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Seit Jesu Tod ist der Beweis erbracht, daß man sterben kann und nicht nur sterben muß. – Die häufigste Frage, die man heute hört, lautet: Wie lange dauert der Krieg noch? – Man schelte mich nicht leichtfertig, wenn ich mit einem Wort, das sich nach Scherz anhört, aber von mir bitter ernst gemeint ist, antworte: bis er zu Ende ist. (Berliner Lokalanzeiger, 21. 4. 16, Hofprediger Lic. Doehring)
Gott hat sichtbar geholfen. Er wird ferner mit uns sein. (11. 1. 16; Wilhelm an Franz Josef)
Gottes Beistand wird uns zu gutem Ende unseres gemeinsamen Kämpfens geleiten. (11. 1. 16; Franz Josef an Wilhelm)
Ich bete, daß der allmächtige Gott uns seinen Segen gebe. (27. 1. 16; Englische Thronrede)
Anflehend die Hilfe des Allerhöchsten für eure Arbeiten. (14. 1. 16; Tagesbefehl, Nicolaus)
So wie Mein seliger Großvater und wie Ich Uns unter der höchsten Obhut und dem höchsten Auftrage Unseres Herrn und Gottes arbeitend dargestellt haben, so nehme Ich das von einem jeden ehrlichen Christen an, wer es auch sei. Wer in dieser Gesinnung arbeitet, dem wird es aber klar, daß das Kreuz auch verpflichtet! Wir sollen in brüderlicher Liebe zusammenhalten . . . (Kaiser Wilhelm, 29. 8. 1910)
. . . mit Uns . . . mit Uns . . . mit Uns . . . mit Uns . . . wer es auch sei . . . .
Februar 16. Urlaub. Nach siebzehn Monaten, nach fünfhundert Tagen, durfte Unteroffizier Reisiger zehn Tage in Deutschland zubringen. Wie sehr ersehnt! Wie brennend, immer wieder, immer lauter, immer drängender gewünscht!
Zweimal bereits war der Tag festgelegt gewesen. »Reisiger – nächste Woche – parti Deutschland – Mensch, hast dus gut!« – Dann war der einzige Gedanke hochgegangen: jetzt nicht noch, in letzter Stunde, sich vor den Kopf schießen lassen! Angst hatte eingesetzt.
Zweimal: Urlaubssperre! Man hatte sich geduckt unter dieses verfluchte Wort. Bis Reisiger endlich im Urlaubszug saß.
Und dann? Dann zerrannen zehn Tage, zweihundertvierzig Stunden.
Meldung: »Unteroffizier Reisiger von Heimatsurlaub zurück.« – »Gut, lösen Sie sofort die Grabenbeobachtung ab.«
Reisiger saß im Bunker. Es regnete, wurde eine schmierige Nacht unter schmierigem Himmel.
Vorgestern Deutschland, am weißgedeckten Tisch zwischen Vater und Mutter, verlegen um irgendein Wort, Gespräch. – Gestern im Zug, unter schweigenden Soldaten. – Jetzt hier.
Urlaub war gewesen? Was wußte Reisiger davon? Es blieb nicht mehr als ein Film, zu schnell gedreht, ungeschickt geschnitten, überhetzt, überhitzt, zu Bildchen, zu Fetzen zerrissen. Schlagwortzeilen, zusammenhanglos, unbegründbar, Wirrwarr ohne Ordnung und Gesetz.
Titel: Hunger!
Bekanntmachung:
Für die laufende Woche werden auf den Kopf der Bevölkerung folgende Lebensmittel verausgabt: 10 Pfund Kartoffeln, 210 Gramm Zucker, 100 Gramm Butter, 100 Gramm Schmalz oder Speck, 80 Gramm Margarine oder Kunstspeisefett, 125 Gramm Hülsenfrüchte oder Gegräupe, täglich ½ Liter Milch, 25 Gramm Feinseife, 125 Gramm andere Seife. Zuteilung von Frischfleisch erfolgt nach Maßgabe der verfügbaren Gesamtmenge.
Die Menschen stehen vor den Geschäften. Jetzt, im Winter, frühmorgens ab 6 Uhr, in zwei Reihen, die ganz Alten und die ganz Jungen. Von einem Bein aufs andere – »jaja, der Krieg«, »na, unsere Braven draußen werden es schon machen«, »mit 80 Gramm Margarine kann ich nicht auskommen«, »und wenn ich Ihnen sage, daß mein Sohn geschrieben hat, daß sie draußen jetzt tagelang nicht einen Bissen Fett gesehen haben?«, »natürlich, wir habens ja auch immer noch gut und dürfen nicht klagen«, »mein Kind wird nun sechs Jahre; wissen Sie, was es wiegt: sage und schreibe dreiunddreißig Pfund«. – Der Kaufmann schiebt die Rolläden hoch: »es gibt heute nur Seife und Zucker. Die anderen Sachen sollen am Nachmittag kommen. Tja, da müssen Sie alle sich schon noch gedulden.« – Die Menschen holen Seife und Zucker. Sie stehen am frühen Nachmittag wieder drei Stunden. Abends, mit zitternden Knien, sehen sie dankbar und liebevoll auf Kunstspeisefett, Gegräupe, verfrorene Kartoffeln und auf 100 Gramm Butter.
Vertrauliche Mitteilung vom Oberkommando i. d. Marken an alle Zeitungen:
Veröffentlichungen über heute abend stattgefundene Ruhestörungen vor der Markthalle Invalidenstraße (Berlin) dürfen vor der amtlichen Aufklärung und entsprechender Mitteilung an die Presse nicht gemacht werden (2. II. 1916) Weitere Mitteilungen über den Vorfall in der Markthalle als die von WTB gegebene Meldung sind unzulässig. (Oberkommando i. d. M. 3. II. 1916)
WTB:
In der Markthalle an der Invaliden- und Ackerstraße wurde heute beim Andrang des Publikums zum Schmalzverkauf ein eiserner Ofen umgeworfen; Personen wurden dabei nicht verletzt. Dieser Vorfall veranlaßte Gerüchte von Krawallen und Waffengebrauch der Schutzmannschaft, welche jedoch vollständig unbegründet sind.
Dieses und sehr vieles andre enthält das neue Gartenlehrbuch der Blumengärtnerei Peterseim–Erfurt, Lieferanten für Se. Maj. den Deutschen Kaiser:
Im Nachttopf spiegelt sich der gesundheitliche Zustand eines Menschen, in der Jauchegrube der gesunde oder ungesunde landwirtschaftliche Zustand eines Volkes. An seiner Kloakenwirtschaft ist das stolze römische Reich zugrunde gegangen. Nicht der Krieg zerstört ein Volk, sondern nur der Zustand der Felder ist es, was eine Nation letzten Endes zugrunde richtet oder mächtig macht. Die Anzahl der Ehen und Kinder sind durchaus abhängig von den Kornpreisen. – Die jährliche Fäkalmenge eines Menschen genügt, um auf einem Morgen sieben Zentner Roggenkorn zu erzeugen. Mit Millionen Zentnern Brotgetreide zu bewertende Fäkalien gehen jährlich verloren und werden durch Wasserspülanlagen in die Flußläufe geführt. – Fleißige Hand wird herrschen, die aber lässig ist, wird müssen zinsen, Spr. 12, 24.
Der Film reißt.
Blendend die weiße Wand, daß man die Augen schließen muß. Aber der Motor surrt, Motor surrt, surrt. Und dann, auf der weißen Wand, ungeheuer vergrößert, verzerrt, gigantisch zwei Hände, Finger, baumdick, die tasten und suchen. Der Operateur will flicken. Der Motor surrt, Motor surrt, die Finger drücken und suchen und greifen. Endlich:
Titel: Die Frau!
Wie war das doch? Die vielen Frauen, auf den Straßen, in den Ämtern, auf so vielen Posten? Wie war das doch?
Da stehen sie, Frau neben Frau, drehen Granaten. Lederhosen, die Brüste weggeleugnet im Lederwams; das Haar, blond vielleicht, dünn und wehend vielleicht, weggelogen in der Lederkappe.
Und das Herz? –
. . . Viele, viele Frauen habe ich gesprochen: zahme, die ich bisher für beschränkt hielt, und sie waren klar und stark im Haß; zarte, die nur mit sich beschäftigt waren, und der Haß ließ sie nun sich selbst vergessen; kinderlose, die längst ergeben waren, und die nun klagten: Hätte ich doch einen Sohn, uns an England zu rächen; Mütter, die kein Glück in der Welt haben als das durch ihre Söhne: sie gaben sie freudig, und sie konnten nicht mehr deutlich sagen: Für das Vaterland oder aus Haß gegen England. (Ida Boy-Ed, am Tage der Englischen Kriegserklärung.)
Da kommen sie nun: Lokomotivführer und Chauffeur, Postbote und Kellner, Vollzugsbeamter und Kassierer. Frauen, unbegreifbar, weiblichen Geschlechtes!
Weiblichen Geschlechtes?
Wie war das doch, als man auf Urlaub war?
Brach nicht doch zuweilen eine Regung durch? Konnte es dir nicht geschehen, Reisiger, daß die Augen der jungen Frau, die in zerschlissenen Männerhosen erschien, die Kohlenkiepe auf den durchgebogenen Schultern, daß diese Augen plötzlich flackernd wurden? Daß der Mund, schwarz verstaubt, plötzlich die Winkel zu einem weichen Bogen hob? Daß die Hand, breit, dreckig, zitterte? Daß aus der Brust, keuchend, die Hügel wuchsen? Daß nichts mehr Lüge war, daß kein Krieg die Frau zum Mann schänden konnte?
Wie war das doch, auf Urlaub?
Die vielen Frauen, ohne Mann? Kriegstrauung, des Nachmittags, Umarmung, die den Leib zersprengte, des Nachts, Abschied, Trennung, in der ersten Frühe. Und dann, Tag um Tag und Nacht um Nacht und Monat auf Monat ohne Mann?
Der Film rollt: Offene Arme. Ein Kissen des Nachts kühlend gegen den Schoß gerissen. Und warten. Wann kommt mein Mann? Offene Arme. Den Leib verhungert, abgeschuftet, entblößt zwischen den Laken hin und her geworfen: Wann kommt – ein Mann? Tag um Tag und Nacht um Nacht: wann kommt ein Mann?
Ehen brachen, Herzen stürzten in Verwirrung – der Mann in Uniform, jeder Mann in Uniform: das ist mein Mann.
Brief einer Kriegerfrau, Veröffentlichung verboten:
Da sich bei den meisten Frauen das Resultat zeigt, das die Urlauber hinterlassen haben und dieselben sich jetzt schon auf den kommenden Kriegsjungen freuen, so will ich auch nicht zurückstehen und verlacht werden. Ich will auch den Patriotismus unterstützen. Will aber auch nicht auf Abwege geraten, und deutsche Treue üben, denn mein Mann steht auch schon seit Kriegsbeginn im Felde. Aber auch die Natur verlangt ihre Rechte. Ich hoffe auch, daß mein Vorhaben in Erfüllung geht und was unser Resultat bringen wird, das wird die Zukunft sagen. Denn unser Kaiser braucht auch Soldaten. Es muß mit dem Urlaubsgesuch auch nicht zu lange dauern, denn sonst ist der Krieg zu Ende und unser Vorhaben vom Kriegsjungen vereitelt. – Hochachtungsvoll . . .
Aber kam denn der Mann? Und wenn er erschossen war, draußen lag, zerfetzt? Was war sonst im Land, wenn nicht Greise, Krüppel, Kinder? – Gitter, Käfige, Mauern. Dahinter: gefangene Feinde. Es dunstete aus, es roch: hier ist der Mann.
Das Stadtpolizeiamt in Schwerin i. M. gibt, April 1915, bekannt:
Es ist in letzter Zeit wiederholt vorgekommen, daß die Zivilbevölkerung beim Durchzug von Kriegsgefangenen ein außerordentlich taktloses Benehmen gezeigt hat. Nicht nur haben sich große Scharen von Neugierigen gesammelt, sondern viele Zuschauer – namentlich der weibliche Teil – haben sich auch nicht enthalten, Mitleid mit den Gefangenen durch Weinen, durch Beschenken und durch Hilfeleistung beim Tragen von Gepäck usw. zu zeigen. Die Zivilbevölkerung wird darauf hingewiesen, daß Maßnahmen getroffen sind, damit ein derartiges Verhalten künftig unter allen Umständen verhindert wird.
Kreuzzeitung, April 1915:
Wegen brieflichen Verkehrs mit Gefangenen wurde die Tapezierehefrau M. S. vom Landgericht Eichstädt zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Sie hatte mit in M. gefangen gehaltenen französischen Offizieren Briefverkehr unterhalten.
Und es lagen, des Abends, trotz den Verboten, im gefrorenen Wald vor der Stadt, in der verlassenen Scheune, im Stall Menschen, die Körper gegen einander gepreßt, verhungert nach einer Zärtlichkeit. Eine deutsche Frau und ein französischer Mann, deutsche Frau und Engländer, Russe, Neger . . . Auf Sekunden gab es keinen Krieg! Kein Vaterland! Kein Deutsch und Englisch und Französisch und Russisch und Suaheli! Auf Sekunden stockte die Maschine: Mord. Auf Sekunden: eine deutsche Frau und ein Mann, dessen Sprache sie nicht verstand: nur und nichts als Frau und Mann.
Motor surrt, Motor surrt, Motor surrt – – – Und der Film rollt ab, rollt weiter, rollt –
Und was war noch, Reisiger, auf Urlaub . . .?
Es waren Menschen in Zivil, die kamen vertraulich heran, drängten auf den Straßen, folgten ins Zimmer, stierten ums Bett, lachten breit, hoben den Finger, drohten verschmitzt mit der Faust, raschelten mit der Zeitung, prosteten mit dem Bierglas. Der Lehrer aus dem Mathematikunterricht Oberprima: »Na Reisiger, gehts denn voran? Mir scheint, Ihr seid faul geworden da vorn an der Front, was? Kein Sieg seit Wochen, was?« Der Postdirektor, pensionierter Offizier von 70/71: »Also Herr Reisiger, damals, wir, vor Gravelotte, bestimmt, es war schlimmer als jetzt, wo man sich überall in Gräben verkriecht.« Der Pastor, Spucke auf den Lippen: »Nun lieber Adolf, die Herzen zu Gott, Sie erinnern sich, und die Fäuste auf den Feind!« – Und die vielen: »Nun erzählen Sie doch mal ein bißchen aus dem Krieg.«
Wie war das doch, Adolf Reisiger? Erzählen, ein bißchen, aus dem Krieg. Angefangen, nach langer Qual: »Also der Feind schoß mit Granaten –« Und schon abgebrochen die Erzählung: Was wissen sie, was Feind heißt! Was wissen sie, was schießen heißt. Und »Granaten«, was wissen sie, was eine Granate ist? – Gestammelt, geschwiegen: es hat ja gar keinen Sinn.
Fragt der Vater: »Na Junge, wollen wir heute ein Pülleken Sekt trinken?« Antwortet der Sohn, der Unteroffizier Adolf Reisiger: »Ja, oh ja, gern!« – Und denkt: Ob meine Batterie heute abend Wasser holen durfte?
Fragt die Mutter: »Willst du heute ein Hühnchen essen? Onkel Hermann hat eins für dich geschickt?« Antwortet der Sohn: »Hühnchen, na ausgezeichnet.« – Denkt: Bald ist Mittag. Gibt es draußen heute wohl die Erlaubnis, zum Dörrgemüse eine Büchse Rindfleisch zu öffnen?
Der Vater: »Und wenn Friede ist, darfst du in München nach Herzenslust studieren.« Reisiger denkt: Ob ein Mensch lebendig aus dem Felde nach Hause kommt, da wir doch fürs Frühjahr Bewegungskrieg vorbereiten?
Die Mutter: »Ach mein Junge, wer hätte das gedacht. Aber Ihr wolltet ja ins Feld. Wir Frauen verstehen wohl nichts davon.« Reisiger, für sich: Nun weint sie auch noch. Wenn ich doch wieder an der Front wäre. Hättet ihr Frauen euern Männern und Söhnen verboten, mit Inbrunst und Zorn verboten, ein einziges Gewehr anzufassen – Aber was wissen Frauen von Krieg!
Und der Film rollt und rollt und rollt. Und, Großaufnahme, das Coupé III. Klasse, erst zwischen Zivilisten, dann, nach 12 Stunden, nur noch zwischen Militär, Kameraden, schweigsamen.
Fahrt über den Rhein. Schlucken in der Kehle: hier ist eine Grenze. Hüben Deutschland, drüben wir. Hinüber herüber Worte, Worte, Worte. Nur Verstehen gibt es nicht mehr, gibt es nicht mehr. Ihr, drüben, in Deutschland, hinter uns, begreift nichts von uns. Ihr könnt ja nichts von uns begreifen!
Der Film rollt langsamer, langsamer. Der Motor hakt, röchelt, spuckt, setzt aus.
Reisiger sitzt im Bunker, in einer schmierigen Nacht, unter dickem schleimigen Himmel.
Der Feind schweigt. Wenige Gewehrschüsse schlagen gegen die Brustwehr. Einmal schreit eine Stimme fürchterlich auf. Reisiger schläft, das Telephon an den Ohren, hört, wie im Dämmern: Im Westen keine besonderen Ereignisse.
Reisigers Tagebuch, 2. 4. 16:
Anruf
Ich habe dich geliebt, Gott – aber wo bleibt Halt zu dir?
Machst du uns all die Qualen? Hetzt du uns zum Tier?
Ist es dein Werk, daß unsere Brüder zerrissen auf Bahren bluten?
Wirft deine Hand aus der Geschütze brüllenden Rachen Feuergluten?
Ist es dein Wille, wenn sich deine Söhne zahllos wie vermoderte Bäume fällen?
Läßt du geschehen, daß Gewehre wild auf unsere Leiber bellen?
Wirfst du die Flammenbrände heiß auf unsere Hütten?
Daß unterm Sturme deines Atems unsere Städte sich verschütten?
Herr! Großes Irresein an dir krallt mich mit tausend Armen!
Ich habe dich geliebt, Gott! Zeige einmal noch Erbarmen!
Herr! Einmal noch sei gnädig! Sieh die Hände, die wir betend heben!
Vergib uns alle unsere Schuld! Und erlöse uns von dem Leben!
Das Gedicht habe ich vor einigen Tagen geschrieben. Ich male mir immerzu aus, was werden würde, wenn ich es bei der Postausgabe einmal laut vor aller Mannschaft vorläse. Aber dann hält man mich für verrückt und sperrt mich ein. Das lohnt wohl nicht.
Nur: gesagt müßte einmal werden, daß ich den Krieg allmählich für die größte Sauerei halte, die es gibt.
Ich will das Gedicht drucken lassen. Ich schicke es an Redaktionen nach Deutschland. Es ist schlecht, aber es sagt etwas. Vielleicht nützt es also. – Das Leben wird immer unerträglicher. Mosel hätte nicht fallen dürfen. Und vor allem nicht auf so unsinnige Weise. Da er ein guter Soldat war, und es bewußt war, hätte er in der Stellung sterben müssen. Aber Fliegerbombe bei den Protzen? Armer Kerl.
Der neue Chef, Hauptmann Siebert, ist mit Mosel nicht zu vergleichen. Er ist unentschieden. Oder unsicher? Er weiß manchmal nicht ein noch aus. Wenn wir wenigstens Fricke noch hätten. Aber auch dessen Ende war ja vorauszusehen. Man läuft nicht ungestraft an der Front spazieren.
– Wo geht das Leben hin? Wie geht es weiter?
Was wir in letzter Zeit erlebt haben, die Zurückweisung der russischen Offensive und die Kämpfe bei Verdun, sind nicht, wie unsere Gegner zu glauben vorgeben, die äußersten Anstrengungen einer erschöpften und das Letzte hingebenden Nation, sondern das sind die Hammerschläge eines mit Menschenreserven und mit allen Hilfsmitteln versehenen, kräftigen, gesunden und unüberwindlichen Volksheeres. Die Angriffe werden sich wiederholen, bis die anderen mürbe sind, und daß wir alles für diesen Sieg einsetzen werden, verspreche ich hier vor dem Hause. (Kriegsminister Wild v. Hohenborn, 10. 4. 16, Reichstag)
Unsere Zeitungen sollen nicht schreiben, was das Volk gerne hört und was demzufolge den Straßenverkauf ergiebiger macht. Sie sollen zu den geistigen Führern des Volkes gehören und schreiben, was ihm nützt. Und darum dürfen sie nicht nur auf Augenblickswirkungen hinarbeiten, sondern sie müssen weiter blicken. Statt gestützt auf mangelnde Sachkenntnis vorauszuahnen, was draußen unsere Generale und Truppen vollbringen werden, sollen sie lieber voraus zu berechnen suchen, wie ihre Veröffentlichungen im Inland und Ausland wirken werden. Das ist das rechte Betätigungsgebiet für den Journalistendrang, in die Zukunft zu sehen. (Pressebesprechung d. Oberzensurstelle des Kriegspresseamts 22. 9. 15)
. . . Volk gerne hört . . . Hammerschläge . . . mit allen Hilfsmitteln . . . unüberwindlich . . . . . . vorauszuahnen . . . bis die anderen mürbe sind . . . das ist das rechte Betätigungsgebiet für den Journalistendrang . . .
F.A.R. 96 ist herausgezogen worden. Die Batterien liegen in einigen Dörfern nahe Courtrai. Drei Wochen Ruhe.
Gerichtsverhandlung im Stabsquartier der I. Abteilung F.A.R. 96.
Anwesend: Führer von 1/96 Major Klemper als Vorsitzender, Hauptmann Siebert 1/96 als erster, Leutnant Stiller 5/96 als zweiter Beisitzer.
Protokollführer: Reisiger (seit 3 Tagen Vizewachtmeister)
Angeklagt: Kanonier Rodnik, 1/96.
Major Kl.: Erzählen Sie den Vorgang.
Angeklagter schweigt.
Major: Kl.: Na, stimmt es, daß Sie mit diesem Frauenzimmer gevögelt haben, obwohl sie wußten, daß die Person geschlechtskrank ist?
Angeklagter: Zu Befehl, Herr Major: nein.
Major Kl.: Was heißt Nein? Haben Sie nicht – oder wußten sie nicht?
Angeklagter: Ich kenne das Mädchen nicht, Herr Major.
Hauptmann S.: Rodnik, wenn Sie noch lügen, sperre ich Sie sofort ein. Hier, Herr Major, ist noch ein Attest vom Abteilungsarzt, daß der Mann schweren Tripper hat.
Major Kl.: Kerl, wollen Sie mir erzählen, daß das vom Pinkeln gekommen ist? (Brüllt) Sie kommen ins Zuchthaus, wenn Sie nicht die Wahrheit sagen. Also wo haben Sie den Tripper her?
Angeklagter: Aus dem Lazarett –
Hauptmann S.: Das ist Lüge. Sie waren ja nie im Lazarett?
Angeklagter: Nein, Herr Hauptmann – aber hier aus dem Ort –
Hauptmann S.: Rodnik, nun reden Sie mal keinen Unsinn. Nun seien Sie mal vernünftig. So weit solltet Ihr mich doch schon kennen, daß man mit mir reden kann. Ich will nicht belogen werden, also nun erzählen Sie. In Ihrem Interesse.
Angeklagter: Ich habs gekauft . . .
Major Kl.: Was gekauft? Das Mädel?
Angeklagter: Nein, Herr Major. Den Tripper. Von einem Infanteristen. Aber das haben andere auch getan. Der ist tripperkrank – und wenn man ihm eine Mark gibt, gibt er einem ein bißchen – ein bißchen Eiter. Und wenn man den gleich sich anschmiert . . .
Hauptmann S.: Das haben andere auch? Wie viele von der Batterie?
Angeklagter: Wie ich da war, noch fünf . . .
Selbstmorde 1914/15 in Feld- und Besatzungsheer; unbedingte Zahl: 621. Selbstmorde 1915/16 in Feld- und Besatzungsheer; unbedingte Zahl: 1210.(Seesselberg, Stellungskrieg S. 454)
Wegen Sittlichkeitsvergehens im Sinne des § 184,1 des Strafgesetzbuchs (Verbreitung unsittlicher Schriften) hat das Landgericht Duisburg am 7. Januar den Uhrmacher Max Ranspieß zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Der Angeklagte, der verheiratet ist, aber von seiner Frau getrennt lebt, hatte, wie ihm zur Last gelegt worden ist, unter der Maske eines Wohltäters die jetzige Kriegszeit dazu benutzt, auf verbotene Liebesabenteuer auszugehen, indem er folgendes Manöver vollführte: Am 19. September v. J. erließ er im »Duisburger Generalanzeiger« ein Inserat, das lautete: »Junger Uhrmacher übernimmt bei Frauen, deren Männer im Felde stehen, unentgeltlich Reparaturen an Ort und Stelle.« Unter diesem Text stand eine Ziffer, unter der sich, wie er hoffte, Reflektantinnen melden würden. Jedoch hatte das Inserat eine für ihn ganz unerhoffte Wirkung, in dem er sich wegen Sittlichkeitsvergehens zu verantworten hatte. Das Gericht ist der Ansicht gewesen, daß es dem Angeklagten nur darum zu tun gewesen ist, auf das Inserat hin mit Frauen, deren Männer im Felde stehen, in unerlaubte Beziehungen treten zu können. Dafür spreche die ganze Fassung des Inserats, nämlich einmal die Hervorhebung des Wortes »Junger Uhrmacher«, sodann die »unentgeltliche« Ausführung der Reparaturen und endlich die Vornahme der Reparaturen »an Ort und Stelle«, also in den Wohnungen der Frauen. Die gegenteilige Behauptung des Angeklagten, daß er keinerlei unsaubere Hintergedanken bei Aufgabe des Inserats gehabt habe, habe das Gericht keinen Glauben geschenkt. Die Revision des Angeklagten wurde vom Reichsgericht verworfen. (Leipziger Volkszeitung, 11. 5. 1915)
Das interessanteste Buch der Gegenwart! Die deutsche Frau und die Kriegsgefangenen
Aus dem Inhalt:
Iros: Was lockte die Frau zu den Kriegsgefangenen. Tlucher: Suggestion des Fremdartigen. Dr. Sterzinger: Psychologische Analysen. Anna Haushofer-Merk: Ist der Gefangene noch Feind? Frau Professor Henni Lehmann: Wir Mütter! Was ich erlebte und wie ich mich strafbar machte. Amtsanwalt Laufer: Schuldig? Valentine Gebhard: Der Roman der Förstertochter zu . . . Ida Wagner: Die arbeitende Frau und die Kriegsgefangenen. Ida Wagner: Die arbeitgebende Frau und die Kriegsgefangenen. Valentine Gebhard: Die schönen Griechen von Görlitz usw. usw. usw. – Das Buch deckt offen und frei die sittlichen Verfehlungen der »Gefangenenliebchen« auf, sucht die Ursachen zu ergründen und träufelt heilenden Balsam auf die Wunden des deutschen sittlichen Ansehens. Preis geheftet M. 2.–, Porto und Verpackung 20 Pf. Auf Wunsch in geschloss. neutralem Umschlag M. 2,30 frco. Jeder deutsche Mann, jede deutsche Frau lese das Buch. (Nürnberger Bücherei und Verlagsgesellschaft, Döllinger u. Co., Nürnberg 11, Königstorgraben. – Generalvertreter überall gesucht!)
Die Angehörigen von Gefangenen sollen vorsichtig in der Auswahl der Lektüre sein, die sie den Gefangenen in Feindesland zusenden; aus Minderwertigkeit des Lesestoffes wird auf niedrigen Kulturstand unserer Nation geschlossen. (Pressebesprechung der Oberzensurstelle, 4. 8. 15)
F.A.R. 96 bekam Ende Juni, eines Nachmittags, den Befehl für den Einsatz. Er war für alle Batterien ungewöhnlich eindeutig: Jetzt gehts ins tiefste Schlamassel. Man hatte völlig neue Geschütze bekommen, man war mit neuem Gasschutzgerät, Masken aus Gummistoff, die man wie einen Maulkorb trug, ausgebildet. Es gab Stahlhelme.
Ein Blick in die Heeresberichte der letzten Tage: wohin wird es gehen? Genaue Ordre, steht im Regimentsbefehl, über das Marschziel folgt für die einzelnen Batterien erst im letzten Bereitschaftsquartier der Infanterie.
Als Oberleutnant Linnemann den Befehl telephonisch an die Batterien gab, fügte er hinzu: der Herr Regimentskommandeur wünsche im Regimentsstabquartier heute abend 8 Uhr sämtliche Offiziere und die offizierdiensttuenden Vizewachtmeister zu einem Bierabend bei sich zu sehen.
Für 1/96 war ein Abteilungsbefehl angefügt: Oberleutnant Rosstorf 2/96 und Leutnant Stiller 5/96 seien mit sofortiger Wirkung zu 1/96 versetzt.
Die beiden Herren meldeten sich gegen ½ 8 Uhr abends bei Hauptmann Siebert. Reisiger wurde ihnen vorgestellt. Sie ritten gemeinsam zum Regiment.
Das Quartier war in einem prächtigen französischen Schloß. Man hatte in sämtliche Fenster Kerzen gesetzt. Man hatte auf dem Rasen vor dem Gebäude lange Holztafeln aufgeschlagen und darüber Lampions angebracht, rote, grüne und gelbe.
Sehr schön. Dazu eine warme Luft, und zur Nacht hin ein unendlich weicher sternenübersäter Himmel.
Der Bierabend war »ungezwungen«. Die Vizewachtmeister der einzelnen Batterien saßen zwar an einer besonderen Tafel, aber es wurde ihnen bereits zu Anfang zu verstehen gegeben, daß man militärische Formen heute nicht wünsche. Linnemann lächelte: »Jeder einzelne von Ihnen kann ja in den nächsten Tagen in die Verlegenheit kommen, die Batterie selbständig zu führen. Sie wissen ja – –«
Der Oberst erschien friedensmäßig in langen Hosen mit Lackschuhen, in kleinem Rock ohne Mütze.
Von einem Pionierkommando hatte man sich eine Musik entliehen. Auf einem Balkon des Schlosses saßen sechs Mann mit Blasinstrumenten und spielten. Walzer, Märsche, später Soldatenlieder, geschmacklos genug »Morgenrot . . .« und »Ich hatt einen Kameraden . . .« Zwei Melodien, die wenig in die Stimmung paßten, die man im Feld nicht gern hört.
Was konnte man also anderes tun, als aufkommende Sentimentalitäten in Bier zu ersaufen? Man besorgte es gründlich. Nach ganz kurzer Zeit bereits gab es an allen Tischen Offiziere, die den Kopf in die Hände gestützt hatten, stur ins Glas sahen und zur Musik mitsummten.
Unter den Vizewachtmeistern waren wenige, die Reisiger kannte. Die meisten waren erst kürzlich gekommen; ihre Vorgänger, aus seinem Transport, waren tot, oder verwundet in Deutschland.
Bier trinken war für Reisiger eine Strafe. Hier geschah es befehlsmäßig: Es genügte, daß irgend ein Offizier, und sei es der jüngste Leutnant, einem zunickte, dann mußte man sich den Suff in die Kehle schütten. Reisigers Stimmung rutschte immer mehr ab. Er begriff nicht, fühlte sich fremd, mußte lachen, und wußte eigentlich nicht warum.
Im Turm des Schlosses war eine Uhr. Als sie zwölf wimmerte, stand der Oberst auf und schlug ans Glas. Er sagte Worte, wie sie niemand bei ihm vermutete. War die Nacht daran Schuld? Er sprach sehr straff, abgehackt, aber man merkte, daß hinter seinen Worten eine Erregung war: »Meine Herren! Offiziere des Regiments 96! Sie wissen alle, wohin es morgen geht. Ein Soldat redet nicht über das, was ihm befohlen ist. Ein Soldat, ein Offizier, tut seine Pflicht. Und, meine Herren, ich weiß, daß auch die von ihnen, die nicht Offiziere von Beruf sind, diese Pflicht erfüllen werden. Der Feind, meine Herren, macht die letzten Anstrengungen. Es wird ihm nichts helfen. Und wenn der Sieg unser ist, erwarte ich, meine Herren, daß ich für mein Regiment stolz und ehrlich sagen kann: wir, Sie alle haben dazu beigetragen. Wollen wir uns nichts vormachen: Wir haben in den letzten Monaten mehr bluten müssen als sonst ein Feldartillerieregiment. Meine Herren, vor den Lorettohöhen liegen 13 Offiziere und über 500 Unteroffiziere und Mannschaften. Daran, meine Herren, wollen wir denken. Wir wollen auch sterben, aber wir wollen siegen. – Ich danke Ihnen, meine Herren – gute Nacht.«
Großes Hauptquartier
2. Juli 1916
Westlicher Kriegsschauplatz
In einer Breite von etwa 40 Kilometern begann gestern der seit vielen Monaten mit unbeschränkten Mitteln vorbereitete große englisch-französische Massenangriff nach siebentägiger stärkster Artillerie- und Gasvorwirkung auf beiden Seiten der Somme sowie des Ancre-Baches. Von Gommecourt bis in die Gegend von La Boiselle errang der Feind keine nennenswerten Vorteile, erlitt aber sehr schwere Verluste. Dagegen gelang es ihm, in die vordersten Linien der beiden an die Somme stoßenden Divisionsabschnitte an einzelnen Stellen einzudringen, so daß vorgezogen wurde, diese Divisionen aus den völlig zerschossenen vordersten Gräben in die zwischen erster und zweiter Stellung liegende Riegelstellung zurückzunehmen. Das in der vordersten Linie fest eingebaute, übrigens unbrauchbar gemachte Material ging hierbei, wie stets in solchem Falle, verloren . . . . Der gegnerische Flugdienst entwickelte große Tätigkeit.
Nach einem Marsch, der mit einer vierstündigen Ruhepause 26 ½ Stunden dauerte, stand die 1. Batterie 96 an einem regnerischen Morgen zwischen den rauchenden Trümmern einiger Dorfreste.
Das Kommando hatte Leutnant Stiller. Siebert und Rossdorf waren zurückgeblieben, um in der Division Näheres über den endgültigen Einsatz zu erfahren.
Die Mannschaften waren nach dem langen Marsch so müde, daß sie sich hinter die Geschütze in den Regen legten, Zeltbahnen über sich zogen, schliefen.
Die Pferde blieben angespannt. Man hatte ihnen Futtersäcke umgehängt; sie kauten erschöpft das trockene Laubheu.
Das Dorf war verlassen. Kein Mensch, nicht Zivil, nicht Militär. Es gab kein Haus, das man noch als Wohnung hätte benutzen können. Kein Dach, keine Mauer. Überall nur Stümpfe, die in den Regen starrten. Grau, zerfetzt, zermahlen. Die Dorfstraße war so durchwühlt, daß man die Geschütze nur bewegen konnte, wenn alle Kanoniere in die Speichen griffen und wenn man die Pferde schlug.
Lag der Ort noch unter feindlichem Feuer?
Weit konnte die Front nicht sein. Man hörte das ungeheure Getöse der Artilleriekampfes. Als gegen Mittag die Batterie aus dem Erschöpfungsschlaf erwachte, trotz der Wärme frierend, weil der Regen alle bis auf die Haut durchnäßt hatte, kam ihnen automatisch der Gedanke: Ist das Feuer da vorn nahe oder weit? Und als zweites: Ob es nah oder weit ist, kann uns schließlich gleichgültig sein: wir müssen ja doch hinein!
Sie schüttelten sich, froren stärker. Aber dann, Gottseidank, sehr einmütig, wurde alle Besorgnis verschoben durch ein anderes, wichtigeres Denken: Hunger.
Sie schlichen immer wieder, einer nach dem anderen, zur dampfenden Goulaschkanone. Was gibt es? – Was soll es schon geben – Dörrgemüse und Klippfisch.
Ausgerechnet! Aber wichtig ist, daß es heiß ist.
Man aß. Die Mannschaften wieder um ihre Geschütze gruppiert, bei ihnen die Unteroffiziere. Man hatte die Zeltbahnen jetzt zwischen den Bäumen aufgespannt. Es war ganz gemütlich.
Reisiger stand bei Hollert. Leutnant Stiller, fremd und unsicher, hockte allein neben seinem Burschen; er sah stumpfsinnig vor sich hin.
Schließlich wollte er demonstrieren, daß er immerhin auch noch da ist. Er gab den Befehl, die Munitionswagen, die bis jetzt dicht neben den Geschützen standen, ein paar hundert Meter vorzuziehen. Er sah dabei zum Himmel, der grau und regnerisch war: »Wenn auch keine Flieger kommen – weiß man denn, ob der Feind nicht bis hierher schießt.«
Kommando und Sorge für die Munitionswagen hatte Hollert. Er stieg aufs Pferd, ritt zwischen den Trümmern entlang, fand schließlich ein paar hundert Meter weiter, feindwärts, außerhalb des Ortes, einen eingeschossenen Ziegelofen. Dorthin führte er die vier Munitionswagen, Feldküche und einen zweirädrigen Karren, auf dem das Offiziersgepäck lag.
Die Munitionswagen standen bereits. Als die Feldküche auf halbem Weg war, ließ der Verpflegungsunteroffizier sie halten: »Herr Leutnant, der Tee ist fertig, können wir den nicht gleich noch ausgeben?«
»Ja! Geschützweise!« Die Bedienung des linken Flügelgeschützes eilte mit Feldflaschen und Kochgeschirren durch den aufgeweichten Lehmboden auf die Feldküche los.
Der nächste Augenblick: Ein kurzer, belangloser Knall, Sekunden später ein scharfes Schütteln in der Luft, Sekunden später an der Stelle, wo die Feldküche mit den Kanonieren stand, eine schwarze Rauchwolke, die jäh über die Baumkronen schoß. Hatte man auch nur einen Schrei gehört?
Die Kanoniere an den Geschützen zogen die Köpfe ein, preßten sich auf die Erde. Reisiger wollte irgend etwas sagen, stürzte vorwärts, prallte fast mit Leutnant Stiller zusammen.
Die Rauchwolke hatte sich verzogen. Man sah: die Feldküche, zusammengedrückt, ein Rad meterweit seitwärts geschleudert, bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt sieben Soldaten, den Verpflegungsunteroffizier, die beiden Pferde der Feldküche, die beiden Pferde des Offiziergepäckwagens.
Fahrer und Kanoniere rannten gehetzt durcheinander.
Fassungslos Leutnant Stiller. »Wie ist das nur möglich?« Hilflos.
Aber dann schrie er plötzlich mit überschnappender Stimme: »Steht doch hier nicht herum und gafft«, und zu Reisiger gewendet: »Reisiger, wir müssen selbstverständlich sofort einen anderen Platz finden.« – »Zu Befehl, Herr Leutnant. – Wenn ich vorschlagen darf, wohl am besten mitten auf dem freien Feld. Denn daß der Feind uns gesehen hat, ist ja unwahrscheinlich. Wenn er also weiterschießt, meint er bestimmt das Dorf.«
»Batterie aufgesessen!« Unter Führung von Stiller feindwärts Galopp querfeldein. Die Geschütze wurden weit auseinandergezogen. In unregelmäßigen Abständen hielten sie auf einem Kornfeld. Es war Roggen gesät. Die Halme waren sehr hoch; sie boten zur Not sogar Schutz gegen Fliegersicht. Außerdem konnten die Pferde endlich einmal wieder fressen soviel sie wollten.
Am rechten Flügel der Batterie, genau so verteilt, hielt die Munitionskolonne.
Der Leutnant stand mit den Wachtmeistern abseits.
Die Kanoniere hatten nur einen Gedanken: Verflucht nochmal, jetzt haben wir keine Feldküche mehr.
Stiller: »Wachtmeister, was machen wir mit den Toten?«
Die Toten zu begraben, war schwer. Man konnte ja nicht einmal feststellen, wer da lag, unkenntlich! Hollert ging an Hand seiner Batterieliste erst von Geschütz zu Geschütz, und endlich hatte er so weit Ordnung, daß er hinter einige Namen ein Kreuz machen konnte. – Die Angehörigen werden wir erst in den nächsten Tagen benachrichtigen, dachte er. Hat ja keine Eile mehr.
Dann ließ er durch einige Fahrer alles in den Sprengtrichter schieben und Erde darauf schütten.
Gegen Abend kamen der Hauptmann und Rossdorf. »Die Batterie bleibt unter allen Umständen angespannt. Abmarschbefehl kann jede Stunde kommen.«
Mit der Nacht wird das Leben wach. Es hat aufgehört zu regnen. Der Samt des Himmels hängt unwahrscheinlich tief, wieder mit Sternen besät. Das Gewölbe des Himmels ist in zwei Teile geteilt. Hell. Und Dunkel. Wo die beiden Teile zusammenstoßen, da etwa liegt, wartend, 1/96.
Die Nasen der Pferde, die Blicke der Kanoniere gehen feindwärts über den westlichen Teil des Gewölbes. Vom Zenit aus hat er seinen Samt verloren, ist erst leicht weißlich abgetönt, bekommt dann gelblichere Schattierung, fällt ins Rote, tiefer ins Blutrote, endlich in Flammen. Da ist die Front. Da liegt, eine einzige unaufhörliche, nie abgeschwächte, unaufhaltsam gleichmäßige donnernde Wolke. Ohne Details. Ohne Crescendo. Ohne Steigerung und Gefälle. Zuweilen freilich will ein machtvoller Ton ausbrechen, sich selbst behaupten, geschwollen von seiner überragenden Stärke. Aber die Woge duldet so etwas nicht. Hier gibt es kein einzelnes Aufbrüllen. Hier gilt kein einzelner Schuß. Hier arbeitet kein Kolben einer Maschine gesondert! Der Horizont feindwärts ist eine einzige rollende Feuerwalze.
Und der andere Teil des Himmelsgewölbes? – Samt noch über den Wartenden, blaugrau mit Sternen sparsam durchsetzt, dann schnell abfallend in ein tiefes Schwarz. Zackig dazwischen gestellt die Silhouette des zerschundenen und skelettierten Dorfes.
Ununterbrochen hinter der Batterie Stimmen, müde Füße, Poltern von Wagen, Pferdehufe, die mühsam durch Lehm gleiten. Verstärkungen.
Kann man da schlafen?
Die meisten sind wach, sehen umher, reden zuweilen.
Für den Hauptmann und für Rossdorf ist ein Zelt gebaut. Von dorther hört man nichts. – Hinter dem 3. Geschütz ist eine Zeltbahn über das Rohr gelegt, rechts und links am Boden angepflockt. Darin liegen die Wachtmeister Hollert und Reisiger.
Hollert schläft. Reisiger hat die Augen geschlossen. Aber jedesmal, wenn er dicht vorm Einschlafen ist, schrickt er wieder hoch. Einmal steht sein Pferd mit den Vorderbeinen in der Zeltbahn, ein andermal spürt er plötzlich das weiche Maul des Tieres an seiner Schulter. Wenig später hört er irgendwo einen Schrei.
Es wird schon hell am Himmel. Er kommt immer noch nicht zur Ruhe. Dann hört er, wie jemand leise nach ihm ruft. Er springt auf, sieht aus der Zeltöffnung heraus. Dort steht Leutnant Stiller. Reisiger knöpft sich den Rockkragen zu, setzt seine Mütze auf und kriecht leise ins Freie.
Der Leutnant raucht eine Zigarette. »Reisiger, tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe. Es ist mir unmöglich zu schlafen.« Entschuldigend setzt er hinzu: »Es ist eine unerträgliche Hitze bei uns im Zelt. – Stehen Sie doch bequem. – Oder kommen Sie, wir gehen ein wenig auf und ab –«
Reisiger sieht dem Leutnant zum erstenmal ins Gesicht. Jünger als ich, denkt er. Sehr jung. Macht nicht den Eindruck, als ob er aktiver Offizier ist.
»Sie sind auch Student, Reisiger.«
»Befehl! – Herr Leutnant auch?«
Sie gehen langsam an der schlafenden Batterie entlang. Es stehen nur einige Posten, die Pfeife im Mund, übernächtigt, frierend.
Es stellt sich heraus, daß der Leutnant nur wenig jünger ist als Reisiger. Sie haben gleichzeitig die Mobilmachung in München erlebt.
»Schade, daß wir uns nicht kennengelernt haben. So groß ist doch München eigentlich nicht. – Wir haben sicher oft im selben Hörsaal gesessen. – Bei Kutscher, nicht wahr?«
Auf Sekunden poltern einige Gedanken bei Reisiger durcheinander. Ein Unsinn! Trommelfeuer – das nennt man jetzt Trommelfeuer – und hier redet man vom Frieden. Und es ist Ende Juni. Und vor zwei Jahren –: »Dann waren Herr Leutnant vielleicht sogar auf dem Ausflug mit, damals nach Salzburg?«
Stiller packt Reisiger an der Hand: »Aber selbstverständlich, Menschenskind. Das ist ja geradezu lächerlich. Das Freilichttheater damals? Und nachher – das war schön.«
Der Leutnant Stiller und der Vizewachtmeister Reisiger laufen hinter der Batterie hin und her und reden vom Frieden, als wenn der Student Stiller mit seinem Kommilitonen Reisiger die Erlebnisse der letzten Tage vor Schluß eines Semesters tauschten.
Aber schließlich winkt Stiller ab, halb lachend, halb ernst, beinahe dienstlich: »Inter arma tacent musae«.
Reisiger greift in seine Brusttasche und reißt eine Postkarte heraus: »Zufällig schreibt mir mein Geschichtslehrer, mein ehemaliger, eine Postkarte. Aber er sagt nicht ‚tacent‘, sondern er sagt ‚taceant.‘«
Beide lachen. – »Es ist schon ein beschissenes Dasein«, sagt Stiller und sieht nach der Uhr. »Fünf. Da muß ich den Hauptmann wecken.«
Die Batterie hat Kochlöcher ausgehoben und geschützweise Tee gekocht. Alles sitzt auf der Erde herum. Irgend jemand kommt auf den Gedanken, an dem Brunnen, den man in den Trümmern des Dorfes vorhin entdeckt hat, auch noch eine morgendliche Wäsche zu veranstalten. Der Hauptmann ist einverstanden. Ein Teil der Mannschaften geht also in den Ort.
Plötzlich erscheint ein Meldereiter. »Batterieführer Erste Batterie?« Es ist ein junger Leutnant, Ordonnanzoffizier des Regiments. Siebert liest die Meldung, die ihm überbracht wird, zeigt sie Rossdorf. »Herr Oberleutnant, Sie führen die Batterie nach. Ich reite vor, gleich durch bis in die Stellung. Sie folgen, bis Wachtmeister Reisiger Sie holt.«
Die Batterie setzt sich im Schritt in Marsch. Im Trab reiten nach vorn: Hauptmann Siebert, Reisiger und der Telephonunteroffizier Kern. Der Abstand zwischen Batterie und diesem Trupp ist bald so groß, daß sie einander nicht mehr sehen können.
Siebert reitet mit seinen Begleitern querfeldein. Eine Karte ist nicht notwendig. Einstweilen wenigstens. Es gibt keinen besseren Wegweiser als das Trommeln an der Front. Auch keinen Irrtum. Der Weg muß der richtige sein: das Trommeln wird immer stärker. Das eintönige Geräusch zerlegt sich immer mehr in einzelne Schüsse. In unzählige einzelne Schüsse, die unaufhörlich nacheinander abrollen. – Die Trümmer eines Dorfes liegen unter schwerem Artilleriefeuer. Umgeben kann man sie nicht. Durch! Die drei Reiter setzen die Sporen ein, der Hauptmann vorweg, die beiden anderen hinterher. Brust und Kopf liegen auf dem Hals des Pferdes.
Zwischen den Trümmern ist reges Leben. Wie der Schlag der Hufe an die Steine trifft, gehen rechts und links der verwüsteten Straße viele neugierige Köpfe in die Höhe: Infanterie, wartende Infanterie.
Nach dem Dorf eine Allee, recht gut erhalten. Sehr hohe Pappeln zu beiden Seiten. Nur selten ist ein Stamm zerfasert, liegen Äste über die Straße. Trab, zuweilen Galopp, wenn die Fontänen feindlicher Granaten allzu dicht aus der Erde schlagen.
Die Pferde werden schneller, den Hals gestreckt, die Nüstern aufgerissen, tiefe rote Gruben. Vorweg der Hauptmann, dem das Fernglas zuweilen um die Ohren schlägt, hinterher Reisiger, danach Kern. – Die Allee macht einen scharfen Knick. Im Winkel liegt trotz starkem Artilleriefeuer, das von Zeit zu Zeit einschlägt und fast mit jedem Schuß einige Tote bringt, abermals wartende Infanterie. Neugierig und schadenfroh sieht man auf die Reiter, die gestreckten Galopps um die Ecke preschen.
Weiter! Linker Hand eine Anhöhe.
Siebert: »Hier herauf, höchstens ein Kilometer, das wird die Stellung sein!«
Man versteht nicht ganz, was er sagt, aber man kann es deuten. Reisiger fällt auf, daß der Hauptmann schneeweiß im Gesicht ist, mit schneeweißen Lippen.
Man läßt die Zügel locker: Die Pferde machen einige Sätze; dann steht man auf einem unbegrenzten flachen Terrain.
Ein furchtbarer Anblick!
Es gibt kaum einen Quadratmeter auf diesem unübersehbaren Terrain, der nicht durchwühlt und zerbissen ist von feindlichen Geschossen. Trommelfeuer!
Der Hauptmann macht mit dem gehobenen linken Arm eine Bewegung. Sie will besagen, welche Richtung man einschlagen muß. Reisiger stockt einen Augenblick. Schon trennt ihn, wenige Meter vor dem Kopf seines Pferdes hochfauchend, ein schwarzer Vesuv vom Hauptmann, und von Kern, der an ihm vorbeiprallt.
Die Sporen im Leib des Pferdes, um Gottes willen, sie nicht mehr herausnehmen, nichts weiter als vorwärts! Besser ein Ende mit Schrecken, als dieser Schrecken ohne Ende!
Galopp, Galopp! Unübersehbar dieses Feld mit den flammenden schwarzen Sträuchern, die Meter an Meter emporwachsen. Dem Hauptmann folgen! Er ist 50 Meter vorweg. Aha, da vorn steht eine Weide. Rechts davon ist eine kleine Bodenerhebung. Das ist sicher die Stellung. Nanu, das Pferd lahmt ja. Ja, lieber Heubauch, das hilft ja nichts. Der Hauptmann reitet ja, als ob ers bezahlt kriegt. Wenn wir lebend nach vorn kommen, freß ich einen Besen. Donnerwetter, wenn der Gaul jetzt nicht beiseite gesprungen wäre! Tiere haben doch Instinkt. – Das nennt man also Trommelfeuer.
Alle Gedanken werden in ein Nichts zerblasen durch einen Krach und einen Stoß, die Reisiger vor die Brust schlagen. Er verschwindet in einer stinkenden weißen Wolke, merkt im selben Augenblick, daß ein Ruck durch das Pferd geht. Er haut mit dem Kopf nach vorn, die Stirn beinahe an den Stiefelspitzen. Ihm wird einen Augenblick schwarz vor den Augen, er spürt eine entsetzliche Last auf sich, schlägt mit den Armen hoch. Das Pferd wälzt sich auf ihm, über seine Schenkel. Er will sich herausreißen. Ein neuer Schuß saust ihm am Kopf vorbei, so daß er sich dicht an das wälzende Pferd heranschiebt. Er versucht abermals, mit den Beinen sich zu befreien, kommt unter den Hals des Tieres, springt auf, kniet nieder. Das Pferd schlägt mit dem Kopf. Eine Lunge hängt ihm aus der Brust, keuchend aufgepustet. Reisiger wird klar, daß das Pferd getroffen ist. Im Knien sieht er nach vorn. Aha, das ist der Hauptmann richtig an der Weide, bereits abgesessen auch der Unteroffizier, die beiden Gäule am Zügel.
Sein Pferd liegt auf dem Rücken, den Hals unnatürlich weit nach oben geschoben, das Zahnfleisch hochgerissen, große gelbe Zähne entblößt, mit einem Blutstrahl aus der Brust und aus den Winkeln des Mauls. »Armer Heubauch!«
Am liebsten möchte Reisiger sich zu seinem Pferd legen. Er hat ein intensives Bedürfnis, nichts weiter zu tun, als zu weinen. Aber wie er merkt, daß ihm Tränen über die Backen laufen, reißt er sich hoch, nimmt die Pistole, setzt sie hinter das Ohr des Tieres. Drückt ab. Sieht noch, daß das Pferd friedlich auf die Seite fällt. Rennt nach vorn.
Den Weg, zu dem man im Frieden zwei Minuten benötigt, legt er in einer halben Stunde zurück. Endlich erscheint er, die linke Seite seiner Uniform vom Blut seines Pferdes durchtränkt, Gesicht und Hände verdreckt, beim Hauptmann.
Mein Gott, ist das eine Stellung! Wie soll man hier eine Batterie auffahren lassen, wie soll sie zum Schuß kommen!
Aber es gibt nichts zu bedenken.
»Nehmen Sie unsere Pferde«, schreit Siebert, »lassen Sie sie meinetwegen laufen, aber holen Sie die Batterie!«
Lieber Gott, wie soll man jetzt auf ein Pferd steigen!
Die beiden Tiere stehen, dicht aneinandergepreßt, Kopf zwischen den Beinen, an einer Weide, versuchen, sich zu decken. Reisiger erhebt sich, fällt hin, richtet sich in die Knie: »Befehl, Herr Hauptmann, Batterie geht sofort hier in Stellung.«
Er kriecht an die Pferde heran. Dann gibt er sich einen Ruck, steht kerzengerade, steigt auf Sieberts Gaul, nimmt den anderen an die Trense, galoppiert ab.
Derselbe Weg. Das gleiche Feuer. Hier kann nur noch eins helfen: dem Pferd nicht befehlen, sondern ihm vertrauen. Die Zügel locker lassen. Das Tier weiß ja mehr als der Mensch.
Also nur eine Hand am Halfter, Kandare los, mit der andern Hand am Sattelknopf festgeklammert, ab im Galopp!
Da liegt der arme Heubauch. Da liegt ein Infanterist ohne Beine. Das Pferd springt zur Seite, das zweite scheut und will stehen bleiben. Endlich galoppieren beide weiter.
Da liegt wieder ein Infanterist. Da liegt eine Gruppe, sieben Mann. Da liegt ein Pionieroffizier. Man sieht an den Achselstücken die Regimentsnummer. Da liegt ein Infanterist. Da liegt ein Geschütz inklusive Mannschaft, inklusive Pferden, inklusive einem Leutnant. Galopp, Galopp, Galopp! Ohne zu bedenken! Auf jeden Quadratmeter einen Schuß? Das vielleicht nicht. Aber vielleicht auf manchen Quadratmeter in gleicher Zeit zehn Schuß. Und man muß eben sehen, wie man da hindurchwischt. Jetzt kommt die Anhöhe mit dem Hohlweg. Hineingesprungen.
Jetzt kommt der Weg, die Allee mit den Pappeln.
Da, die Infanterie.
Jetzt der Knick.
Weiter die Allee, Galopp, immer das zweite Pferd hinter sich, neben sich, vor sich – ein ausgezeichneter Regulator für die Nähe des Einschlags.
Immer noch die Allee.
Jetzt geht es bergab.
Das freie Feld: Dort kommt die Batterie.
An Oberleutnant Rossdorf im Galopp, nein: im Trab, nein: im Schritt von links herangeritten: »Zur Stelle«.
Hauptmann Siebert hockt mit Unteroffizier Kern hinter dem kleinen Abhang rechts von der Weide. Kern hat seinen Feldspaten abgeschnallt und wühlt ein Loch. Die Grasnarbe ist zäh, läßt sich schwer losreißen; aber der Boden ist Gottseidank nicht kalkig, sondern fetter Lehm, aus dem der scharfe Spaten eine Scheibe nach der anderen herausschneidet.
Siebert kann das nicht mit ansehen: das Feuer, das sie von allen Seiten umhüpft, drängt ihn nach Beschäftigung. Er reißt Kern den Spaten aus der Hand und buddelt selber weiter.
Das Loch ist nach halbstündiger Arbeit so tief, daß zwei Menschen, eng aneinander gepreßt, darin knien können.
Die beiden knien wie in einem Gebetstuhl. Den Bauch gegen die Vorderwand geschoben, die Ellbogen an den Körper gerissen, den Kopf tief eingesenkt. So tief, daß ein Schuß, auch ein Schrapnell, über sie hinwegfahren muß.
Sich in dieser Situation bewegen ist schwer. Sie sitzen stier und stumm. Seitlich der Deckung liegt das Scherenfernrohr, noch im Lederfutteral. Wer soll es holen?
Sie fühlen sich dem Erdboden einverleibt, fühlen sich wie festgewachsen. Aber es hilft nichts. Siebert versucht das Futteral zu angeln. Er kriecht schließlich und zerrt es heran.
Das Fernrohr wird zwischen ihnen aufgestellt. Die Gläser zentimeterhoch über dem Rand des Walles.
Siebert blickt hindurch. Er murmelt irgend etwas, nimmt die Augen wieder weg, sagt: »Es ist vollkommen unsinnig, man sieht nichts. Nur Feuer und Rauch. Da wird sowieso keiner mehr leben. Ich verstehe nicht, wer um Gottes willen befohlen hat, hier am hellerlichten Tag aufzufahren.«
»Fraglich ist wohl auch, Herr Hauptmann, ob überhaupt ein Geschütz nach vorn kommt.«
Siebert lacht: »Das heißt also, wir beide sollen dann die ganze Batterie ersetzen . . .«
Kern sieht sich um: »Es ist schon gleich. Wir kommen nicht mehr nach vorwärts und nach rückwärts –«
Siebert versucht abermals einen Blick durch das Scherenfernrohr: »Wenn man wenigstens wüßte, wie weit vor uns unsere Infanterie liegt. Wir können sonst nicht schießen. Wir richten nur Unheil im eigenen Graben an.«
Er hebt sich dabei etwas aus den Knien und sieht über den Rand der Böschung. Da hat er das Gefühl, daß das Feuer im Vorgelände ein wenig nachläßt. Die Mehrzahl der Schüsse liegt jetzt gute hundert bis hundertfünfzig Meter vor ihnen. – Schlimmer ist es rückwärts: alle Sicht bleibt durch eine dicke weiße von schwarzen Streifen durchzogene Wolke gesperrt. Unheimlicher Anblick: die Sonne platzt gerade durch die Wand, zerschneidet das Weiß und macht das Schwarz noch schwärzer.
Sie drehen sich aus der Deckung, bestaunen die drohenden Schwaden. Und dann schlägt eine ungeheure Erschütterung gegen ihr Blut . . . Die Wand reißt plötzlich an vier Stellen breit auseinander, klafft aufdampfend.
Siebert springt auf, geht wieder in die Knie: »Donnerwetter, da kommt unsere Batterie!«
Ein elementares Pferderennen ist gestartet. Die Arena öffnet sich, römisches Kampfspiel, modernisiert, Typ 1916: vorstoßen auf das befohlene Ziel mit Wucht, die ausschließlich der Tod brechen kann.
Die Wand klafft auf, schließt sich, die Tücher der Vorhänge sind wieder herabgelassen. Die Kampfwagen stehen in der Arena. Das Zeichen zum Beginn der Wettfahrt scheint gegeben.
In der ganzen Arena an Zuschauern nur zwei Menschen: Ein Hauptmann Siebert, ein Unteroffizier Kern. Die Augen hin- und hergerissen von einem Gespann zum nächsten. Die Körper vorgebeugt. Die Arme gestikulierend. Die Gedanken zusammenschießend: Wer macht das Rennen? Wer siegt? Wer bleibt am Platze?
Erster Blick: Pferde. Auf vier Bahnen der Arena werden schwarze und braune Flecken hochgeschleudert, pressen sich zur Erde, rücken ab von der Bahn, lenken ein, prallen aufeinander, lösen sich, fliegen wieder voreinander her.
Vier Gespanne auf gleicher Höhe.
Rechts und links von ihnen steigen gewaltige Ehrenpforten gegen den Himmel, immer wieder, schwarze Säulen, flammende Kandelaber. Durch solche Tore jagen die Gespanne nach vorn.
Die beiden Zuschauer sagen kein Wort.
Die schwarzen und braunen Punkte kommen näher, näher, näher. Jetzt hinter ihnen die vier Kampfwagen. Vier Geschütze des Preußischen Feldartillerieregiments 96. Die Protzen hart hinter den Pferden; geschleudert, taumelnd und unsicher die vier Lafetten.
Und deutlicher, nun, die Führer. Rechts oder links heraus, mit dem Körper festgeklebt an Pferdehals und Pferderücken.
Die beiden Zuschauer lehnen sich einen Augenblick rückwärts gegen ihre Loge. Der eine sagt zum andern: »Unteroffizier, es ist nicht zu glauben.« Der andere antwortet nicht. Er denkt gerade: Daß da Menschen mitfahren . . .
Dann beide daß da Menschen mitfahren! Unsere Leute.
Siebert sucht Rossdorf. Aha, er ist da vorn, vor allen. Und, ja, zwischen dem dritten und vierten Geschütz der Leutnant Stiller und Wachtmeister Reisiger.
Dann packt seine Hand plötzlich fest auf Kerns Knie. Mit unnatürlich hoher Stimme schreit er: »Aus!« Kern sieht zwischen den Vorderpferden des linken Flügelgeschützes eine schwarze Wolke hochschlagen. Auf einen Schlag kippen die Tiere übereinander. Die beiden nächsten klatschen darauf. Die beiden Stangenpferde dahinter wollen ausweichen; zu spät, auch sie stürzen über dem schwarzen Klumpen zusammen.
Die Kanoniere springen vom Geschütz.
Man sieht, wie sie die Seitengewehre ziehen und in den Tauen der Geschirre herumschlagen. Man sieht den Geschützführer, abgesessen. Er wühlt sich in die Masse der Pferde ein und zerrt Menschen heraus, die Fahrer. Den ersten legt er zur Seite. Nach einer Weile auch den zweiten. Sie bleiben beide unbeweglich liegen.
Da springen die Stangenpferde hoch. Mit ihnen, noch im Sattel, der dritte Fahrer. Und zweispännig ist das Geschütz wieder im Galopp.
Siebert und Kern stehen inzwischen aufrecht: Das Rennen ist beendet. Drei Geschütze sind da! Kurz vor der Stellung fallen sie in Trab und wenden. Noch im Fahren springen die Kanoniere zwischen Protze und Lafette. Lafetten abgehängt! Aus den Protzkästen die Munition gerissen! Das vierte Gespann ist heran! Nach Sekunden stehen die Geschütze ordnungsgemäß hinter der Anhöhe in Stellung.
Zurück die Protzen! Befehl: Am Knick der Anmarschchaussee in Ruhe gehen! Am Abend muß unbedingt Munition und Verpflegung in die Stellung!