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Die am weitesten bis zur Marne vorgeschobenen Truppen der Armee Boehn sind ungefähr 10-12 Kilometer in neue Stellungen zwischen der Marne und Vesle zurückgenommen worden. Der Heeresbericht wird die Meldung erst dann bringen, wenn der Gegner die rückwärtige Bewegung gemerkt hat. Vorher darf davon nichts verlauten. Wenn die Entente diese Bewegung, wie voraussichtlich, zu einem großen Erfolg aufbauscht, so liegt die dringende Notwendigkeit vor, durch die Presse auf eine richtige Beurteilung einzuwirken und das Publikum zu beruhigen. Wir hatten beabsichtigt gehabt, den durch unseren Vorstoß bis zur Marne reichenden Sack durch einen Doppelstoß bei Reims zu beseitigen und die Verbindung mit unserer Champagnefront herzustellen. Diese Absicht konnten wir nicht erreichen. Wir mußten die Offensive, der das Überraschungsmoment fehlte, zur Vermeidung von Verlusten einstellen. Der feindliche Durchbruchsversuch zwischen Reims und Soissons wurde abgeschlagen, so daß beide Parteien ihre Operationsabsichten nicht erreicht haben. Bei der Betrachtung der Lage darf dies aber von den deutschen Plänen nicht erwähnt werden, wohl aber soll es auf feindlicher Seite besonders stark betont und hervorgehoben werden. Seit dem 19. Juli hat sich eine ganz neue Lage herausgebildet. . . . Wir haben den Vorteil der kürzeren Front, der Truppenersparnis und der verbesserten rückwärtigen Verbindungen. Jedenfalls muß die Presse vor einer falschen Bewertung des reinen Geländebesitzes warnen. Für die Fortführung der Schlacht hat sich unsere Lage wesentlich gebessert . . . In dem allgemeinen Operationsplan, wie wir ihn im Winter festgelegt haben, tritt durch die jetzigen Ereignisse keine Änderung ein, er wird planmäßig durchgeführt. (Mühsam, Wie wir belogen wurden, S. 116, Pressekonferenz 29. 7. 1918.)
Das Regiment 253 hatte am Morgen des 15. Juli keinen anderen Befehl bekommen, als zurückzugehen. Angaben über warum und wozu fehlten. Das war vielleicht der Hauptgrund für die Unsicherheit, die sich bei Offizieren und Mannschaften bemerkbar machte, und die überall aufsprang, peinigend, verwirrend, lähmend.
Der Marsch am Tage mußte bald gestoppt werden. Der Himmel war klar und ergab gute Fliegersicht. Der Feind stieß mit Fliegergeschwadern, mit Dutzenden von Maschinen bis zum Hinterland durch. Das ließ es ratsam erscheinen, die Abteilungen des Regiments, die auf verschiedenen Straßen marschierten, batterieweise auseinanderzuziehen und die Fahrzeuge an Häuserruinen und unter Waldstücken so gut wie möglich bis zur Dunkelheit zu verbergen.
Die Hitze brütete und legte sich betäubend über die Menschen. Da war schon Müdigkeit, von den Stunden des frühen Morgens her. Nun steigerte sich dieser Druck und wurde willenloser Pessimismus bei Mannschaften und Offizieren.
Daß das Unternehmen »Anna« mehr bedeuten sollte als normalen Stellungskampf und übliches Artilleriegeplänkel, das hatte beim Beginn jeder unter den Mannschaften begriffen. Warum also ging man zurück? Was war schiefgelaufen? Die Maschine hatte doch funktioniert wie auf dem Truppenübungsplatz. Jedes Schußpensum war doch bis zum äußersten absolviert.
So lagen sie jetzt neben den Geschützen, halb dämmernd, und horchten nach vorn: Warum sind wir zurückgegangen?
Und die Wacheren unter ihnen: Die Sache ist mißglückt. Paßt auf, der Feind kommt nach.
Und horchten wieder nach vorn: Es schießt nur wenig. Sind das noch deutsche Batterien? Denn als wir abzogen, blieben ja andere noch stehen.
Und legten sich dann lang: Es ist vollkommen gleichgültig. Wir machen ja doch, was befohlen wird. Die Hauptsache ist, daß wir endlich einmal wieder etwas Vernünftiges zu fressen kriegen.
Geschlagen die Offiziere. Sie sagten nichts. Aber waren sie nicht alle in der Kirche gewesen, wo der Major sprach, der Mann mit der harten Stimme? »Unsere Unternehmung verspricht allen Erfolg.« Und der erste Erfolg, nicht wahr, war jetzt der, daß zum mindesten das Regiment 253 nach rückwärts hatte aufprotzen müssen?
Und beim Stab der Dritten Abteilung?
Leutnant Weller ist begraben, vorhin an der Chaussee. Da ist noch der Hauptmann Brett und Reisiger und der Feldunterarzt Winkel. Und der Hauptmann, der bisher wortlos gewesen ist, bekommt jetzt seine Sprache. Merkwürdig eigensinnig und irgendwie gekränkt: »Herr Leutnant Reisiger, Sie wissen seit langem, daß ich Gallensteine habe.« – Gallensteine? Keine Ahnung. Blick zu Winkel: Keine Ahnung. Der Hauptmann fährt fort: »Und das ist im Lauf der Nacht da oben in dem Dreckloch so schlimm geworden, daß ich leider noch heute die Kur antreten muß, die mit dem Regiment seit langem verabredet ist.« Und Reisiger und Winkel sehen sich wieder wortlos an. Und der Hauptmann zieht einen Taschenspiegel, untersucht darin sein dickes rosiges Gesicht und sagt, nun ganz beleidigt: »Ich bin ja schon vollkommen gelb.«
Reisiger will etwas antworten, hat nicht den Mut dazu. Das ärgert den Hauptmann offenbar. Er schnarrt: »Herr Leutnant Reisiger, bitte sorgen Sie dafür, daß mein Bursche sofort den Wagen mit dem Offiziergepäck für mich freimacht. Das heißt – die Herren müssen dann schon sehen, daß ihre Koffer wo anders unterkommen. – Ich fahre beim Regimentsstab vorbei und melde mich ab; ich habe solche Schmerzen, daß ich nicht mehr reiten kann. – Und ich sorge dafür, Reisiger, daß Sie Adjutant werden und daß für mich eine Vertretung kommt. Außerdem lasse ich den Leutnant Schlumpe von der 9. einstweilen als Ordonnanzoffizier für uns ernennen. Ich bin in vier Wochen wieder da.« Dabei macht er ein Gesicht, ganz plötzlich, als läge er bereits im Sterben. Das sieht um so komischer aus, weil er ganz dick ist und listige vergnügte Augen hat.
Ja, was soll man da machen? Noch nie im Kriege hat ein Leutnant einem Hauptmann etwas befehlen können. Reisiger hätte wahrscheinlich auch gar nichts befohlen; – vielleicht hat der Hauptmann recht. Vielleicht tut er das Klügste, was man tun kann. Der Krieg ist ja doch –
»Ich meine, ich komme in vier Wochen wieder, wenn der Krieg bis dahin nicht abgeblasen ist.« Der Hauptmann hat Angst vor irgendeiner Gegenrede. Er wendet sich schnell ab, setzt sich gegen einen Baum: »Also Reisiger, schnell den Wagen, ich ruhe mich noch einen Augenblick aus.«
Nach einer Stunde – ja sagte er eigentlich Adieu oder nicht – fährt der Hauptmann mit dem Burschen ab. Der Bursche, selbstverständlich, muß bis Deutschland mit, um den Koffer zu behüten.
Reisiger und Winkel sehen dem Wagen nach. »Nehmen Sie es mir nicht übel – der Hauptmann ist ein Schwein –« sagt Winkel.
»Aber lieber Doktor, wenn ich Hauptmann wäre – ich weiß nicht, ob ichs nicht ebenso machen würde. – Seien Sie mal ehrlich: Finden Sie noch irgendeinen Sinn in diesem grenzenlosen Quatsch?«
Winkel zuckt mit den Schultern: »Nun zum mindesten den Sinn: Den Feind aufzuhalten. Dafür zu sorgen, daß er nicht weiterkommt.«
Reisiger, müde: »Na ja, Sie waren heute früh nicht vorn. Ich weiß, was geschehen ist. Aus ist es! Ich kann mir denken, daß die hohe Oberste Heeresleitung das ganze Schlamassel einen Sieg nennt. Aber ich fürchte, das ist einer von den Siegen, die uns das Genick brechen. Glauben Sie mir, lieber Doktor, wir werden uns noch totsiegen.«
Winkel kaut an seinen Fingernägeln. »Gut, totsiegen. Mir auch recht. Aber dann ist es wichtig, daß der Feind sich auch totsiegt.«
Reisiger, schnell: »Sie predigen vollendeten Unsinn. Richtig, wenn zwei Parteien sich bekämpfen und beide bleiben tot auf dem Platz: dann ist Frieden. – Doktor, ich kann mir nicht helfen, ich glaube nicht mehr an das Produktive dieser Beschäftigung. Ich zweifle immer mehr daran, daß die Aufgabe eines Menschen darin bestehen soll, die Aufgabe, sage ich, zu sterben. Mir wird immer unklarer, ob der Sinn des Lebens wirklich der Tod ist, oder ob wir Menschen die ungeheuerste Versündigung am Leben begehen, wenn wir so sinnlos sterben.«
»Aber Herr Reisiger, wer redet denn vom sinnlosen Sterben. Wir reden doch vom Tod fürs Vaterland.«
Und Reisiger: »Ich rede eben vom Leben fürs Vaterland. Wie gesagt, ich will nichts entscheiden – denn dann hätte ich mich jetzt zum Hauptmann in den Wagen gesetzt – aber ich weiß nicht, wie lange ich noch, ich höchst privat, an das ehrenvolle Sterben auf dem Schlachtfeld glauben kann.«
Winkel ist über dem letzten Satz von Reisiger eingeschlafen. Er hat den Mund etwas geöffnet, das Gesicht ist blaß und abgezehrt und tot.
Auch eine Antwort.
19. Juli 1918
Westlicher Kriegsschauplatz
Heeresgruppe Deutscher Kronprinz:
Zwischen Aisne und Marne ist die Schlacht von neuem entbrannt. Der Franzose hat dort seine lang erwartete Gegenoffensive begonnen. Durch Verwendung stärkster Geschwader von Panzerkraftwagen gelang es ihm zunächst überraschend, an einzelnen Stellen in unsere vorderste Infanterie- und Artillerielinie einzubrechen und unsere Linie zurückzudrücken.
20. Juli
Westlicher Kriegsschauplatz
Heeresgruppe Deutscher Kronprinz:
Zwischen Aisne und Marne nimmt die Schlacht ihren Fortgang . . . Während der Nacht nahmen wir unsere südlich der Marne stehenden Truppen vom Feinde unbemerkt auf das nördliche Flußufer zurück.
21. Juli
. . . Der gestrige Schlachttag reiht sich in seinen Leistungen von Führung und Truppe und in seinem siegreichen Ausgang ebenbürtig den in diesem Kampfgelände früher errungenen, großen Schlachterfolgen an. . . . In der Nacht legten wir vom Feinde ungestört die Verteidigung in das Gelände nördlich und nordöstlich von Chateau – Thierry zurück.
22. Juli
. . . Auch der gestrige Kampftag führte wiederum zu einem vollen Erfolg der deutschen Waffen.
29. Juli
Unser vorderes Kampfgelände planmäßig geräumt, . . . Unsere Vorfeldbesatzung wich befehlsgemäß auf ihre Linien zurück.
An das deutsche Volk:
Das fünfte Kriegsjahr, das heute heraufsteigt, wird dem deutschen Volke auch weitere Entbehrungen und Prüfungen nicht ersparen. Aber was auch kommen mag, wir wissen, daß das Härteste hinter uns liegt . . . Heilige Pflicht gebietet, alles zu tun, daß dieses kostbare Blut nicht unnütz fließt. – Gott mit Uns!
31. Juli 1918
Wilhelm I. R.
An das deutsche Heer und die deutsche Marine:
. . . Im Westen wurde der Feind von der Wucht Eures Angriffs empfindlich getroffen. Die gewonnenen Feldschlachten der letzten Monate zählen zu den höchsten Ruhmestaten deutscher Geschichte . . . . Uns schrecken nicht amerikanische Heere, nicht zahlenmäßige Übermacht, es ist der Geist, der die Entscheidung bringt.
31. Juli 1918
Wilhelm I.R.
. . . . unsere Linie zurückzudrücken . . . nahmen wir unsere Truppen zurück . . . legten wir die Verteidigung zurück . . . Zurück, zurück, zurück: voller Erfolg der deutschen Waffen! Es ist der Geist, der die Entscheidung bringt! . . . .
Nein, nein, man überlegt nicht groß, wenn man des nachts selber am Fernsprecher sitzt und hört, wie der Heeresbericht über den Draht geht. Nein, nein, man überlegt nicht groß, wenn Erlasse kommen, Aufrufe.
Aber irgendetwas setzt sich fest in jeder Nacht, irgendetwas bröckelt ab. Aus jedem Bericht, aus jedem Aufruf.
Nein, nein, man überlegt nicht. Dazu ist keine Zeit.
Das wäre zu weit gedacht, und hier an der Front denkt man nur das Nahe, das Tägliche, die Entscheidung und die Fürsorge für die Minute. Jeder Tag zerlegt sich in das Mosaik der vierundzwanzig Stunden zu je sechzig Minuten: Jede Minute ist das Schlachtfeld. Erfordert das Handeln.
So wenigstens spürt es Reisiger.
Hauptmann Brett ist weg. Der Stellvertreter ist ein Hauptmann der Landwehr. Mit weißem Haar, zerknittertem Gesicht, zittrigen Händen. Er kann einem nur leid tun: So alt ist er und so unsicher. Wirklich, kümmerliches Bruchstück der Heimat. Unbegreiflich, daß es jemanden gab, der diesem alten Mann die Uniform angezogen hat.
Und nun ist es schwer: Der Adjutant Leutnant Reisiger führt über den Kopf des Führers hinweg die Abteilung. Der Hauptmann setzt unter jede Meldung seinen Namen, nickt zu jedem Befehl. Dabei sind seine Augen immer gleichmäßig hilflos. Er ist dankbar, wenn er wenig zu schreiben und wenig zu nicken hat.
Mit ihm an der Spitze wird die Abteilung nun hin und her geschleudert. Stellungswechsel, ein, zweimal täglich. »Herr Hauptmann, die 7. Batterie meldet heute früh acht Tote.« – »Ja, da muß sich der Reisiger um Ersatz kümmern.« – »Herr Hauptmann, die 9. Batterie kriegt keine Munition heran.« – »Ja, da muß man sich eben mit unserem Ordonnanzoffizier in Verbindung setzen.«
Nachts aus dem Schlaf gerissen: »Herr Hauptmann, eben kommt ein Unteroffizier – die 8. Batterie ist vor einer Stunde von Amerikanern überrannt. Was nicht gefallen ist, ist gefangengenommen.«
»Ja, Herr Leutnant Reisiger, melden Sie das dem Regiment. Sofort. Wir müssen eben schnellstens eine neue Batterie anfordern.«
Reisiger bekommt nach stundenlangen Schwierigkeiten Verbindung mit dem Regimentsstab. Der Regimentsadjutant knurrt ihn an: »Ich kann mir auch keine Geschütze aus den Rippen schneiden. Außerdem kriegen wir seit Tagen kein Menschenmaterial mehr heran. Die Dritte Abteilung wird gefälligst mit den beiden anderen Batterien in Stellung bleiben.«
Aber es genügen achtundvierzig Stunden. Dann stellt sich heraus, daß es den beiden andern Abteilungen nicht besser gegangen ist. Am selben Tag verliert die Erste Abteilung zwei und die Zweite eine Batterie.
Und das Regiment, in der Kopfzahl um etwa 50 Prozent reduziert, wird herausgezogen.
Chef des Generalstabes des Feldheeres.
Ia Nr. 9845 geh. ob.
geheim! Durch Offizier geschrieben!
G. H. QU., 16. August 1918.
An den Kgl. General der Artillerie, Staats- und Kriegsminister Herrn von Stein, Exzellenz . . .
Durch Erlaß des Kriegsministeriums Nr. 1101 /7. 18 wird bekannt gegeben, daß für eine Reihe von Vergehen an Stelle der bisherigen Mindeststrafen von 14 Tagen strengen Arrest eine solche von 14 Tagen mittleren Arrests tritt. Außerdem soll die Wirkung des Gesetzes auch auf die vor seinem Inkrafttreten nicht verbüßten Strafen ausgedehnt werden. Ob dieses Gesetz bereits herausgegeben ist, ist mir nicht bekannt. – Ich kann aber nach Anhören mehrerer Armeeführer nur Verwahrung gegen Inkrafttreten dieses Gesetzes wie gegen jede Milderung im Strafgebrauch einlegen, denn beides entspricht nicht mehr den wahren Interessen des Feldheeres. Aus der Armee kommt immer lauter der Ruf nach Wiedereinführung der Strafe des Anbindens bei Feigheits- oder sonstigen schweren Vergehen, die leider jetzt recht häufig an der Tagesordnung sind. – Dieser Wunsch ist um so berechtigter, da trotz aller Hinweise, trotz des vom Kriegsministerium unter 22. Juli 1918 Nr. 7385/18 C 4 herausgegebenen Erlasses unsere Gerichte nach wie vor zu einer solchen milden Handhabung des Gesetzes geneigt sind, die dem vielfach tatsächlich vorhandenen Grad von Disziplinlosigkeit nicht entspricht. Der Schaden, der durch eine solche nicht zu verstehende Rechtspflege entsteht, ist nicht wieder gutzumachen.
gez. v. Hindenburg
Es ist schwer, ein Regiment in eine Ruhestellung zu bringen. Denn wo gibt es Ruhe? Früher, ja, als die Front fest war, als die Artillerie des Feindes eingebaut stand, als man ihre Schußentfernungen erfahren oder errechnen konnte, lag Kilometer hinter den Linien das friedliche Gelände.
Was ist heute Ruhe?
Noch steht eine Formation in einem Wald, der den Frieden hat. Noch kommen Munitionswagen oder Verwundete oder Melder zurück: Oh, der Feind ist weit, die Schüsse seiner Artillerie liegen eine gute halbe Stunde vor dem Wald.
Und man kann nach der Uhr sehen, und man erlebt es immer wieder: Jetzt liegen die Schüsse nur noch eine Viertelstunde davor. Und es dauert nicht lange, da ist der Ruheplatz bereits der Kampfplatz. Zwischen ruhende Batterien brechen rückwärtsgehende Kolonnen ein. Was heißt Ruhe?
Und früher, gewiß, zuweilen kam ein Flieger. Natürlich, eine Bombe von ihm oder zwei oder drei konnten töten und verwirren. Aber man ging in Deckung, so gut es möglich war. Wußte: Was kann schon ein Flieger! Wirft die Bomben ab, zwei oder drei, trifft oder trifft nicht. Dann muß er umkehren und nach Hause fliegen. Und es wird wieder Ruhe.
Aber jetzt und heute? Aus einem Flieger sind Kolonnen von zwanzig geworden. Dicht massiert, Flügel fast neben Flügel. Aus zwei bis drei Bomben sind sechzig bis hundert geworden. Und wenn sie abgeworfen sind, und wenn der Schwarm umkehrt, stößt der nächste vor, Flügel an Flügel. Das geht Tag und Nacht. Wo ist da Ruhe?
Es glückt selten, auch nur 24 Stunden wirklich zu ruhen.
Der Dritten Abteilung scheint es zu gelingen.
Da ist ein Wald. Eine Lichtung in ihm, groß wie ein Marktplatz. Ein Teich darin, der Wasser gibt. Ein ideales Biwak. Die Batterien werden abgeschirrt. An Leinen zwischen den Bäumen stehen die Pferde und kauen Moos und Baumrinde. Längs dem Waldrand, auf ein paar hundert Meter, sind Zelte errichtet für Mannschaften und Offiziere. Aller Fliegersicht gut entzogen, aber mit dem Ausblick auf die Lichtung, auf Sonne. Mit dem Zugang zum See. Also mit der Möglichkeit, vorsichtig zu kochen.
Abseits der Batterien wieder zwei Zelte: Dort liegt der Stab, der Hauptmann mit Reisiger, Schlumpe und Winkel.
Immer der Donner, immer der Donner. Wie gut gewöhnt man sich daran. Er ist fern, tönt wie ein Gewitter.
Die Abteilung hat vor Stunden je einen Wagen der Batterien weiter nach hinten geschickt. Dort, hat man erfahren, ist ein Proviantamt. Also schnell Verpflegung empfangen, soviel nur möglich ist. Die letzten Tage, letzten Wochen bestanden nur aus schmierigem Kartoffelbrot und einer knirschenden Konservenwurst. Vielleicht bekommt man einmal Fleisch? Oder etwas Käse? Oder Fisch?
Aber die Mannschaften warten ungern, bis die Wagen zurück sind. Wozu fallen Pferde? Wo die Batterien an einem toten Tier vorüberkamen – und viele Wege waren eingesäumt davon – sprangen die Kanoniere während des Marsches von den Geschützen, schnitten Pferdefleisch in großen Fetzen ab.
Das bratet jetzt auf kleinen, geheimnisvoll verdeckten Kochlöchern. Wird gefressen, halb roh. Gut so.
Die beiden Wagen kommen zurück: Es gibt nichts als immer wieder das Kartoffelbrot und Zucker, gelbliches, zerfließendes Zeug. Aber – Gebrüll – pro Batterie ein kleines Fäßchen mit Schnaps. Jawohl, das ist ausdrücklicher Befehl: Es soll Schnaps verteilt werden.
Man stürzt auf die Fässer.
Halt! Bei beiden Batterien geschieht dasselbe: das Halt sagt der Batterieführer. Nein, nein, so geht das natürlich nicht. Abzählen. – In dem Fäßchen sind pro Kopf zwei Trinkbecher voll Schnaps. Das ist zuviel. Es kriegt jeder heute abend einen Trinkbecher voll. Und morgen den zweiten. – Wer übrigens verpflegt den Stab? – Er bekommt extra. Vom Wagen der 8. Batterie.
Ja, er bekommt extra. Der Bursche vom Hauptmann zeigt grinsend durch die Öffnung des Zeltes, in dem die Offiziere schweigsam liegen, ein Kochgeschirr: »Herr Hauptmann, heute gibts Arrak.«
»Ist das alles?«
»Herr Hauptmann, es hat noch Brot gegeben. Und Zucker. Wenn es Herrn Hauptmann recht ist, backe ich für die Herren Arme Ritter. Ich habe noch etwas Margarine. – Und wenn die Herren wollen, hinterher Grog. Es wird ja doch schon etwas kalt. – Wie Herr Hauptmann meinen.«
Wird gemacht.
Reisiger füllt aus dem heißen Kochgeschirr die Trinkbecher: »Darf ich mir gestatten, Herr Hauptmann –«
Dann halblaut, mehr zu sich: »Ach ja, schön ist anders.«
Da kommt Leutnant Berger von der 8. Batterie angelaufen. Hand an die Mütze. »Gestatten Herr Hauptmann, daß ich Leutnant Reisiger eben mal spreche.« Reisiger steht auf, nimmt Berger etwas zur Seite: »Wo brennts denn?«
Berger, noch außer Atem: »Reisiger, die Achte meutert.«
Meutert? – »Meutert– nun, nun, lieber Berger, Vorsicht. Mir scheint, dieses Wort sollte man doch recht mit Vorsicht gebrauchen.«
»Kommen Sie rasch mit, Herr Reisiger.«
Sie gehen weg, ohne dem Hauptmann etwas zu sagen.
Je näher die beiden dem Biwakplatz der 8. Batterie sind, desto lauter wird der Lärm vieler Stimmen und ein Gesang, den man schon am Zelt des Stabes leise gehört hatte.
Schließlich sieht man den Biwakplatz, und sieht zwischen den Zelten aufgeregt Soldaten hin- und hertorkeln. Berger dreht sich zu Reisiger und zeigt mit der Hand: »Da sind die Schweine.«
Ja, das sieht allerdings bös aus. »Sind Sie denn der einzige Offizier, Berger?«
Berger, halb wichtig, halb verzweifelt: »Selbstverständlich. Oberleutnant Ziegel ist heute morgen noch abgeschossen. Ich bin Batterieführer und Beobachtungsoffizier und was weiß ich alles. – Aber das ist doch kein Grund. – Die Leute wollen eben einfach nicht mehr.«
Man ist am Biwakplatz.
Im Wald liegt Infanterie in Bereitschaft. Die Infanteristen sind durch den Gesang aufgescheucht. Der Platz ist wie ein Zirkus von ihnen eingesäumt. Sie stehen ohne Gewehr und Koppel, die Hände in den Hosentaschen, glotzen.
Reisiger und Berger schieben einige der Leute beiseite, treten in die Arena. Reisiger vor Berger, mit überlauter Stimme: »Was ist denn los hier, seid ihr verrückt geworden.«
Das macht keinen Eindruck.
Auf der Deichsel einer Protze sitzen wie Vögel auf einer Stange der Wachtmeister, neben ihm ein Vizewachtmeister, neben dem drei Unteroffiziere. Sie wippen und singen, gröhlen –; man kann nicht recht entscheiden, welches Lied sie mit diesem Gesang meinen. Sie haben verglaste Augen. Der Stahlhelm hängt ihnen im Genick. Ein Unteroffizier hat ihn verloren und sträubt seine rothaarigen Borsten.
Zu Füßen der wippenden Gruppe sitzen und liegen Kanoniere. Singen mit. Nehmen von Reisiger und Berger nicht mehr Notiz, als daß sie mit schrägem Gesicht nach oben blinzeln und den Mund etwas verziehen. Alles.
Gespannt auf den Ausgang der Szene sind nur die Infanteristen. Gerade gegenüber von Reisiger steht ein Offizierstellvertreter. Wie Reisiger ihn ansieht, nimmt er stramme Haltung an, klappt mit den Hacken.
Reisiger dreht sich halblinks zu Berger: »Die ganze Bande ist besoffen.«
Gewiß ist die ganze Bande besoffen. Aber was entschuldigt das? Außerdem: Warum ist sie besoffen? Berger fühlt so etwas wie eine Anklage, sagt zu Reisiger: »Ja, die Schuld hat der Wachtmeister. Der hat sich das Schnapsfaß einfach aus den Händen nehmen lassen, und dann hat die ganze Bande eine Balgerei angefangen. Und das Faß ist leer. Da ist die Bescherung. Und er hat mitgesoffen. – Ich will noch mal mit ihm reden.«
Er geht auf den Wachtmeister zu. Je näher er kommt, desto stärker wird das Gegröhle, desto mehr wippt die Deichsel. Die Ketten klirren.
»Wachtmeister!« – Keine Antwort. – Berger tritt bis auf zwei Schritt an den Wachtmeister heran, brüllt so, daß sein ganzer Körper zittert: »Wachtmeister, ich rede mit Ihnen. Stehen Sie gefälligst auf.«
Von den liegenden Kanonieren erheben sich einige, verstummen, sehen neugierig, was jetzt geschehen wird.
Der Gesang wird ganz laut, die Töne werden doppelt lang gezogen. Der Wachtmeister reagiert nicht. Er legt nur einen Arm um den Hals seines Nachbarn. Die andern haken sich unter. Also eine Mauer. Wie kann man sie durchbrechen?
Reisiger will mit einem Satz neben Berger springen, um auf irgendeine Weise der Situation ein Ende zu machen. Da packt Berger den Wachtmeister am Kragen, reißt ihn gegen sich.
Aha, der Gesang verstummt. Verstummt mit einem Ruck. Der Wachtmeister steht. Er ist einen guten Kopf größer als Berger. Es sieht hilflos aus, wie der junge Offizier diesen wesentlich älteren Mann mit gestrecktem Arm am Hals hat.
Der Wachtmeister macht eine kleine abwehrende Bewegung nach rückwärts. Der Stahlhelm fällt vom Kopf, schlägt auf die Wagendeichsel, auf die Erde.
Der Wachtmeister nimmt langsam seine beiden Arme, kreuzt sie über der Brust, drückt sie nach oben, drückt sich damit aus Bergers Griff.
Immer noch Totenstille.
Reisiger wird von einer tierischen Wut überfallen. Er steht jetzt neben Berger, brüllt »Wachtmeister! – Ich sage Ihnen –«
Der rothaarige Unteroffizier an der Deichsel versucht wieder zu wippen, lallt ein paar Töne.
Da fühlt Reisiger, daß er sich nicht mehr beherrschen kann. Er schreit: »Wer noch einen Ton sagt, dem knalle ich vor den Schädel.«
Irgend jemand aus dem Hintergrund sagt verschwommen »Na, na, na!« Aber es bleibt ruhig.
Reisiger sieht den Wachtmeister an. Sieht, daß er sich nur mühsam auf den Beinen hält: »Wachtmeister, ich gebe Ihnen hiermit den dienstlichen Befehl, dafür zu sorgen, daß die Batterie in einer Minute feldmarschmäßig angetreten ist.«
Im Hintergrund lacht jemand.
Berger sieht zur Seite: »In zwei Gliedern antreten, marsch, marsch!«
Da wird lauter gelacht.
Der Wachtmeister streckt den Arm aus: »Mit Ihnen, Herr Leutnant – also – Befehle von Ihnen – wenn Sie was sagen, hört die Batterie überhaupt nicht.«
Reisiger, vor Wut bebend: »Wachtmeister, jetzt ist Schluß! Wollen Sie mir gefälligst sagen, was diese Sauerei hier bedeutet. Sie sind doch ein alter Unteroffizier, seit 15 Jahren Soldat.«
Da tritt der Rothaarige neben den Wachtmeister: »Wenn Herr Leutnant es wissen wollen – wir machen nicht mehr mit. Wir wollen nach Hause.« Und der Wachtmeister, im selben Ton fort: »Außerdem ist unser Oberleutnant tot und mit Leutnant Berger können wir nicht.«
Von den Mannschaften, die an der Erde hocken, einige Male: »Bravo.«
»Ja und was sind das für neue Methoden? Ist Euch klar, daß Ihr alle an die Wand gestellt werdet?«
Niemand antwortet. Es ist ganz still.
Der Kreis der Infanteristen schiebt sich dichter. Reisiger sieht, daß er bereits in drei Gliedern steht. Neugierige Gesichter.
Er wendet sich wieder zum Wachtmeister: »Wachtmeister, ist Ihnen klar, was jetzt geschehen wird?«
Da macht der Wachtmeister plötzlich ein hilfloses Gesicht. Fährt mit der Hand über das Haar. Schlägt die Hand zu Boden: »Dann lassen wir uns eben totschießen. – Es ist ja ganz gleichgültig.«
Er dreht sich ab, setzt sich auf die Fußleiste der Protze, steckt die Hände in die Hosentaschen.
Die Unteroffiziere gruppieren sich schweigsam um ihn.
Reisiger wendet sich zu Berger: »Herr Leutnant Berger, lassen Sie bitte die Waffen der Batterie einsammeln.«
Berger: »Alles herhören! Alle Karabiner und Pistolen werden hier am ersten Geschütz sofort zusammengetragen!«
Der Rothaarige lacht. Einer von den Hockenden sagt laut: »Die Waffen könnt ihr gern haben, aber ihr müßt sie euch holen.«
Diesen mauligen Satz hat ein Infanterieoffizier gehört. Er drängt sich durch die Mannschaften hindurch, geht zu Reisiger: »Herr Kamerad, verzeihen Sie, daß ich mich einmische. Ich halte es für notwendig, hier ein Exempel zu statuieren. Wenn ich Ihnen behilflich sein kann –.« Und ehe er eine Antwort bekommt, gibt er ein Kommando: »Zweiter Zug Regiment 58 in zwei Gliedern antreten.« Sein Kommando zersprengt den Kreis der Zuschauer.
Die Infanteristen springen nach rückwärts in den Wald. Sekunden später treten etwa dreißig Mann in zwei Gliedern an, feldmarschmäßig, Gewehr bei Fuß.
Der Infanterieoffizier sagt stolz: »Bitte, Herr Kamerad, verfügen Sie über uns.«
Verfügen? Ja, wie soll denn Reisiger verfügen? Wenn der Hauptmann Brett doch da wäre! »Es geht mir kein Mensch von der 8. Batterie hier vom Platz weg. – Ihr solltet euch schämen vor euren Kameraden. – Aber ihr habt es ja auszubaden.«
Reisiger wendet sich zu Berger und dem Infanterieoffizier: »Ich werde den Hauptmann benachrichtigen. Wenn die Herren sich bis dahin gedulden wollen.«
. . . und es kann vorkommen, daß ihr eure eignen Verwandten und Brüder niederschießen oder -stechen müßt. Dann besiegelt die Treue mit Aufopferung eures Herzblutes . . . (oder) . . . bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, daß Ich euch befehle, eure eigenen Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschießen – was ja Gott verhüten möge – aber auch dann müßt ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen . . . (oder) . . . und müßte Ich euch einst vielleicht – Gott wolle es verhüten – dazu berufen, auf eure eigenen Verwandten, ja Geschwister und Eltern zu schießen, so denkt an euern Eid! (Wilhelm II., 23. 11. 1891)
Eine Stunde nach dem Vorfall in der 8. Batterie erscheinen auf Befehl des Regiments einige Lastautos, auf denen die Unteroffiziere und Mannschaften abtransportiert werden. Niemand leistet Widerstand.
Am nächsten Morgen verfügt das Regiment: die gesamte III. Abteilung ist mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Der stellvertretende Abteilungsführer und Leutnant Berger werden als garnisondienstfähig in die Heimat versetzt. Offiziere und Mannschaften werden auf die Batterien der I. und II. Abteilung verteilt. Leutnant Schmidt 9/253 und Leutnant Reisiger III/253 übernehmen je eins der Geschütze 9/253 für ein Tankabwehrkommando, das der Infanterie nach besonderem Befehl detachiert wird.
Reisiger meldet sich beim Regimentskommandeur ab.
»Herr Leutnant, Sie haben sich skandalös benommen. Man hätte die Saubande unbedingt mit der Waffe zum Gehorsam zwingen müssen. Wissen Sie, daß Sie vors Kriegsgericht gehören? – Aber ich gebe Ihnen noch eine Chance. Wenn ich Sie jetzt zur Tankabwehr stecke, dann beweisen Sie gefälligst, daß Sie Offizier sind . . .«
9. August
Westlicher Kriegsschauplatz
. . . drang er mit seinen Panzerwagen in unsere Infanterie-Linien ein . . .
11. August
. . . Masseneinsatz von Panzerwagen . . . vor einem Divisionsabschnitt liegen allein mehr als 40 zerstörte Panzerwagen . . .
12. August
. . . Artillerie, die den Panzerwagen dicht auffolgte . . .