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In der Nacht zum 20. Januar 1915 bekam der Kriegsfreiwillige Adolf Reisiger den Befehl, sich am nächsten Morgen 5 Uhr 30 in der Feuerstellung der 1. Batterie F.A.R. 96 zu melden.
Sachen packen. Schnürstiefel in den Tornister, Kochgeschirr gereinigt, Trinkbecher abgewaschen, die Decke gerollt. Reisiger machte sich auf den Weg. Die anderen schliefen. Adieu zu sagen, verbot der soldatische Anstand. Wegweiser gab es nicht. Auch der Posten am Dorfende hatte keine Ahnung von der Feuerstellung 1/96. Er gab den Rat, immer dorthin zu gehen, wo die Leuchtkugeln aufstiegen, und wo zuweilen einem rötlichen Blitz ein dumpfer Schlag folgte.
Reisiger war voller Aufregung. Vor ihm, das wußte er, liegen Kameraden. Aber neben ihm dehnt sich die schwarze Ungewißheit. Was ist »die Front«? Und was ist »der Feind«, der irgendwo lauert, nahe oder fern, und dessen Fangarme man nicht abschätzen kann?
Die breite Chaussee, an der rechts und links Pappeln stehen, war einstweilen eine zuverlässige Richtschnur.
Reisiger marschierte.
Einmal gab es einen Schreck. Hinter ihm fauchte es, brach ein Lärm aus, näherte sich mit unsinniger Geschwindigkeit. Reisiger sah sich um, erblickte nichts. Hörte lauter, sprang links hinter einen Baum. Dann: ein Motorradfahrer, unbeleuchtet, jagte an ihm vorüber. Und wieder Ruhe.
Aus einer Stunde Marsch waren zwei geworden.
Die Uhr zeigte 5,10. Längst hatten es die weißen Leuchtkugeln aufgegeben, dem schwarzen Himmel Konkurrenz zu machen. Auch die dumpfen Schläge hatten aufgehört. Es war eine absolute Stille. Nichts regte sich. Das Gefühl »mir geht es gut« nahm Besitz von Reisiger. Er ging schneller. Am liebsten hätte er gesungen. Aber ein Absatz aus den Dienstvorschriften stieg vor ihm auf, der besagte, daß man am Feind nicht singen, nicht sprechen, nicht einmal rauchen darf.
Da gab es einen kurzen, harten Knall neben seinem Ohr. Ein singender Ton zog an ihm vorüber, beinahe: als zwitschere ein Vogel. Der Ton endete mit einem harten Schlag drüben an einem Baum.
Das war ein Gewehrschuß! Der zerschlug kurz und bündig alle Gedanken an Wohlbefinden, an Rauchgelüste.
Reisiger steckte die Hände in die Taschen und ging noch schneller.
Schließlich sah er links, dicht an der Chaussee, matten, gelblichen Lichtschein. Nach wenigen Minuten ein halblautes »Halt, wer da?« Die Batterie 1/96 war erreicht.
Hauptmann Mosel langweilte sich entsetzlich. Langeweile war seine Hauptbeschäftigung seit vier Monaten. Der verfluchte Stellungskrieg! Wo ist eine Betätigung, wie sie anständigen aktiven Offizieren zukommt? Wenn man noch an September 1914 denkt! – Da war man, zu Pferd selbstverständlich, täglich mit Hurra offen aufgefahren, hatte abprotzen lassen, hatte im direkten Richten zwanzig, dreißig Schuß aus der Flinte gejagt. Ach, wie die Engländer aus den Getreidehocken gesprungen waren, mit langen Beinen, die so gut zu dieser Rasse passen! Und man hatte, selbstverständlich, Brei aus ihnen gemacht. Dann aufgeprotzt, Anhöhe herunter, im Galopp hinterher bis zur nächsten, und dasselbe Theater drei-, viermal am Tag. Und jetzt, hier, saß man fest. Auch hohe Lackstiefel und die graue Litewka mit den schwarzen Aufschlägen konnten nicht trösten.
Seit Wochen fiel kein Schuß vom Feind, und, was viel schlimmer war, seit Wochen durfte man selber nicht schießen. Man lag sich auf drei Kilometer gegenüber, als ob man miteinander befreundet und beiderseits laut freundlicher Vereinbarung in einen gesegneten Winterschlaf verfallen wäre. Sinnlos!
Jetzt gab es kommissige Befehle, in der Feuerstellung Fußdienst abhalten zu lassen und Geschützexerzieren zu betreiben. »Krieg in Unterhosen« nannte Mosel diesen Sport.
Erträglicher wurde es nachts. Die Batterie baute im Schützengraben eine Beobachtungsstelle. Von 11 bis 4 Uhr früh wurde geschanzt. Fast alle Mannschaften waren auf den Beinen. Gut, das war Bewegung, hatte einen Hauch von Feldleben.
Mosel kroch von 11 bis 4 Uhr jede Nacht zwischen seinen Leuten umher, tauchte bei den Schanzkolonnen auf, schnaubte zwischen die Zähne hindurch Befehle, verschwand, zeigte sich bei der Infanterie in der ersten Linie, war dauernd hier und dort.
Er glich einem Jagdhund, die Nase auf Spuren, wo ist die Beute, das Opfer, such, such!
1/F.A.R. 96 besteht aus sechs Geschützen. Sie haben den Feldzug seit Beginn des Krieges mitgemacht und sind noch alle unversehrt. An den Schutzschilden sieht man wie Pockennarben den Anprall von Schrapnellkugeln, aber das Stahlblech war zuverlässig und – bei Le Cateau hat es sich bestätigt – die Munition des Feindes soll nach allgemeinem Urteil nichts taugen.
Die Geschütze stehen, rechts neben sich je einen Munitionswagen, mit etwa zwanzig Schritten Abstand, das eine neben dem andern, fast in einer Reihe. Sie sind nicht eingegraben, sondern auf blanker Erde. Hauptmann Mosel hält es nicht für nötig, Schanzarbeiten machen zu lassen. Das Gefühl von Deckung verführt zur Feigheit. Und außerdem sind Erdarbeiten vom feindlichen Flieger seiner Auffassung nach sehr leicht festzustellen. So geschieht also nur, daß man etwas Sand gegen die unteren Schilde wirft und daß man als Deckung große Zeltbahnen über jedes Geschütz und jeden Munitionswagen breitet. Und nun, siehst du es von weitem, könntest du glauben, graubraune Gebirge einer Mondlandschaft vor dir zu haben.
Auch als eines Tages der Regimentskommandeur die Stellung besichtigt und Zweifel äußert, ob nicht am Ende Flieger doch die Batterie, die ja in einem großen Rübenfeld steht, als braunen und deshalb auffälligen Streifen erkennen könne, wird nicht mehr geändert, als daß man Rüben köpft und Köpfe mit Stiel und Blättern sorgsam auf die Zeltbahnen verpflanzt.
Rechts außerhalb der Batterie wohnt die Mannschaft. Da ist Loch neben Loch. Die Wände aus dickem Lehm. Das Dach aus Rübenköpfen auf Teerpappe. Ohne Fenster, ohne Tür. Die Eingangsöffnung verschließt eine Zeltbahn. Das genügt, um die Wärme der kleinen Kanonenöfen reichlich zu halten. Stühle und Tische gibt es nicht, und die Erde, nur in weniger besser möblierten Räumen mit Holzrosten bedeckt, bildet das nicht sehr breite Bett. Drei Mann schlafen in jedem Loch. Am äußersten Ende siehst du den Unterstand des Batterieführers. Mosel haßt jeglichen Komfort. Schon ein Ofen war ihm so lange zuwider, bis seine Füße streiken wollten. Jetzt brennt das Feuer und macht es ihm möglich, auf einer Margarinekiste Briefe zu schreiben. Und seit drei Monaten von Sonntag zu Sonntag die Meldung an die Abteilung: daß der Zustand der Mannschaft unverändert gut, der Munitionsbestand unverändert der gleiche, und im übrigen an der Front keinerlei Neuigkeiten festzustellen seien.
Reisiger war dem dritten Geschütz der Batterie zugeteilt worden. Mit ihm im gleichen Loch wohnten der Kriegsfreiwillige Herrmann, und Reservist Süßkind.
An diesem Sonntag schlief man bis 1 Uhr mittags. Dann knurrte der Magen. Reisiger, der Jüngste, mußte kochen. In einer Konservenbüchse in der Ecke des Unterstandes quollen Erde, Reis und Nudeln. Das tat er in Wasser und setzte es auf den Ofen. Als es gar war, verteilte man es gerecht in drei Teile und aß es mit Marmelade. Das Rezept war neu, Reisigers Erfindung. Da es selbst dem »Alten Mann« Fritz Süßkind gut gefiel, war schnell Freundschaft geschlossen. Reisiger bot nach Tisch Zigaretten an. Es ergab sich ein Gespräch.
Süßkind: »Bist du schon lange draußen?«
Reisiger: »Ich war bei der Kolonne, bin jetzt zum erstenmal in Feuerstellung.«
Herrmann: »Gefällt es Ihnen bei uns?«
Süßkind: »Zu dem kannst du ruhig du sagen, der ist auch nicht weniger als wir.«
Reisiger (verlegen): »Gut. Nur – ich habe mir den Krieg ganz anders vorgestellt.«
Süßkind: »Ja Scheiße! Mensch, das ist alles Dreck, was du dir auch vorstellst. Und ich sage dir, wenn wir hier nicht bald durchbrechen, sind wir nächste Weihnachten auch noch nicht zu Hause.«
Reisiger: »Seit Anfang an dabei?«
Süßkind: »Klar, ich bin mit dem Alten ausgerückt. – Das ist ein patenter Junge, der Mosel. Er ist jetzt bloß so krötig, weil nichts los ist.«
Herrmann: »Ich bin seit Weihnachten in der Batterie. Ich habe noch keinen Schuß gesehen. Und wir haben auch noch nicht gefeuert.«
Süßkind: »Na und die Beobachtungsstelle vorn ist doch auch Quatsch. Das machen sie bloß, damit wir Bewegung haben.«
Reisiger: »Sie meinen nicht, daß der Feind hier mal durchbricht? Wenn Frühling wird, soll doch irgend etwas erwartet werden, steht in den Zeitungen.«
Süßkind: »Laß ihn man durchbrechen. Der hat kein Glück mit uns. Mein Lieber, da kennst du Mosel schlecht. Wenn der erst mal gereizt ist, bleibt kein Auge trocken.«
Reisiger: »Ich möchte schon mal dabei sein.«
Süßkind: »Nur nicht drängeln. Besser als hier, sage ich mir immer, kann man es gar nicht haben. Was willst du denn mehr? Wir haben unsere Wohnung und haben jeden Tag unser Essen und haben keine Sorgen. Mein Lieber, du kannst mirs glauben: eine ganze Masse von uns haben zu Hause in Zigarrenkisten schlafen müssen, und hier können sie sich richtig ausstrecken. Und schließlich ist das mit dem Heldentod doch auch so eine Sache. Damals, September 14, wie wir das letzte Gefecht hatten, da haben wir rund vierzig Mann verloren. Und da war ein alter Fahrer dabei, dem sie den Kopf abgerissen haben, und der hat immer gesagt, lieber fünf Minuten feige, hat er gesagt, als das ganze Leben tot.«
Alle lachen. Adolf Reisiger denkt an viele Artikel der Kriegsberichterstatter, in denen immer wieder vom »unverwüstlichen Humor unserer braven Feldgrauen« die Rede ist. Voilà!
Das Gespräch lebt nicht wieder auf. Süßkind hat sich inzwischen auf die Seite gerollt und schläft. Der Kriegsfreiwillige Herrmann nimmt aus seiner Mütze einen Bogen Papier und beginnt einen Brief zu schreiben. Wer von Unterstand zu Unterstand geht, kann feststellen, daß beinahe jeder Mann auf den Knien seine Mütze und auf der Mütze ein Stück Papier hat und mit mehr oder minder geübter Hand Schreibarbeit verrichtet.
Brief des Hauptmanns Mosel an seine Frau:
Liebe Leni! Sonntag Nachmittag, zum Verrecken langweilig. Mir hat man vor 14 Tagen (oder schrieb ich Dir das schon) den Leutnant Keller abkommandiert, und jetzt sitze ich hier in knietiefem Dreck in einer blödsinnig langweiligen Bude und kann mit keinem Menschen ein vernünftiges Wort sprechen. Bin hier der einzige Offizier, werde aber schleunigst den Antrag stellen, daß man mir irgendeinen Leidensgenossen in die Stellung raufschickt. Denn Oberleutnant Busse, der ja zu 1/96 gehört, wechselt mit mir alle drei Tage ab und haust also jetzt unten bei den Protzen. Was mache ich? Ich lasse mir jeden Morgen mit dem Verpflegungswagen eine Flasche Sekt raufschicken und trinke auf Dein Wohl. Im übrigen beneide ich Deinen Bruder Karl. Im Osten ist eben doch anderer Zug, und ich sehe schon kommen, daß die drüben den Laden schmeißen. Und wir stehen da und es ist noch sehr die Frage, ob ich dann planmäßig Major werde. Von E.K. I übrigens keine Spur.
Brief des Vizewachtmeisters Michaelis an seine Braut:
Meine liebe Braut! Habe gestern Dein liebes Feldpostpäckchen mit Zigarren bekommen und sage ich Dir herzlichen Dank dafür. Die Zigarren sind gut. Wir leben hier bon wie Gott in Frankreich. Ich wollte, daß Ihr zu Hause ebenso lebt. Viel zu essen und gar nichts zu arbeiten. Von mir aus könnte der Krieg noch zehn Jahre so weitergehen. Und dann würde ich auch bestimmt Feldwebelleutnant und wir könnten heiraten. Schick bitte keine wollne Leibbinde mehr, da ich noch zwei von Dir habe und wir zu Weihnachten beim Liebesgabentransport noch viele bekommen haben, wovon auch drei auf mich fielen. Dabei ist der Winter nicht sehr kalt.
Aufzeichnung Reisigers:
Feuerstellung vor Arras. Bin sehr glücklich. Nette Kameraden (ja, es gibt wirklich so etwas; alles wie eine große Familie, auch hier an der Front). Der Hauptmann ist komisch: beachtet mich überhaupt nicht, hat mich nicht einmal verhört, als ich mich bei ihm meldete. – Scheint sehr beliebt zu sein. – Jetzt ist Nachmittag. Was werden sie in Deutschland heute machen? – Ich werde noch etwas schlafen.
Meldung von F.A.R. 96 an Division:
Beobachtung 1/96 meldet Schanzarbeiten im feindlichen Graben bei Punkt 308. Sonst im Abschnitt nichts Neues.
Meldung der Division an A.O.K.:
Im Abschnitt der I.D. nichts Neues. Feind versuchte in der letzten Nacht vor der 6. Kompagnie I.R. 186 eine Sappe vorzutreiben. Die Kompagnie eröffnete Schützenfeuer. Der feindliche Versuch muß als vereitelt angesehen werden.
Großes Hauptquartier, 20. Januar 1915:
Bei Notre Dame de Lorette nordwestlich Arras wurde dem Feinde ein 200 Meter langer Schützengraben entrissen, dabei sind 2 Maschinengewehre erbeutet und einige Gefangene gemacht.
Das sonntägliche Gefühl schwand bei Sonnenuntergang. Die Gruppen treten für die Nachtarbeit zusammen. Diesmal sind die Schanzarbeiter verstärkt worden, der Bau des Beobachtungsstandes im Schützengraben muß innerhalb der nächsten 48 Stunden fertig sein! In der Batterie bleiben also nur zwei Mann pro Geschütz, dazu Wachtmeister Conrad und zwei Unteroffiziere.
Die andern setzen sich, stumm, gegen den Bahndamm hin in Bewegung.
Bald schleppt alles Eisenbahnschwellen, Schienen und Stacheldraht.
Reisiger ist voller Spannungen. Er empfindet es nach der Ruhe des Sonntags als ein beglückendes Gefühl, Soldat hier an der Front sein zu dürfen. Und wie er stumm hinter seinem Vordermann hertrabt, wird aus diesem Gefühl Stolz. Wie armselig, denkt er, ist das Leben unten in der Kolonne. Natürlich, auch da müssen Menschen sein, und, natürlich, auch sie tun ihre Pflicht; aber wenn man Soldat ist, gehört man an den Feind!
Er schleppt gemeinsam mit Kerner eine Schwelle. Als sie an der Beobachtungsstelle angekommen sind, lassen sie sie zu Boden gleiten. Sie poltert dumpf, gibt den einzigen Lärm in der Stille.
Die Nacht ist sternklar. Die weiße kalkige Linie des eigenen Grabens läßt sich nach beiden Seiten weithin verfolgen.
Also das ist unser erster Graben? – Reisigers Neugier ist geweckt. Wo ist die Infanterie? – Man sieht nichts. Vielleicht, daß im Mondlicht undeutliche Schatten sich rühren. Das ist alles. – Und wo ist nun der Feind?
Reisiger greift mit den Händen hoch, zieht sich an der Wand nach oben. Steckt schließlich den Kopf vorsichtig über die Böschung.
Wieder eine weiße Linie, schmaler, stellenweise überdunkelt.
»Dir werden sie noch in die Schnauze schießen, wenn du deinen Rüssel nicht wieder einziehst«, sagt Kerner, der auf der Grabensohle stehen bleibt und dumpf gähnt.
»Ich habe doch noch nie einen feindlichen Graben gesehen.«
»Sprich leise, du Affe, oder denkst du denn, die da drüben haben keine Ohren? In der Nacht hört man kilometerweit. Wir haben Heiligabend sogar die Glocken von Arras gehört. – Sei mal ganz still.«
Dabei schiebt sich Kerner neben Reisiger. Beide lauschen. Reisiger hält den Atem an. Er spürt, daß sein Herz gegen den Kalk schlägt.
Seltsam: ja, in der Ferne hört man Geräusche. Ein Hund heult heiser ein paarmal auf. Einmal reißt der Pfiff einer Lokomotive durch die Luft. Außerdem zittert das Klirren und Rattern von Wagen.
Das also ist der Feind!?
Aber keinen Augenblick kommt das Bewußtsein »Feind« in Reisiger auf. Das alles klingt wie friedliches Leben. Hundebellen, Lokomotivenpfiff, Geräusch von Wagen: das alles ist fast eine Vision der Heimat.
Im Sommer, in den Ferien, wenn es warm war und man nicht schlafen konnte vor den seltsamen Erregungen einer Augustnacht, dann gab es in der Heimat diese Geräusche.
Oder auch die wirren Träume der Kindheit umschlossen das alles. Der Hund beim Nachbar war durch fremde Schritte gestört. Der Zug schickte sich zur Reise in unbekanntes Land an. Und dann fuhren schüttelnd Wagen durch die Nacht; die alte Droschke, in der der Arzt oft noch zu Kranken gerufen wurde, ein Kremser mit müden Menschen, die vom Sommerfest kamen, Heuwagen, die den Sonnenuntergang verpaßt hatten und sich nach der Scheune sehnten.
Reisiger brennt seine Augen in die Ferne.
»Du, Reisiger« –
»Laß mich doch hier.«
Kerner stößt ihm in die Seite: »Du bist ja verrückt, Mensch, wir müssen doch zurück und neue Bohlen schleppen; wenn uns der Alte hier schnappt, haucht er uns gehörig an. Komm.«
Er springt nach unten und reißt Reisiger am Rock nach. »Nun mach schon, daß wir weiter kommen. Du weißt ja, fünfmal muß jede Kolonne traben. Wenn wir uns nicht beeilen, sind wir morgen früh noch hier.«
Also traben sie.
Als sie das viertemal ihre Last an der Beobachtung abgeworfen haben, keucht Reisiger: »Es ist doch eine verflucht schwere Arbeit.« Er hat das Gefühl, als seien beide Schultern durchgedrückt und wund. Er lehnt sich erschöpft gegen die Grabenwand und kaut an einem Grashalm.
Kerner wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Du kannst wohl nicht mehr? Ja, Junge, gelernt ist gelernt –«
Er dreht sich ab. »Na, komm schon. Oder willst du noch ein bißchen hier liegen bleiben. – Also ich gehe, du kannst ja langsam nachtippeln.«
Reisiger ist nun ganz allein.
»Pfui Deibel, diese Schufterei! – Und Durst! – Wo wohl die Infanterie ist? Da müßte doch irgend was zu trinken sein.«
Reisiger überlegt nicht lange. Was kann mir schon passieren. Schließlich bin ich ein junger Soldat – und kann mich mal verlaufen haben.
Er macht ein paar Schritte nach rechts, hinein in die Windung des Grabens.
Dann bleibt er stehen. Erschrocken. Vor ihm, da, ein Mensch. Der rührt sich nicht, dreht nicht einmal den Kopf nach ihm, als er sich leise räuspert.
Aha, ein Infanterist!
Reisiger sagt schüchtern »Guten Abend«. Der Infanterist nimmt seinen Kopf ein wenig zur Seite. »Bist wohl von der Artillerie?«
Dann kommen sie ins Gespräch.
Soso, Artillerist, Kriegsfreiwilliger, das erstemal hier vorn im Graben? – Das war ein gefundenes Fressen für den alten Krieger. Er beginnt zu erzählen. Aufzuschneiden.
Ja, der Krieg hier vorn! Eine dolle Sache! »Ihr Artilleristen habt ja gar keine Ahnung, wie es uns geht. Steh du mal Tag und Nacht vor den Franzosen – mein Lieber, da kannst du was erleben!«
Reisiger begreift sehr wenig. Wie er den Mann ansieht, dick in einen Mantel gehüllt, das Gewehr neben sich an die Wand gestellt, kann er nicht verstehen, daß hier vorn der Krieg so heftig sein soll. Der erste feindliche Graben liegt nur 200 Meter von hier entfernt? – Merkwürdig. Das ist ja wirklich keine Entfernung.
Aber Gefahr?
Er hat das Gefühl völliger Gefahrlosigkeit. – 200 Meter? – »Natürlich muß man hier mächtig auf dem Kien sein, sonst kommt der Franzmann plötzlich rüber – und schon schnappt er uns«, sagt der Infanterist. »Wir haben ja natürlicherweise auch schwere Verluste«, fügt er hinzu.
Verluste?
Reisiger lauscht hinaus. Kein Schuß. – Verluste, und kein Schuß? – Ach, der Kerl schwindelt. Außerdem spricht er so geringschätzig von der Artillerie. Unangenehm.
Reisiger dreht sich um und verabschiedet sich. »Na so schlimm wirds schon nicht sein.«
Als er zu der Baustelle des Beobachtungsstandes zurückkehrt, ist kein Mensch mehr da. Er sieht das aufgehäufte Material, die andern scheinen also ohne ihn abgerückt zu sein. Ihn packt die Unruhe: das gibt Krach. Oder ich muß versuchen, die Kameraden noch vor der Feuerstellung einzuholen. – Soll ich querfeldein laufen? Dann schaffe ich es bestimmt.
Einen Augenblick zögert er. Aber schnell verschiebt er die Besorgnis, die aufkommen will, stemmt sich an der Rückwand des Grabens hoch, steht oben, auf freiem Feld. Er sieht kurz in Richtung auf den Feind; danach wendet er ihm den Rücken zu und geht in Richtung auf die Batterie. Der Weg querfeldein ist wesentlich weniger beschwerlich als durch den Graben. Eine Wiese mit kurzem Gras, festgefrorenem Boden. Man kann schnell ausschreiten.
Ein paarmal liegen da dunkelrandige Löcher, mit weißen Kalkstücken gefüllt.
Reisiger betrachtet sie: aha, also da hats mal eingeschlagen.
Er ist etwa zehn Minuten gegangen, da bleibt er stehen. Ihm wird plötzlich heiß. Vor ihm liegen Menschen! Er wirft sich platt auf die Erde. Er schließt einen Augenblick die Augen, öffnet sie wieder, kontrolliert: ja, da vor ihm liegen Menschen! Er zählt: drei kann er erkennen. Sie liegen in einer Reihe, zwei platt auf dem Bauch, der dritte kniet. Sie haben das Gewehr im Anschlag, die Gewehrläufe ungefähr auf ihn gerichtet.
Ihn packt eine Angst. Feind? Feind kann es doch nicht sein. Andererseits: was sollen Deutsche hier mitten auf freiem Felde? – Er richtet sich etwas hoch und will ihnen zurufen. Aber da wird die Dämmerung von einer Leuchtkugel weggerissen. Und er steckt sein Gesicht ins Gras.
Ist denn nicht irgendwo der Anmarschgraben? Er sieht nichts. Dann bleibt also nichts weiter übrig, als sich den Menschen da vorn bemerkbar zu machen.
»Hallo«, flüstert er. »Kameraden, ich bin einer von uns.« Sie bleiben unbeweglich, halten weiter den Lauf der Gewehre auf ihn gerichtet. Er wiederholt den Satz, diesmal etwas lauter.
Keine Antwort.
Er hält es für das beste, auf dem Bauch bis zu ihnen zu kriechen. Das sind höchstens dreißig Meter.
Ihm ist nicht wohl. Doch was hilft es. Hier liegenbleiben kann er nicht.
Er kriecht also vorwärts. Langsam. Er verzögert jede Bewegung seines Körpers.
Die Soldaten sind nun höchstens noch sechs Schritt von ihm entfernt. »Kamerad«, flüstert er. – Keine Antwort.
Jetzt bekommt Reisiger Angst. Es muß doch irgendeine Verständigung möglich sein! Es gibt zweierlei: entweder jetzt aufspringen und an den Kerls vorbeirennen in Richtung auf die Feuerstellung. Oder mit einem Satz sich neben den ersten hinlegen, damit er wenigstens sein Gewehr nicht rumreißen kann.
Das Zweite ist vernünftiger.
Reisiger drückt sich mit den Händen vom Boden ab und liegt in der nächsten Sekunde neben dem Soldaten. Er schiebt ihm sein Gesicht dicht ans Ohr und sagt: »Kamerad, du kannst doch hier nicht schlafen. Stellt euch vor, wenn jetzt ein Offizier kommt.«
Keine Antwort.
Der Kamerad hält immer noch das Gewehr stur vor sich hin, dreht nicht einmal das Gesicht.
Reisiger stößt ihn an: »Du, red doch, es wird ja gleich hell.«
Keine Antwort.
Da legt Reisiger seine Hand auf die Rechte des Nebenmanns.
Die ist eiskalt.
Reisiger zieht seine Hand zurück und reißt sich mit einem Ruck in die Knie. Ach so. Ach so – der ist tot?
Er sieht vorsichtig zum Zweiten, zum Dritten.
Sie bleiben alle reglos. Sie haben das Gewehr im Anschlag, zwei liegen auf dem Bauch, der dritte kniet.
Die sind tot? Kein Kopf ist heruntergesunken, kein Helm abgefallen, kein Finger vom Gewehrschaft gelöst. Genau so, wie Reisiger es als Kind oft auf Exerzierplätzen gesehen hatte, liegen hier drei gefechtsbereite Infanteristen, das Gesicht gegen den Feind, gut ausgerichtet.
Nur, ach so, daß sie tot sind.
Die ersten Toten, die der Kriegsfreiwillige Adolf Reisiger im Felde zu sehen bekommt.
Er ist völlig ruhig. Alle Angst ist weg. Gar keine Aufregung, gar kein Herzklopfen.
Ja, er bleibt ein paar Minuten neben diesen toten Kameraden auf den Knien, erstaunt darüber, wie sie so bewegungslos gegen den Feind schauen und wie sie wahrscheinlich noch wochenlang so gegen den Feind schauen werden.
Dann steht er auf. Dann geht er ein paar Schritte. Dann schlägt er den Mantelkragen hoch. Und dann läuft er in wildem Galopp, Richtung Feuerstellung.
Ungefähr gleichzeitig mit den Letzten aus dem Schanzkommando trifft er dort ein.
Es wird abgezählt. Niemand fehlt. »Wegtreten!«
Nach wenigen Minuten liegt Reisiger mit den beiden andern Kameraden im Loch und schläft.
In New York wird jetzt in allen Varietés, Musikhallen, auf der Straße und im Salon ein Protestlied gegen den Krieg gesungen, das in deutscher Übersetzung etwa folgendermaßen lautet:
Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen,
Ich zog ihn auf als Stolz und Freude meiner alten Tage,
Wer wagt es, ihm die Waffe in die Hand zu drücken,
Damit er einer and’ren Mutter teures Kind erschießt?
Es ist die höchste Zeit, die Waffen fortzuwerfen,
Es könnte niemals einen Krieg mehr geben,
Wenn alle Mütter in die Welt es schreien würden:
Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen!
(Neue Freie Presse, 23. 2. 1915)
Wie lange wird der Krieg dauern?
Eigener Drahtbericht
Amsterdam, 4. Februar.
»Times« gibt eine Rundfrage des »New York American« über die Dauer des Krieges wieder. Der deutsche Botschafter Graf Bernstorff antwortete: »Sage ich, der Krieg wird lange dauern, so heißt es sofort im ganzen Lande, ich hätte gesagt, Deutschland wünscht den Krieg; sage ich, der Krieg wird kurz sein, dann heißt es, Deutschland will den Frieden. Also sage ich lieber gar nichts, denn es wird ja doch verdreht.« . . . Richard Bartholdt, Mitglied des amerikanischen Kongresses und Gründer der Neutralitätsliga, erklärte: »Ich glaube an Deutschlands Triumph, aber als Amerikaner und Mitglied des Kongresses ist mir die amerikanische Neutralität das wichtigste. Wir behaupten zwar, sie zu handhaben, aber unsere Handlungsweise straft uns Lügen.« – Der französische General Bonnal sagte: »Der Krieg wird wahrscheinlich noch lange dauern, denn der Deutsche ist stolz und ein guter Soldat. Die Verbündeten haben noch viel zu erreichen, aber es wird ihnen gelingen.« (Vossische Zeitung, 5. 2. 1915)
Nächster Tag in der Feuerstellung:
Gegen Mittag kommt der Hauptmann, sehr schlechter Laune, auf den Gedanken, selber Geschützexerzieren abzuhalten. Brüllt kurz nach dem Essen höchstpersönlich das Kommando: Feuerbereitschaft für die ganze Batterie.
Die Dressur beginnt. Reisiger ist als Richtkanonier eingeteilt. Es macht mehr Spaß als in der Garnison. Der Hauptmann hat sehr gute Kommandos, die sechs Geschütze werden mit affenartiger Geschwindigkeit feuerbereit. Alles klappt fabelhaft.
Neben Reisiger steht Unteroffizier Gellhorn, aktiver Geschützführer. Der achtet darauf, daß Reisiger das Richtgerät vorschriftsmäßig bedient. Ist sehr zufrieden.
Die Kommandos des Hauptmanns folgen so schnell aufeinander, daß die ganze Batterie nach wenigen Minuten schwitzt.
Dann gibts eine Feuerpause; man verpustet sich.
Plötzlich: man hört in der Ferne einen Knall. Ziemlich leise, sehr von weither.
Im nächsten Augenblick sieht Reisiger, daß Unruhe in der Batterie entsteht. Einige der Kameraden recken den Hals und stecken die Nase schnüffelnd in die Luft, andere drängen sich zusammen, nahe an ihre Geschütze.
Da legt Gellhorn seinen Arm um Reisigers Hals.
Alles das dauert Sekunden.
Dann bricht ein durchdringendes, gell sausendes Pfeifen aus der Luft. Schrill, und dann: ein brüllender Krach.
Gellhorn legt sich mit seinem Körper auf Reisiger und drückt ihn schwer gegen den Schutzschild; beide fallen fast um. Dazu sagt er durch die Zähne: »Verfluchte Schweine! Der Feind schießt!«
Reisiger spürt seinen Puls am Hals, unter den Kinnbacken! So, der Feind schießt? So, verfluchte Schweine?
Als er merkt, daß Gellhorn sich wieder hochrichtet, nimmt er den Kopf aus den Schultern. Er sieht gerade, daß auch bei den anderen Geschützen die Köpfe wieder in die Höhe gehen.
Er dreht sich um: etwa 200 Meter hinter der Batterie steigt eine Rauchwolke aus der Erde, mit einem eleganten weißen Rumpf und einem widerlichen schwarzgeballten Kopf.
»Die Schweine schießen mit Granaten«, sagt Gellhorn.
Hauptmann Mosels schlechte Laune ist weg. Er hat ein breites Lächeln im Gesicht; er schiebt sich seine seidene Mütze weit ins Genick, steckt beide Hände in die Hosentaschen und tritt nahe an die Batterie heran: »Na Gott sei Dank, daß sich die blöden Affen mal endlich wieder erbarmen!« Dann schnuppert er erwartungsvoll in der Luft.
Reisiger blickt zum Nachbargeschütz. Die Gesichter der Kameraden sind weniger fröhlich.
»Meinen Herr Unteroffizier, daß noch mehr kommt?«
Gellhorn: »Das ist wohl Ihre Feuertaufe?«
Reisiger: »Jawohl, Herr Unteroffizier. Aber ich habe es noch nicht so ganz begriffen.«
Gellhorn: »Darauf brauchen Sie nicht neugierig zu sein. Das lernt sich. – Da kommt schon wieder son Aas.«
Zusammengepfercht die Körper! Das Sausen zerreißt die Luft. Abermals: Krach!
»Der liegt vor uns«, sagt der Hauptmann triumphierend. »Paßt auf, Jungens. Gleich hat er uns.«
Reisiger zittert. Also das ist es? Also das ist die Feuertaufe? Man sitzt wie auf einem Präsentierteller, es gibt keinerlei Garantien dafür, daß nicht wirklich der nächste Schuß mitten in die Batterie haut.
Jetzt schiebt sich Süßkind zwischen Gellhorn und Reisiger. »Na, hast du Angst?« fragt er. Dabei macht er ein so bekniffenes Gesicht, daß er Reisiger leid tut.
Reisiger spielt am Richtgerät: »Ich verstehe bloß nicht, warum wir nicht auch schießen.«
Süßkind spuckt aus: »Dann haben sie uns ja erst richtig weg, nicht wahr, Herr Unteroffizier? Der Hauptmann sollte lieber abtreten lassen.«
Reisiger sieht fragend zu Gellhorn. Der will auch irgend etwas sagen. Da gibts einen neuen Krach, viel lauter als die beiden Male vorher. Es hagelt über das Geschütz, Rüben und Erde.
Reisiger, Süßkind und Gellhorn fliegen hin, rühren sich sekundenlang nicht. Warten. Warten. Schließlich äugt Gellhorn vorsichtig über den Schutzschild. Er zeigt auf ein schwarzes Loch, aus dem schleimiger gelblicher Qualm fließt. »Donnerwetter, der war nur zwanzig Meter davor!«
Zeit zu weiteren Erörterungen bleibt nicht.
Die Stimme von Mosel, nun sehr scharf und durchdringend, reißt die ganze Batterie plötzlich zusammen: »Jetzt sind wir dran«, schreit er. »Schrapnell Brennzünder, ganze Batterie 36-Hundert!«
Fort alle Gedanken! Handgriffe! Sechs Meldungen: »Geschütze feuerbereit!«
Der Hauptmann, auf den Zehenspitzen, dann in Kniebeuge: »Batterie – Feuer!«
Mit gewaltigem Aufbrüllen sausen sechs Rohre nach rückwärts. Die Geschütze bäumen sich mit kurzem Ruck. Dann hüllt eine scharfriechende Wolke sie ein.
Alles lauscht: In der Ferne hämmert die Explosion.
»31-Hundert- Feuer!« – Richten, Laden, Abziehen!
Fünfmal das gleiche. Fünfmal in der Ferne die Explosion. Der Feind erwiderte mit keinem Schuß.
»Batterie – halt.« Mosel nimmt die Mütze vom Kopf und geht mit langsamen Schritten, gesättigt, hin und her: »Jetzt wird die Bande wohl Ruhe geben. – Wir fahren mit Geschützexerzieren fort.«
Aber nach kurzem langweilt ihn das: »Das Kommando übernimmt Wachtmeister Conrad. – Wachtmeister, lassen Sie noch zwanzig Minuten Richtübungen machen. Dann kann die Batterie abtreten.«
Finger an die Mütze, ab in den Unterstand.
Wachtmeister Conrad hebt die Hand: »Schrapnell Brennzünder – Halblinks . . .«
Mehr sagt er nicht. In der Luft ist unerwartet ein neues Sausen, scharf, laut, lauter, lauter – ein Einschlag!
Reisiger wird unter den Munitionswagen geschleudert.
Er stemmt sich, sieht auf.
Dicht hinter ihm liegt Conrad, wälzt sich, röchelt, stöhnt wie ein krankes Tier. Hebt den Arm, läßt ihn fallen.
Reisiger sieht: Conrads linke Hand ist an der Wurzel glatt abrasiert. Eine dicke Fontäne sprudelt aus dem Stumpf.
Man schreit von allen Seiten nach Sanitätern.
Da ist auch der Hauptmann wieder. Er kniet neben Conrad, sagt: »Batterie abtreten!«
Der Wachtmeister wird auf eine Bahre gelegt und in seinen Unterstand geschafft.
Reisiger hat ein Zittern in den Knien, das ihn schüttelt. Und im Hals würgt etwas. Das also ist der Krieg! Da steht ein Mensch, laut und kräftig, mit provozierendem Mut. Und die Sonne scheint und es ist blauer Himmel. Und plötzlich liegt der Mensch am Boden. Und Blut spritzt. Und der Mensch wird nach Hause gehen und niemals im Leben wieder eine linke Hand haben. Das ist ja ekelhaft!
Auch die anderen im Unterstand sind bedrückt. Conrad ist mit Süßkind zusammen bei Beginn des Krieges ausgerückt: »Ein schneidiger Junge – schade, daß wir den los sind; denn man muß ja schließlich bedenken, daß man auch einmal einen kriegen kann, der uns Tag und Nacht hetzt.«
Viel mehr wird nicht geredet, bis es dunkel ist. Reisiger holt aus seiner Tasche eine Zigarre, die er Süßkind schenkt. Dann gibt er ihm die Hand – es fällt ihm auf, daß er zum erstenmal hier draußen im Feld einem Kameraden die Hand gibt –; nimmt sein Gepäck und meldet sich beim Hauptmann ab.
Nachts ist er wieder in seinem Quartier in der Kolonne. Die andern schlafen schon. Er legt sich zu ihnen.
Vom nächsten Morgen ab denkt Adolf Reisiger nur noch daran, daß er in dreimal vierundzwanzig Stunden wieder oben bei der Batterie sein wird. Beim Kaffee erzählt er von seiner Feuertaufe. Da kommt der Wagenführer: Reisiger wird zum Straßenfegen kommandiert. Das ist eine neue Beschäftigung. Er ist gespannt, wie man vorschriftsmäßig Straßen kehrt.
Draußen auf dem Parkplatz stehen bereits sieben Mann. Vier haben Schippen in der Hand, die man von Dorfbewohnern requiriert hat. Er und die anderen bekommen langgestielte Rübenhacken. Unter Aufsicht von Unteroffizier Gaensicke geht es auf die Dorfstraße.
Die acht Straßenkehrer sind sämtlich Kriegsfreiwillige. Auch der sonst so feine Kanonier von Oertzen, Assessor im Zivilberuf, muß die nächsten Stunden damit verbringen, den etwas aufgetauten und matschig gewordenen Dreck von der Chaussee zu kratzen und auf Haufen zu schieben, die fein säuberlich an allen vier Seiten abgeschrägt und oben wie eine Glastafel poliert sein müssen.
Reisiger ärgert sich. Das ganze Dorf wimmelt von Zivilisten. Es gibt bestimmt hundert ältere Männer und bestimmt einige hundert jüngere Frauen und Mädchen, die für Reinlichkeit sorgen könnten. Also warum Soldaten? Aber Befehl ist Befehl. Gaensicke jedenfalls ist von der Notwendigkeit dieser Mission Kriegsfreiwilliger so überzeugt, daß er nicht umhin kann, Reisiger bei der Musterung der bereits vollendeten Dreckhaufenpolituren anzubrüllen. Im zweiten Haufen von links läge ein großer Strohhalm, der da nicht hingehöre. Aber Kriegsfreiwillige taugten selbst zum Dreckkehren nicht. Und er wolle dafür sorgen, daß die ganze Gesellschaft jetzt Tag für Tag übe, bis die Haufen endlich so aussehen, wie der Herr Kolonnenführer es wünsche.
Gegen Mittag ist man am Ende der Dorfstraße angekommen. Gaensicke läßt die acht Mann in zwei Gliedern antreten, Schippe und Hacke über die Schulter. Er führt sie im Gleichschritt durch das vollendete Werk, als dessen Schöpfer er sich geschwollen betrachtet. Er zählt laut die einzelnen Haufen und meldet dann dem Wachtmeister: »Vom Straßenreinigen zurück, 178 Haufen.« Dazu macht er ein Gesicht, als verlange er sofort das Eiserne Kreuz, möglichst vom Kommandierenden General persönlich an die Heldenbrust geheftet.
Beim Mittagessen schlägt Reisiger mit der Faust auf den Tisch. Er ginge nachher zum Hauptmann und verlange seine sofortige Versetzung zur Batterie. Er denke nicht daran, noch einmal Straßen zu kehren.
Die Kameraden bremsen ab. Sachte, sachte. Er solle doch um Gottes willen keinen Unsinn machen. Wozu denn die Aufregung? Wozu denn ins Unglück stürzen, mit Gewalt?
Franz Zeitler redet vor allem auf ihn ein, ist wie ein Vater zu ihm, hat die Philosophie des alten Frontsoldaten. Sagt: »Sieh mal, Adolf, das ist doch so: Wenn du dich jetzt an die Front meldest und sie knallen dir eins vor den Brägen, dann mußt du dir doch immer Vorwürfe machen und dir sagen, daß du es ja selbst nicht anders gewollt hast. Glaub mir: wir machen alle alles, was befohlen wird. Aber wir drängeln uns nicht. Nie tun, was nicht befohlen wird. Das ist die höchste Parole.«
Reisiger schweigt: Ja – bin ich denn nicht Kriegs-Freiwilliger?
Eingedenk seines hohen Berufs, Thron und Vaterland zu schützen, muß der Soldat stets eifrig bemüht sein, seine Pflichten zu erfüllen. (Kriegsartikel l)
Jeder Befehl ist möglichst wörtlich auszuführen. Stellen sich dabei dem Soldaten Schwierigkeiten in den Weg, dann darf er den Befehl nicht gleich als unausführbar ansehen, sondern muß sich überlegen, wie er diese Schwierigkeiten überwinden und vielleicht auf andere Weise zum Ziel gelangen kann. Die Hauptsache ist dabei, daß der Soldat den »Sinn« des Befehls, d. h. dasjenige, worauf es eigentlich ankommt, begriffen hat und das ausführt. Man nennt dies »sinngemäße« Ausführung eines Befehls. (Erläuterung zu Kriegsartikel 11)
Reisigers Wunsch ging einstweilen nicht in Erfüllung: eine neue Abkommandierung zur Batterie erfolgte nicht.
Der Trott der Kolonnenarbeiten: Wagenwaschen, Fußexerzieren, Straßenreinigen.
Kriegsfreiwillig? Wo ist der Krieg? Wo ist der Feind?
Der Feind? Eines Morgens kam der Befehl, für die Ortskommandantur eine Wache zu stellen. In der Kirche sind gefangene Franzosen untergebracht.
Die Kirche ist ein roher Backsteinhau. Die Bänke aus dem Schiff hat man während der Wintermonate als Brennholz verfeuert. Nur der Altar steht noch, zwischen zwei roten Säulen aus Mauersteinen. Vor seinen Stufen kauert ein Betstuhl. An der Längswand des ganzen Raumes liegt geschüttetes Stroh.
Die erste Nummer des Wachkommandos haben Reisiger und von Oertzen. Sie öffnen die Kirchentür. Sie sehen die Gefangenen. Die meisten hocken im Stroh und nehmen weder vom Nachbar noch von den beiden neuen Posten Notiz. Sie sprechen auch nicht. Oertzen und Reisiger gehen zaghaft durch den Mittelgang. Der Laut ihrer eigenen Stiefel bedrückt sie. Nach wenigen Schritten bleiben sie stehen. Sie wissen nicht recht, wie sie sich verhalten sollen. Oertzen hat den Gefangenen den Rücken zugedreht, sieht an den Wänden der Kirche entlang und sagt, halb bewundernd, halb mitleidig: »Eigentlich ein ganz schöner Raum. Sehen Sie mal, was für nette Fenster.« Reisiger hebt den Kopf: Graublau wechselt mit Limonadenrot, niemand kann behaupten, daß die Fenster schön sind. Er nickt und schweigt. – Nach einer Weile sagt Oertzen: »Ich werde erst einmal außen um die Kirche herumgehen; denn man kann ja nicht wissen, ob nicht irgendwo eine unverschlossene Tür ist. Und dann rückt einer aus.« – Weg ist er.
Reisiger fühlt die Versuchung, ihm zu folgen. Er geht bis an die Tür, beinahe auf Zehenspitzen. Aber dann nimmt er den Karabiner mit einem Ruck auf die Schulter und dreht sich sehr laut um. Und dann geht er mit festen Schritten auf den Altar zu.
Schließlich dreht er sich zur Seite. Das ist nicht einfach. Es kostet Überwindung. Aber, zum Donnerwetter, er ist ja nicht zum Spaß hierher gestellt! Und das da sind Gefangene und sind Feinde!
Merkwürdig kleine Füße haben sie. Und Wickelgamaschen, die nicht ganz bis zum Knie gehen. Und darüber ulkige rote Hosen. Sie sehen eigentlich wirklich nicht wie Soldaten aus. Wie kann man als erwachsener Mann mit roten Hosen rumlaufen. Und die blauen langen Fräcke sind auch nicht gerade männlich.
Einer der Franzosen hat keinen Helm auf. Sein Gesicht? Im Augenblick, wo Reisiger die Augen auf ihn richtet, beugt er seinen Kopf tief auf die Knie.
Der nächste. Der sieht gerade aus. Reisiger macht einen halben Schritt seitwärts und steht vor ihm. Jetzt müssen zwei Augenpaare sich begegnen.
Aber sie tun es nicht: die Augen des Franzosen sehen starr und unbewegt durch Reisiger hindurch. Als sei er Luft.
Reisiger erlebt bei den nächsten zehn, zwölf Mann dasselbe: Sie beugen den Kopf, sie beugen den Kopf, wenn er mit seinen Blicken zu ihnen kommt. Oder sie tun so, als ob überhaupt niemand vor ihnen stünde. Und einer schlägt sich mit einem lauten Klatsch die Hände ins Gesicht und hält die Augen zu.
Reisiger weiß nicht, was tun. Vielleicht wäre es richtig, die ganze Bande anzuschreien. Er könnte verlangen, daß sie auf sein Kommando mit einem Ruck alle aufstehen und die Hände an die Hosennaht nehmen. Schlimmstenfalls könnte er ihnen mit dem Kolben seines Karabiners ganz gehörig ins Kreuz schlagen. Dann würden sie schon merken, wie man sich einem deutschen Soldaten gegenüber zu benehmen hat.
Das alles überlegt Reisiger, aber er tut nichts. Es fällt ihm ein, daß er 21 Jahre alt ist, und daß vor ihm wehrlose Menschen sitzen, die seiner Schätzung nach zum größten Teil gute zehn Jahre älter sind als er. Das beschämt ihn. Er dreht sich um. Da: da ruft jemand: »Kamerad.« Er sieht die hockende Reihe entlang. Keiner rührt sich. Zum zweitenmal: »Kamerad!« Er sucht weiter. Er sieht, daß auf den Stufen unter dem Altar ein Bündel liegt, rot und blau. Das Bündel bewegt sieh, aus ihm hebt sich mit einer sehr zarten Bewegung eine Hand.
Reisiger geht näher. Ein französischer Offizier. Er hat eine Kappe mit goldenen Tressen auf. Ein blasses Gesicht mit einem schwarzen Spitzbart.
Was nun? Er versteht zur Not einige französische Brocken, aber er wird sich kaum verständigen können. Die Hand winkt abermals. Er tritt nahe heran. Der Offizier schlägt den Mantel zurück; der Uniformrock ist aufgeknöpft, auf dem schmutzigen Hemd liegt ein großer feuchter Blutfleck.
Auf diesen Fleck deutet die Hand des Offiziers. Sie zittert und flattert hin und her.
Helfen? – Reisiger hat keinen Mut, das Hemd aufzuheben und nach der Wunde zu sehen. Er murmelt einige deutsche Worte und geht dann auf Zehenspitzen durch die ganze Kirche bis zum Ausgang und ruft laut: »Sanitäter.«
Den Ruf hat Oertzen gehört. Er sieht nur nach der Uhr: »In zwei Minuten kommt die Ablösung. Ich weiß auch nicht was man da machen soll. Das können die andern sicher viel besser.«
Ablösung. Reisiger und Oertzen melden dem Wachthabenden, daß in der Kirche bis auf den Verwundeten alles in Ordnung ist. Sie schnallen ihr Koppel ab und setzen sich an den Tisch der Wachtstube. Sie sind Plötzlich sehr laut. Oertzen erzählt einen Witz.
Nach vier Stunden müssen sie erneut den Posten beziehen. Sie gehen mit lauten Schritten bis zum Altar. Es ruft keiner mehr »Kamerad«.
Die Veröffentlichung von Berichten über sog. Verbrüderungsszenen zwischen Freund und Feind im Schützengraben ist unerwünscht. (Oberzensurstelle Nr. 38. O.Z. 22. 1. 15)