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Der jetzt vielbemerkte Unterschied zwischen Stadt und Land prägt sich im österreichischen Verkehrsleben etwa dahin aus, daß in Wien die Automobile auf die Bevölkerung und in der Provinz die Bevölkerung auf die Automobile losgelassen wird.
In Wien läßt das öffentliche Leben nur noch die Bewältigung einer einzigen Denkaufgabe zu: wie man lebendig von einem Trottoir zum andern gelangt. (Abgesehen von meinem vitaleren Verkehrsproblem: im Lokal dem Gruß des Grüßers auszuweichen.) Wie man also über jene Punkte hinüberkommt, wo der Verkehr zwar nicht groß, aber gefährlich ist, wo »Gefahr« als Neutrum in Erscheinung tritt, und wo der Tod, wenngleich nur in Gestalt je eines Automobils, aus mehr Richtungen daherkommt, als im Kosmos vorgesehen sind, indem die Erbauer dieser rätselhaften Stadt vermutlich den Ehrgeiz hatten, einander an Kreuzungspunkten zu übertreffen. Der Ausblick aber, der erforderlich wäre, um sich gegen die Automobile zu schützen, deren Lenker – Fiaker, die den Pferdekräften die Zügel schießen lassen – offenbar infolge des Taxameterzwanges rasend geworden sind: der Ausblick wird in dem entscheidenden Moment, wo es auf Leben und Tod geht, von der »Elektrischen« versperrt, hinter der, wenn einmal eine da ist, gleich vierzig nacheinander kommen, wo man geht und steht, und die immer dort stehen bleibt, wo man endlich gehen möchte, eine Erscheinung, die es an Häufigkeit sogar mit der der Wachmänner aufnehmen kann, die jetzt überall in Rudeln auftauchen. Freilich fehlen sie an den Punkten der Gefahr, was aber durchaus nicht unbegreiflich ist. Während sie an wenig belebten Stellen durch sonderbare Bewegungen, streng nach Laban, die Chauffeure fesseln, die verweilen, weil sie sich doch auch so was ansehn wollen – es handelt sich wohl darum, den Körper für den Nahkampf im Bürgerkrieg zu stählen –, meiden sie zum Beispiel die Gefahren des Schwarzenbergplatzes, wo die Chauffeure keinen Pardon kennen und keine Zeit für solche Extravaganzen haben. Wie sich zivile Fußgänger hier retten, ist immer aufs neue ein Wiener Wunder. An manchen Straßenübergängen, wo man ganz bequem das Amtsblatt der ›Wiener Zeitung‹ lesend passieren könnte, ist der »Trennungsstrich« zwischen Fußgängern und Automobilen gezogen, da und dort sind auch Einbahnstraßen bezeichnet, wo es dann nur in einer Richtung lebensgefährlich ist, und Ringelspiele errichtet, während sich ein Lachkabinett, worin sich der Wiener Verkehr im Zerrspiegel betrachten würde, als überflüssig herausstellte. Doch in der Stadt, in der eine seltsame Fügung so viele Anlagen »dem Schutze des Publikums empfohlen« hat, ist dieser Genitiv noch niemals in seinem verständlicheren Sinne zur Geltung gekommen, und gewiß nicht, seitdem das Publikum den Anlagen des Herrn Schober überlassen ist, der ja in der Überzeugung lebt, seine Polizei sei zum »Marschieren« da, aber es kaum riskieren würde, ihr über den Schwarzenbergplatz voranzumarschieren. Wie alte und bresthafte Leute das machen sollen, über dieses Problem schreitet er zur Tagesordnung, auf welchem Wege ihm bis jetzt allerdings noch kein Auto entgegenkam. Fremde, die kürzlich in Wien waren, erzählten, ihr erster Eindruck von der Ringstraße, deren Spezialität sie einmal auf sich wirken lassen wollten, sei die schwere Verletzung eines überfahrenen jungen Mädchens gewesen. Wie Fremde immer sogleich typisieren und verallgemeinern, zogen sie daraus den Schluß, daß dergleichen bei dieser Art von Straßenpolizei unaufhörlich vorkommen müsse und eben an der Tagesordnung sei, zu der ihr Vorgesetzer schreitet; sie glaubten jedoch der beruhigenden Versicherung, daß der Wiener sprichwörtliches Glück habe und gegen Unfälle schlechterdings gefeit sei. Bis zu einem gewissen Grade – und welch ein Angsttraum wäre der »Traum ein Wiener Leben«, transponiert in das Automobilzeitalter – muß das wohl auch stimmen. Gleichwohl wird der, der etwa um acht Uhr morgens in der Gegend des Naschmarkts dieses Knäuel und Greuel aus Menschen, Pferden und Pferdekräften, dieses Ineinander von Elektrischen und Viehwagen, dieses Tschihü und Tschihott aus allen Richtungen auf sich wirken läßt, die Vorstellung nicht los, daß hier ein Plan waltet, ein teuflischer Plan. Dieser Straßenverkehr – dessen System Paris oder Berlin täglich unfehlbar in ein Schlachtfeld verwandeln würde, während man dort durch das dichteste Gewühl heil hindurchkommt –, dieses Chaos aus Dürftigkeit und Zufall muß eine Strafexpedition bedeuten gegen die Stadt, deren Bevölkerung in ihrer Majorität den Tag nicht vergessen kann, wo es auf der Ringstraße Unfälle ohne Verschulden von Autos gab, welche vielmehr ausschließlich für den Transport der Verwundeten herangezogen wurden. (Wobei Herr Schober nur vergißt, daß sich unter den Fußgängern auch treue Anhänger des Neuen Wiener Journals befinden.) Ohne Zweifel, wenn man in Wien sich vor den Autos retten will, muß man eins nehmen, und auch da ist es nicht sicher, ob es gelingt. Glück muß man haben.
Wie anders auf dem flachen Lande! Dort, von wo unsere Minister offenbar mit dem Personenzug angekommen sind, betrachtet man das Automobil zwar auch als den Feind der Bevölkerung, aber als einen, der ihr unterliegt. Dort bildet es wieder das einzige Denkproblem des Autolenkers, wie er ungefährdet vom Fußgänger auf der Landstraße weiterkommt. Die Gefahr, daß der Kutscher eines Jauchewagens beherzt eine Schaufel seiner Fuhre auf die Insassen des Autos schütte, ist die geringere. Selbst die nachgeschleuderte Verdammnis: »Stinkata!« mag einen unberührt lassen. Doch auf dem Lande werden Autounfälle veranstaltet. Und zwar mit der plausiblen Begründung, daß die Urheber einmal einen solchen sehen wollten, zu welchem Behufe sie eben – man muß sich zu helfen wissen – Telegraphenstangen, die doch gleichfalls zu nichts nütz sind, über die Straße legen. Denn man darf nicht glauben, daß der Troglodyt nur so hinvegetiert, auch seine Wißbegier ist durch die Zeitung schon geweckt worden, und er kann seiner natürlichen Abneigung gegen das Automobilwesen tätigeren Ausdruck geben als die Hunde, die sich nach wie vor damit begnügen müssen, durch Bellen prinzipielle Verwahrung gegen den Fortschritt einzulegen, wie seinerzeit die deutsche Fortschrittspartei gegen die Unbilden der Regierung. Staunend, mit Ergriffenheit vor den Naturwundern dieses österreichischen Menschenschlages, liest man:
Amstetten, 28. August.
In der Nacht von vorgestern auf gestern fand der Wiener Ingenieur Viktor Michel, der in Engelberg auf Sommerfrische weilt, die Bezirksstraße in der Nähe dieser Ortschaft durch zehn Telegraphenstangen verbarrikadiert. Die zwei Meter langen Säulenstücke lagen in vier Reihen über die ganze Straßenbreite. Da die Straße an dieser Stelle infolge einer scharfen Kurve sehr unübersichtlich ist und ein starkes Gefälle aufweist, würde es, wenn ein Auto an diese Barrikade angefahren wäre, zu einem schweren Unglück gekommen sein.
Ingenieur Michel machte noch in der Nacht die Anzeige, und durch die sofort durchgeführten Nachforschungen der Gendarmerie gelang es binnen kurzem, zwei Burschen aus der Umgebung zu eruieren und zu verhaften. Es sind dies die landwirtschaftlichen Arbeiter Franz Hollinger und Johann Kretzl aus Oettl, Gemeinde Erlaa. Die Burschen gaben sofort zu, die Autofalle errichtet zu haben, um, wie sie mit freimütiger Offenheit gestanden, einmal ein Autounglück zu sehen, zu welchem Zweck sie sich in der Nähe verborgen hatten. In ihrer Gesellschaft befand sich noch der Melker Karl Szakal, der allerdings nur zuschaute. Die beiden Burschen wurden dem Bezirksgericht Haag eingeliefert. Gegen Szakal wurde bloß die Strafanzeige erstattet.
Die rührendste Gestalt ist der Melker: starker Wissensdrang, doch ohne jede Tatkraft. Man fragt sich, ob es auf der französischen Landstraße möglich wäre; ob die Menschennatur dort Spielraum für dergleichen Bestrebungen ließe. Und wie man eigentlich dazu kommt, einer Nation anzugehören, in deren Bereich es vermöge eines romantischen Zuges, der ihr eignet, geschehen kann. Innerhalb dieses Erdstrichs ist aber die Westbahngegend nicht etwa besonders bevorzugt; auch auf der Südbahnstrecke, über die ja gleichfalls die Fremden kommen, denen so etwas fremd ist, betätigt sich am Phänomen des Automobils der lebendige Drang einer Landbevölkerung, die über die Entwicklungsphase schon hinaus ist, wo sie die Uhr, die man ihr zeigte, in den Mund nahm. Wenngleich sie aber noch nicht überall technisch so avanciert ist, Barrikaden gegen den Verkehr zu errichten, so ist sie doch auch nicht mehr so lethargisch, wortlos zuzusehen, wie er sich abspielt, den Dingen ihren Lauf zu lassen und sich etwa bloß zu bekreuzigen, wenn der leibhaftige Teufel durchs Neandertal fährt. Zu geradezu symbolhafter Bedeutsamkeit, in Tagen, in denen die Provinz die Eroberung Wiens plant, prägt sich das österreichische Verkehrsproblem in dem folgenden Bericht aus:
Baden, 14. September.
Auf der Landstraße von Schönau nach Günselsdorf blies der Gemeindehirt Jakob Wessely frohgemut sein Waldhorn und knallte hiezu mit der Peitsche. Vor ihm trabten gemächlich einige hundert Kühe und Ochsen, hinter seinem Rücken aber tutete verzweifelt ein Auto. Der Kuhhirt ließ sich aber absolut nicht stören; je lauter das Auto hupte, desto kräftiger blies er in sein Horn. Schließlich verlor der Insasse des Autos, Primarius Dr. Habetin des Allgemeinen Krankenhauses in Wiener-Neustadt, die Geduld und er rief dem Hirten zu, er möge ihn doch endlich vorbeilassen. Der Kuhhirt nahm sein Horn aus dem Mund und rief zurück: »Bleibt's dahoam, Saubagasch! Jetzt san mir da und unsere 0chsen!«
Nun stellte der Arzt das Auto ab, ging auf den Hirten zu und fragte ihn nach seinem Namen. »Lausbua, dreckiger«, antwortete dieser und schwang drohend die Peitsche, »fahrt's a anderes mal, faule Stadtbagasch!« Vergeblich erklärte ihm der Primarius, daß er einen dringenden Krankenbesuch habe; die Ochsen und Kühe umstellten das Auto, der Kuhhirt sprang auf den Primarius zu, riß ihm seine Hornbrille vom Gesicht und schlug mit der Peitsche auf ihn ein.
Der Chauffeur eilte ihm zu Hilfe, aber da kam auch schon der Stiefbruder des Hirten Johann Pospischil mit einem Holzprügel über den Acker gelaufen und nun entspann sich ein regelrechter Kampf. Der Kuhhirt und sein Bruder blieben als Sieger zurück, die beiden Angegriffenen fuhren verletzt davon und hinter ihnen dröhnte es: »Daß ihrs wißt, ihr faule Stadtbagasch, die Landstroß'n g'hört uns und unserm Viech!«
Gestern hatten sich die beiden Brüder wegen leichter Körperverletzung vor dem Bezirksgerichte Baden (Landesgerichtstat Dr. Sammel) zu verantworten. – Richter: Was ist Ihnen denn da eingefallen? – Angekl. Wessely: Wenn die Ochsen den Schwoaf aufstellen und zu brüllen beginnen, muß i fest blasen und schnalzen, sonst gengan s' ma durch. Der Stadtfrack hätte nicht so mit Huppen spüla solln. – Richter: Aber der Herr ist doch Arzt und mußte so dringend zu einem Kranken. –Angekl.: Ich bin 30 Jahr Halter und bin no nie an Auto ausg'wichen. – Richter: Jetzt werden Sie aber auf längere Zeit die Landstraße freigeben müssen. Sie bekommen zehn Tage strengen Arrest, Ihr Stiefbruder vier Tage.
Der Arzt hätte für einen verpönten Eingriff, zu dem er sich etwa begeben hätte, natürlich mehr bekommen. Noch schwerer verurteilt ist der, der bei stets wacher Vorstellung, daß es auch provencalische Rinderhirten gibt, ein Landsmann Wesselys und Pospischils bleiben muß, vielleicht gar der Pein überlassen, daß in sein kontrastwundes Gehör der Klang der Sprache einfließen könnte, die die Hirten in der »Pandora« sprechen. Aber da kann man halt (oder halter, wie Goethe sagte) nichts machen, es ist eine vis major; und diese, die in Österreich die Oberhand über aller Staatshoheit hat, sehen wir in dem Augenblick walten, »wenn die Ochsen den Schwoaf aufstellen«. Dieser Moment scheint nun in der politischen Entwicklung des Landes gekommen. Als sie das Auto mit jener Neugier umstanden, der die Natur immerhin die Eingebung verwehrt hat, Telegraphenstangen über die Straße zu wälzen, dürften sie empfunden haben: »Jetzt san mir da und unsere Halter; die Landstraß'n g'hört dem Viech und uns!« Wenn die Halter gegen Wien marschieren, soll kein Auto diesen Fortschritt aufhalten. Jedennoch-wofern es sonst unblutig abgeht, kann man die endgültige Regelung des Wiener Straßenverkehrs durch Wessely und Pospischil nur begrüßen. Freuen wir uns, daß die Nation zwei solche Kerle hat! Wenn sie in Funktion treten, wird es auch der radikaleren Elemente, wie Hollinger und Kretzl, nicht bedürfen, obschon dann freilich der Melker das Nachsehen hätte. Hinreichender Umsturz, wenn man die Automobile auf die Provinz losläßt und auf uns die Halter!
Denn auf das Glück ist kein Verlaß. Es ist höchste Zeit, daß in Wien, wo über alles Gras wächst, dies endlich auch zwischen den Schienen der Elektrischen der Fall sei, wie es bereits nach dem Umsturz die Tschechen wachsen hörten, da sie offenbar den Wunsch hatten, ungefährdet über den Schwarzenbergplatz zu kommen. In Berlin braucht man Lichtsignale. Wir wären schon heilfroh, uns auf der Ringstraße nach dem entscheidenden Moment richten zu können, wenn die Ochsen den Schwoaf aufstellen.