wortes von seiten des erblindeten Greises ein Liedchen singen können; denn der, dem die übertriebenen elterlichen Zärtlichkeiten galten, war Franz, sein und seines Weibes einziger Stolz.

Der heutige Besitzer des kleinen Hauses hatte erst spät geheiratet. Nachdem seine zwei Brüder, die ebenfalls in der Werkstatt des Vaters tätig gewesen waren, das Zeitliche gesegnet hatten und seine Stellung im Hause eine völlig andere geworden, war der Entschluß in ihm gereift, seine langjährige Braut heimzuführen. Als das geschah, zählte er bereits sechsunddreißig Jahre. Sein erstes Kind war ein Mädchen gewesen, das aber gleich nach der Geburt gestorben war. Dann war sein Sohn gekommen und nach diesem abermals ein Mädchen, welches das zehnte Jahr erreicht hatte und dann ebenfalls den Eltern entrissen wurde. Der Schmerz Johannes Timpes und seiner getreuen Gattin war ein unaussprechlicher gewesen. Als sie aber sahen, wie ihr Sohn zu einem hübschen Knaben heranwuchs und vortrefflich gedieh, faßten sie sich allmählich und übertrugen die Liebe, die sie für die blühende Tochter an den Tag gelegt hatten, auf ihn allein. Sie übersahen seine Schwächen, die sich im Hange zu allerlei Unarten, zum Verleugnen der Wahrheitsliebe, zur Ränkesüchtelei und zur Trägheit ausprägten; trösteten sich mit der Selbstlüge, daß dieser böse Keim sich dereinst beim Emporschießen in die Frucht verlieren werde. War Franz doch ihr Stolz, der Träger des Namens seines Vaters, die Verwirklichung ihrer ganzen Zukunftspläne!

»Handwerker darf der Junge nicht werden, er soll sich sein Brot leichter verdienen«, pflegte Johannes Timpe in den Stunden nach Feierabend zu Frau Karolinen zu sagen. Und die getreue Ehehälfte ließ die klappernden Stricknadeln auf ein paar Augenblicke ruhen, blickte im Zwielicht sinnend auf den kleinen Winkel vor dem Fenster hinaus und erwiderte stolz beseelt: »In dem Jungen steckt etwas, der muß was Großes werden.«

Diese elterlichen Träume hatten bereits begonnen, als Franz anfing, die Schule zu besuchen, der Großvater nach dem Heimgange seiner Frau über mangelndes Sehlicht klagte und Haus und Geschäft ganz in die Hände seines Sohnes legte. Und als eines Tages dem Alten durch eine Entzündung seiner Augen das Sehvermögen gänzlich entschwunden, er ganz und gar auf die liebende Pflege Johannes und Karolinens angewiesen war, ein Leben aus sich heraus führte und nur noch mit seiner Erinnerung an die alte Zeit und mit seinen Ratschlägen nützen konnte; als Johannes Timpe der Werkstätte ganz allein vorstand, er das Schicksal seines Vaters tagtäglich vor Augen hatte – wurde um so mehr der Wunsch in ihm rege, seinem einzigen Kinde Erziehung und Bildung zuteil werden zu lassen, die ihm die Fähigkeiten zu geben vermöchten, eine bessere soziale Stellung einzunehmen und sich mit weniger saurem Schweiß durchs Leben zu schlagen.

»Er soll Kaufmann werden«, hatte er dann eines Tages mit einer Bestimmtheit gesagt, an welcher nichts mehr zu ändern war. Und mit diesem Ausspruch verbanden sich merkwürdige Ideen, die in innigstem Zusammenhange mit seinem Gewerbe standen. Er hatte acht Gesellen in seiner Werkstatt, die Drehbänke standen selten still, um Aufträge war er niemals verlegen, sein Wohlstand schien nach und nach zu reifen, seitdem der industrielle Aufschwung im Viertel immer größer wurde; ein kleines Kapital war zur Reserve angelegt worden – weshalb sollte er also nicht darauf sinnen, aus einem Handwerker zum Handeltreibenden zu werden, seine Beziehungen zu erweitern und auf eigene Faust zu spekulieren? Dazu bedurfte er eines gewiegten Beraters, den er dereinst in seinem Sohn zu erblicken gedachte.

Als Johannes Timpe in der Dämmerung eines Wintertages, wie gewöhnlich mit Frau Karoline am Fenster des Wohnzimmers sitzend, die Zukunft seines Sohnes festgestellt hatte, war auch sofort der Widerspruch bemerkbar geworden.

»Kaufmann ist Laufmann«, hatte die Stimme des Großvaters sich vernehmen lassen. »Mach den Jungen zu einem ordentlichen Handwerker, erziehe ihn zu harter Arbeit, dann wird er auch stets sein Brot finden und euch nicht über die Köpfe wachsen. Ich will euch nicht wehe tun, aber der Junge hat schlechte Seiten. Und was ein Häkchen werden will, das krümmt sich beizeiten.«

Damals bereits war das harte Wort von der Zuchtrute gefallen, das sich wie eine ewige Mahnung aus dem Munde des Alten Jahre hindurch fortsetzen sollte. Hätte Johannes Timpe seinen Vater nicht so liebgehabt, nicht das Bewußtsein seiner ewigen Dankbarkeit gegen ihn mit sich herumgetragen, so würde er über die Hartnäckigkeit, mit welcher der Greis die wohlmeinenden Pläne des Ehepaars bekämpfte, ernstlich böse geworden sein; aber eingedenk des Sprichworts, welches alten Leuten eine gewisse Wunderlichkeit zuspricht, verlor er niemals seine Ruhe, versuchte er so viel als möglich Ulrich Gottfried Timpe milder zu stimmen und ihn dem Knaben geneigter zu machen. Zum Schluß brachte er denn immer etwas hervor, was seiner Meinung nach das Recht auf seine Seite bringen mußte.

»Franz hat eine schwache Brust, er wird schwere Arbeit nicht ertragen können; für die Drehbank ist er ganz und gar nicht geschaffen.«

Das war ein Punkt, der allerdings zu denken gab und welcher auch Karolinens Redseligkeit entfesselte. Was hätte Gottfried Timpe wohl gegen die Mutterliebe einzuwenden vermocht! In einer derartigen Situation lauteten seine letzten Worte: »Ihr werdet's ja sehen.« Dann sank das Haupt wieder auf die Brust, hüllte der Greis sich in tiefes Schweigen.

So waren denn die Jahre vergangen. Franz hatte die obere Sekunda-Klasse der Realschule erreicht und wurde dann bei Ferdinand Friedrich Urban in die Lehre gebracht. Das war bereits im Oktober des vergangenen Jahres geschehen. Während dieser Zeit hatte er vielfach Gelegenheit gefunden, seine Anlagen zum Leichtsinn aufs gründlichste zu beweisen, die Freiheit des Willens, die man ihm seit seiner frühesten Jugend gelassen hatte, nach Kräften auszunützen. An Bildung und Wissen seinen Eltern weit überlegen, inmitten der Weltstadt groß geworden, gewöhnt, mit gleichaltrigen Genossen in Berührung zu kommen, deren Eltern eine andere Lebensstellung einnahmen, als die seines Vaters war, von dem brennenden Ehrgeize beseelt, in eine andere Sphäre der Gesellschaft hineinzukommen – hatte er sich mit der Zeit Neigungen zugewendet, die ihm unzertrennbar von den Passionen eines jungen Mannes seiner Bildung und seiner Zukunft schienen.

Meister Timpe verweigerte seinem Sohne nichts. Er kleidete ihn nach der neuesten Mode, er gab ihm zu dem kleinen Monatsgehalt ein reichliches Taschengeld und empfand einen gewissen Stolz darin, von wohlmeinenden Nachbarsleuten die elegante Erscheinung seines Sohnes, der wie ein »junger Graf« dahinschreite, gelobt zu wissen. Dabei übersah er denn auch gern die »kleinen Seitensprünge« Franzens, wie er die abenteuerlichen Kneipereien des jungen Mannes zu nennen pflegte. Das kam selten vor; legte sich doch der »gute Junge« fast regelmäßig um neun Uhr schlafen, um des Morgens rechtzeitig munter zu sein. Als der Großvater eines Vormittags seinem Sohne berichtete, daß Franz einige Mal nach Mitternacht nach Hause gekommen sei, lachte Johannes Timpe ihm laut ins Gesicht. Sein Sohn, der um neun Uhr bereits nach seiner Stube hinaufgegangen war, sollte am frühen Morgen nach Hause gekommen sein? Er fand das äußerst schnurrig und sprach von »wunderlichen Träumen« und »Gespenstersehen trotz der Blindheit«. Der Greis aber hatte sich nicht getäuscht. Eines Abends vernahm er, wie sein Enkel kurz vor zehn Uhr leise die Tür verschloß und die Treppe hinunterschlich. An den geschlossenen Fensterläden vorüber, konnte Franz unbemerkt die Straße erreichen. Das wiederholte sich mehrmals in der Woche. Er täuschte und belog seine Eltern zu gleicher Zeit.

Der Alte war starr bei dieser Entdeckung, behielt sie zuerst für sich, nahm aber seinen Enkel bei Gelegenheit ins Gebet, um ihn zu beschämen. Timpe junior leugnete; und als er inne ward, daß das nichts helfe, wurde er von einem unbezwingbaren Haß gegen den Alten erfaßt – einem Haß, der eigentlich nur das helle Aufflackern einer von seiner Kindheit an in ihm schlummernden Abneigung gegen den Großvater war.

Ulrich Gottfried Timpe aber mußte nach seiner Mitteilung erleben, daß Johannes zuerst ein sehr ernstes, überraschtes Gesicht zeigte, dann zu lachen anfing und sagte: »Ein toller Junge! Der hat richtigen Mutterwitz. Ich weiß, Vater, daß du dich nicht gut mit ihm stehst; überlaß mir nur die Geschichte. Das ist mehr Leichtsinn als Schlechtigkeit. Du darfst nicht vergessen, daß die jungen Leute von heute anders über die Moral denken und daß die Welt mit der Zeit eine andere geworden ist. Das verstehen wir beide nicht mehr. Du noch weniger als ich.«

Als Franz Timpe von dieser Unterredung erfahren hatte, versuchte er seinen Großvater auf das gründlichste anzuschwärzen: Der Alte gönne ihm nicht das liebe Leben. Wenn er wirklich einmal des Nachts spät nach Hause gekommen, so sei das nicht so schlimm und nicht dazu angetan, eine große Klatscherei darüber zu machen. Das ganze Bestreben des Großpapas ginge nur darauf hinaus, ihn mit den Gesellen auf eine Stufe zu stellen, wie es früher vielleicht Mode gewesen sein mochte. Könne er wohl etwas dafür, wenn der Geschäftsführer ihm die Ehre erweise, mit ihm länger zu kneipen, als es sonst der Fall zu sein pflegt? Er sei eben sehr angesehen im Geschäft, und seine Kollegen hielten große Stücke auf ihn.

Damit hatte Franz sein Ziel erreicht; denn Johannes Timpe, erfreut über das Ansehen, das sein Sohn, der Stolz seiner alten Tage, genoß, wischte die Hände an der blauen Schürze ab, zog seinen Stammhalter an sich und sagte leise, indem er sich verlegen umsah, als befürchte er, von dem Großpapa gehört zu werden:

»Ich weiß, wie das ist, mein Junge ... Also der Geschäftsführer verkehrt mit dir? Hm – das läßt sich hören ... Versprich mir nur, nicht länger als bis Mitternacht wegzubleiben, dann bin ich schon zufrieden. Du mußt doch schlafen. Wenn das nicht wäre ...«

Franz Timpe wendete sein hübsches Gesicht ab, denn er wollte dem Vater seine Verlegenheit nicht zeigen. Und während Daumen und Zeigefinger der rechten Hand sich mit dem Flaum der Oberlippe beschäftigten, erwiderte er: »Ich verspreche es dir!«

»Ich wußte, daß du es tun würdest, mein Sohn.«

Meister Timpe hatte seinem Jungen vergnügt auf die Schulter geklopft und ihn dann (es war in der Mittagsstunde beim hellen Sonnenschein eines trocknen Wintertages) durch den langen Flur nach dem Garten hinaus genötigt, der sich hinter dem Häuschen ausdehnte.

Mit diesem Fleckchen Erde hatte Johannes Timpe seine besonderen Pläne, über welche er nur zu gern mit seinem Sohne sprach. Da schwirrten die Worte »Anbauen ... Kleine Fabrik errichten ... Das Geschäft kaufmännisch betreiben ... Seinen Sohn zum Kompagnon machen ... Neues Vorderhaus errichten ...« durch die Luft, so daß Franz seinem Vater mit dem größten Interesse zuhörte; denn man schilderte ihm das Element, in dem er sich einst zu bewegen gedachte. Befehlen, herrschen, Fabrikbesitzer spielen – gewiß, das war das Ziel, dem er zustrebte.

Während aber Johannes Timpe das seinem Sohne entwickelte, vergaß er niemals, den Kopf nach dem Großpapa zu wenden, der in der Mittagsstunde in dem Rahmen der Hoftür zu stehen pflegte, um die Tauben zu füttern, die girrend auf seinen Pfiff herangeflogen kamen. Der Drechslermeister fürchtete seinen Vater, wie Franz ihn haßte.

Was würde er wohl sagen, wenn er Kenntnis von diesen tollen Plänen bekäme? Er, der sich einen Handwerker nicht anders vorstellen konnte als mit zwei oder drei Gehülfen in der Werkstatt, arbeitend gegen bare Bezahlung, im Besitze eines einzigen Geschäftsbuches, in dem die Ausgaben und Einnahmen gewissenhaft verzeichnet wurden; bescheiden und anspruchslos lebend, nur darauf bedacht, ohne jede Spekulation zu einem soliden Wohlstande zu gelangen.

Großvater, Vater und Sohn bildeten in ihren Anschauungen den Typus dreier Generationen. Der dreiundachtzigjährige Greis vertrat eine längst vergangene Epoche: jene Zeit nach den Befreiungskriegen, wo nach langer Schmach das Handwerk wieder zu Ehren gekommen war und die deutsche Sitte aufs neue zu herrschen begann. Er lebte ewig in der Erinnerung an jene glorreiche Zeit, die nach Jahren voller Schrecken und Demütigung den deutschen Bürger zu einem bescheidenen Menschen gemacht hatte.

Johannes Timpe hatte in den Märztagen Barrikaden bauen helfen. Er war gleichsam das revoltierende Element, das den Bürger als vornehmste Stütze des Staates direkt hinter den Thron stellte und die Privilegien des Handwerks gewahrt wissen wollte.

Und sein Sohn vertrat die neue Generation der beginnenden Gründerjahre, welche nur darnach trachtete, auf leichte Art Geld zu erwerben und die Gewohnheiten des schlichten Bürgertums dem Moloch des Genusses zu opfern.

Der Greis stellte die Vergangenheit vor, der Mann die Gegenwart und der Jüngling die Zukunft. Der erste verkörperte die Naivität, der zweite die biderbe Geradheit des Handwerkmannes, der sich seiner Unwissenheit nicht schämt, sich seines Wertes bewußt ist; und der dritte die große Lüge unserer Zeit, welche die Geistesbildung über die Herzensbildung und den Schein über das Sein stellt.


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